Zusammenfassung
Identifizierung und Bearbeitung gesellschaftlicher Gegensätze – eine Daueraufgabe soziologischer Forschung. Als Kritiker der herkömmlichen, von Generation zu Generation überlieferten Sichtweise selbstvergessener, weltfremder und anachronistischer Gelehrter, die er als „scholastisch“ zu bezeichnen pflegte, nach der die gesellschaftliche Wirklichkeit weitgehend durch schroffe Gegensätze bestimmt ist, hat Bourdieu sich stets um die Erhellung jener Dimensionen bemüht, die sich nur dem/derjenigen erschließen, der/die deren angeblich einander ausschließende Extreme als aufeinander beziehbare, sich gegenseitig ergänzende Ausprägungen kontinuierlicher Variablen begreift. Hierzu sei nochmals an das Zitat erinnert, dass ich diesem Band als Motto vorangestellt habe. Dass Bourdieu weder alle wichtigen derartigen ‚Dichotomien‘ überhaupt bearbeitet noch für alle bearbeiteten Dimensionen überzeugende Lösungen vorgelegt hat, ist weniger der objektiven Widersprüchlichkeit wesentlicher Aspekte der Wirklichkeit selber zuzuschreiben oder/und dem subjektivem Unvermögen Bourdieus anzulasten als durch die Vielzahl gängiger Gegensatzpaare bedingt, die den philosophischen und sozialwissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit durchsetzten, ja bestimmten: Deren relativ vollständiger systematischer Bearbeitung war auch er nicht gewachsen. Folglich hätten andere Sozialwissenschaftler dort fortzufahren, wo er innehalten musste, weitere solcher Barrieren durch den Nachweis ihrer Nichtigkeit aus dem Wege zu räumen (vgl. „Rede und Antwort“, 50-55) und – soweit möglich – die Fruchtbarkeit einer Verbindung der angeblich kontradiktorischen Extremvarianten zu demonstrieren. Würden die Forschenden dabei unterschiedliche Richtungen einschlagen, so entspräche auch das insofern Bourdieus Konzeption, als er die soziologische Erkenntnis nicht nur für vorläufig noch unabgeschlossen hielt, sondern als prinzipiell unabschließbar betrachtete. Das musste er einmal schon deshalb, weil er die gesellschaftliche Wirklichkeit auch immer wieder in einem Wandel begriffen sah, den es empirisch zu erfassen galt, um ihn praktisch beeinflussen zu können.
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© 2010 VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
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Lempert, W. (2010). Pragmatische Konsequenzen und Reflexionen: aktuelle Desiderate moralisch motivierter und politisch engagierter Sozialwissenschaft und soziologisch informierter Gesellschaftspolitik. In: Soziologische Aufklärung als moralische Passion: Pierre Bourdieu. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92478-6_6
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-92478-6_6
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-17383-2
Online ISBN: 978-3-531-92478-6
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