Zusammenfassung
Vorweg: Ich äußere mich hier als ‚Opfer‘ einer aufregenden, für mich bis heute hinreißenden Lektüre: des Studiums der Werke des Soziologen Pierre Bourdieu (1930–2002). Sie zeigen sich ihren Lesern und Leserinnen zwar nur selten sogleich von ihrer attraktivsten Seite, sondern stellen sich anfangs oft eher als befremdlich bis abstoßend, zumindest als sehr anspruchsvolle Herausforderungen dar, faszinieren dann aber bald als Zeugnisse der erstaunlichen Lebensleistung eines Forschers, der nicht nur über außergewöhnliche intellektuelle Kompetenzen verfügte, sondern diese zudem unablässig zur Erhellung und Enthüllung, Demaskierung und Demontage latenter Formen massiver sozialer Unterdrückung und Benachteiligung, Entrechtung und Entwürdigung verwandte. Auch hat er, der in einer atemberaubenden Karriere vom Kind ‚kleiner Leute‘ aus der Peripherie seines Landes zu dessen Zentrum und Zenit aufgestiegen war, sich lange Zeit mehr als distanzierter Beobachter, kühler Analytiker und scharfsinniger Kritiker präsentiert, erst verhältnismäßig spät als warmherziger Menschenfreund zu erkennen gegeben und als engagierter Anwalt der Armen, Ausgeschlossenen und Verachteten hervorgetan, ja, als leidenschaftlicher Ankläger ihrer Ausbeutung und Diskriminierung, Erniedrigung und Beleidigung exponiert und den Zorn des Establishments zugezogen. Überdies hat er zeitlebens – was auch in dem eingangs dieses Buches abgedruckten Interviewausschnitt anklingt – alles „moralische Geschwätz“, jede Zuschreibung „humanistischer“ Ambitionen schroff zurückgewiesen, sich solche Attributionen geradezu verbeten. De facto betrieb er seine Wissenschaft jedoch stets so, als ob er sich moralischen Maximen verpflichtet fühlte. Auch das ist der zitierten Äußerung insofern zu entnehmen, als er darin sein Bemühen um Distanz zu den untersuchten Subjekten als (s-)„eine Art“ darstellt, „die Würde der Leute zu respektieren“. So verstanden, deuten Bourdieus Schriften gerade auch dort fast durchgängig auf moralische Relevanzen, wo ihr Autor den Gebrauch einer moralischen Sprache explizit ablehnte und konsequent vermied.
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© 2010 VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
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Lempert, W. (2010). Einleitung: Anstöße und Absichten, Akzente und Adressaten, Aufbau und Anspruch der Argumentation. In: Soziologische Aufklärung als moralische Passion: Pierre Bourdieu. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92478-6_1
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-92478-6_1
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-17383-2
Online ISBN: 978-3-531-92478-6
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