Zusammenfassung
Es gibt – soviel lässt sich aller erkenntnistheoretisch informierten Skepsis zum Trotz mit Gewissheit sagen – nicht den Konstruktivismus, sondern nur Varianten des Konstruktivismus, die bei aller Unterschiedlichkeit dann aber doch noch als solche erkennbar sind. Daher muss eine Einführung in das konstruktivistische Denken und eine Auseinandersetzung mit konstruktivistischen Begründungen der Medienethik notwendig aus einer doppelten Perspektive geschehen, gilt es doch einerseits Gemeinsamkeitenherauszuarbeiten, andererseits aber Unterschiede deutlich werden zu lassen. Die erste, die zentrale Gemeinsamkeit: Das konstruktivistische Kernproblem, nämlich die prozessual verstandene Entstehung von Wirklichkeit, zu beobachten und herauszuarbeiten, ist in groben Zügen identisch. Die Unterschiede werden deutlich, sobald man genauer betrachtet, wer mit welchen Begriffen und auf welcher disziplinären Grundlage dieses Kernproblem untersucht (vgl. einführend Pörksen 2002a und 2006). Hier zeigen sich die Differenzen. So haben philosophisch belesene Konstruktivisten eine Art Ahnengalerie erarbeitet, die sie bis zu den Skeptikern ins vorchristliche Jahrhundert zurückführt; schon zu diesem Zeitpunkt wird prinzipiell argumentiert, man könne doch als Wahrnehmender nicht hinter seine Wahrnehmungen zurück, könne nicht aus sich heraustreten, um das eigene Wahrnehmungsprodukt mit der noch von möglichen Verzerrungen unberührten Entität zu vergleichen. Ein Bild von einer menschenunabhängigen Realität ließe sich demnach gar nicht machen. Alles, was sich sagen lässt, sei von den eigenen Wahrnehmungs- und Begriffsfunktionen bestimmt; ein emphatisch verstandener Falsifikationstest müsse schon aus diesen Gründen scheitern. Die psychologische Begründung des Konstruktivismus geht auf den französischen Lerntheoretiker Jean Piaget, aber vor allem auf die Palo-Alto-Schule zurück, die sich um Therapeuten wie Don D. Jackson und Paul Watzlawick formiert hat und sich u. a. auf die Arbeiten des Anthropologen Gregory Bateson bezieht. Die Vertreter dieser therapeutisch ausgerichteten Schule teilen mit den konstruktivistischen Theoretikern ein gemeinsames Ziel: die Beobachtung der Konstruktion von Wirklichkeit. Ihr Kernanliegen besteht jedoch darin, dass sie nicht nur beobachten und analytisch rekonstruieren, sondern Leid erzeugende Kommunikationsmuster, Konflikt erzeugende Formen der Interaktion gezielt zu verändern trachten. Zahlreiche Konzepte der Kommunikationstheorie – selbstverständlich mit einem Schwerpunkt im Bereich der Individualkommunikation – resultieren aus den Arbeiten dieser konstruktivistisch und systemisch orientierten Psychologen. Zu nennen sind etwa die so genannten Axiome der Kommunikation, die Entdeckung zirkulärer Kommunikationsmuster, die systematische Orientierung an Deutungen (= Wirklichkeiten zweiter Ordnung im Sinne von Paul Watzlawick) und nicht an Wahrheiten.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Literatur
Arndt, Adolf (1966): Die Rolle der Massenmedien in der Demokratie. In: Löffler, Martin (Hrsg.): Die Rolle der Massenmedien in der Demokratie. München; Berlin, S. 1–21.
Baum, Achim/Scholl, Armin (2000): Wahrheit und Wirklichkeit. Was kann die Journalismusforschung zur journalistischen Ethik beitragen? In: Schicha, Christian/Brosda, Carsten (Hrsg.): Medienethik zwischen Theorie und Praxis. Normen für die Kommunikationsgesellschaft. Münster, S. 90–108.
Bentele, Günther (1993): Wie wirklich ist die Medienwirklichkeit? Einige Anmerkungen zum Konstruktivismus und Realismus in der Kommunikationswissenschaft. In: ders./Rühl, Manfred (Hrsg.): Theorien öffentlicher Kommunikation. Problemfelder, Positionen, Perspektiven. München, S. 152–171.
Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1997): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Unveränderter Abdruck der 5. Aufl. Frankfurt am Main.
Bolz, Norbert (2001): Weltkommunikation. München.
Boventer, Hermann (1992): Der Journalist in Platons Höhle. Zur Kritik des Konstruktivismus. In: Communicatio Socialis, 25. Jg., Heft 2, S. 157–167.
Foerster, Heinz von/Pörksen, Bernhard (1998): Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. Heidelberg.
Hungerige, Heiko/Sabbouh, Kariem (1995): Let’s Talk About Ethics. Ethik und Moral im konstruktivistischen Diskurs. In: Rusch, Gebhard/Schmidt, Siegfried J. (Hrsg.): Konstruktivismus und Ethik. DELFIN 1995. Frankfurt am Main, S. 123–173.
Kramaschki, Lutz (1995): Wie universalistisch kann die Moralphilosophie diskutieren? Hinweise aus radikalkonstruktivistischer Sicht. In: Rusch, Gebhard/Schmidt, Siegfried J. (Hrsg.): Konstruktivismus und Ethik. DELFIN 1995. Frankfurt am Main, S. 249–275.
Maturana, Humberto R. (1998): Biologie der Realität. Frankfurt am Main.
Maturana, Humberto R./Pörksen, Bernhard (2002): Vom Sein zum Tun. Die Ursprünge der Biologie des Erkennens. Heidelberg.
Merten, Klaus (1993): Kommentar zu Klaus Krippendorff. In: Bentele, Günther/Rühl, Manfred (Hrsg.): Theorien öffentlicher Kommunikation. Problemfelder, Positionen, Perspektiven. München, S. 52–55.
Mitterer, Josef (2001): Die Flucht aus der Beliebigkeit. Frankfurt am Main.
Pörksen, Bernhard (2002a): Die Gewissheit der Ungewissheit. Gespräche zum Konstruktivismus. Heidelberg.
Pörksen, Bernhard (2002b): „In einer Welt der Simulation wird das Reale zur Obsession.“ Im Gespräch mit Norbert Bolz. In: Communicatio Socialis, 35. Jg., Heft 4, S. 439–458.
Pörksen, Bernhard (2002c): „Wir selbst sind Konstrukte.“ Gerhard Roth über die Entstehung der Wirklichkeit im Gehirn, eine bewusstseinsunabhängige Realität und die Verbindung von Neurobiologie und Philosophie. In: Pörksen, Bernhard: Die Gewissheit der Ungewissheit. Gespräche zum Konstruktivismus. Heidelberg, S. 139–165.
Pörksen, Bernhard (2006): Die Beobachtung des Beobachters. Eine Erkenntnistheorie der Journalistik. Konstanz.
Saxer, Ulrich (1992): Thesen zur Kritik des Konstruktivismus. In: Communicatio Socialis, 25. Jg., Heft 2, S. 178–183.
Schmidt, Siegfried J. (1994): Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur. Frankfurt am Main.
Schmidt, Siegfried J. (2000): Kalte Faszination. Medien – Kultur – Wissenschaft in der Mediengesellschaft. Weilerswist.
Weber, Stefan (1999): Wie journalistische Wirklichkeiten entstehen. Salzburg.
Weber, Stefan (2000): Was steuert Journalismus? Ein System zwischen Selbstreferenz und Fremdsteuerung. Konstanz.
Weischenberg, Siegfried (1995): Journalistik. Theorie und Praxis aktueller Medienkommunikation. Band 2: Medientechnik, Medienfunktionen, Medienakteure. Opladen.
Weischenberg, Siegfried (1998): Journalistik. Theorie und Praxis aktueller Medienkommunikation. Band 1: Mediensysteme, Medienethik, Medieninstitutionen. 2., überarb. und aktual. Aufl. Opladen; Wiesbaden.
Winter, Wolfgang (1999): Theorie des Beobachters. Skizzen zur Architektonik eines Metatheoriesystems. Frankfurt am Main.
Editor information
Rights and permissions
Copyright information
© 2010 VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH
About this chapter
Cite this chapter
Pörksen, B. (2010). Konstruktivismus. In: Schicha, C., Brosda, C. (eds) Handbuch Medienethik. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-92248-5_4
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-92248-5_4
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-15822-8
Online ISBN: 978-3-531-92248-5
eBook Packages: Humanities, Social Science (German Language)