Auszug
Unser gegenwärtiges Weltsystem ist im Laufe eines langen historischen Prozesses entstanden. Dies war kein Prozess einer schrittweisen Entwicklung. Er ist vielmehr gekennzeichnet von mehreren relativ kurzen und plötzlichen Transformationen, gefolgt von längeren Abschnitten der Konsolidierung und hin und wieder sogar der teilweisen Wiederherstellung. In diesem Kapitel liegt das Augenmerk auf der Vorstellung des konzeptionellen Rahmens und dem allgemeinen geschichtlichen Zusammenhang. Dies wird uns in den folgenden Kapiteln helfen, die Wurzeln der heutigen Strukturen detaillierter zurückzuverfolgen. Dabei wird es ein Hauptanliegen sein, ein umfassendes Verständnis des Staates zu präsentieren. Wie bereits gezeigt wurde, betrachtet der Mainstream der Theorien der Internationalen Beziehungen den Staat als den Hauptakteur in der internationalen Politik, wobei interne Strukturen und Dynamiken als nicht besonders relevant angesehen werden. Demgegenüber stellen zwar auch Theorien nationaler politischer Systeme den Staat als den zentralen Akteur in den Mittelpunkt, sehen ihn aber auch als im Wesentlichen bestimmt durch endogene Faktoren (ob diese sich nun auf den Kampf um das Gewaltmonopol konzentrieren oder auf die Klassenstruktur des Staates). In diesen Ansätzen findet sich nur eine knappe Beachtung der „externen“ Faktoren, die das Aufkommen des modernen Staates geprägt haben.
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Literatur
Dies ist offensichtlich eine sehr vereinfachende Lösung für einen Streitpunkt, der Hunderte von Theoretikern beschäftigt und ganze Bibliotheken gefüllt hat. Weiterführende Literatur hierzu: Bottomore (1966); Giddens (1973); Poulantzas (1975 a, b); Wright (2000).
Cox unterscheidet darüber hinaus noch nach einer dritten Entwicklungsform, abgesehen von einfacher Reproduktion und kapitalistischer Entwicklung, nämlich redistributiver Entwicklung. Dies ist die Form, die zuerst in der Sowjetunion entwickelt wurde. Nach Cox war diese Form charakterisiert durch zwei verschiedene Formen sozialer Produktionsverhältnisse, nämlich kommunale Produktion (in der Art kollektivierter Landwirtschaft) und zentrale Planung in der Industrie. Im Folgenden werden wir diese Formen eingehender betrachten, auch wenn wir im nächsten Abschnitt die Gelegenheit haben werden, kurz zum Wesen des real existierenden Sozialismus zurückzukehren. An dieser Stelle soll es ausreichen, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass sowohl Cox“ Behauptung, dass die redistributive Form sich nicht aus der kapitalistischen Entwicklung heraus gebildet hat (Cox 1987, 86), als auch seine implizite Erwartung, dass die redistributive Form noch eine möglichst lange Zukunft vor sich hat (idem, 88), schlecht begründet waren.
Diese Zweiteilung der Arbeiterschaft in besser ausgebildete, besser bezahlte und besser geschützte Arbeiter auf der einen Seite und schlechter ausgebildete, schlechter bezahlte und ungeschützte Arbeiter auf der anderen Seite neigt immer dazu, sich entlang der Linien von Ethnizität, Geschlecht und Alter auszuprägen, wodurch die Aufteilung der Arbeiterschaft nach Charakteristika, die nichts mit dem Produktionsprozess zu tun haben, bekräftigt und eine verworrene Ausformulierung klassen-, gender-und rassenbezogener Hierarchien hervorgebracht wird (Cox 1987, 63).
Für eine hilfreiche Biographie und Einführung siehe Ransome (1992). Gramscis Arbeit wurde in Frankreich „wiederentdeckt“, vor allem nach 1968. In der anglophonen Welt publizierte die New Left Review in den Jahren 1964–1965 eine Artikelserie von Tom Nairn und Perry Anderson, die von Gramscis Arbeit für eine neue Interpretation der britischen Geschichte Gebrauch machten. Eine größere Verbreitung von Gramscis Gedanken fand aber nicht vor dem Erscheinen der Übersetzung der Gefängnishefte (vgl. Gramsci 1971) statt (siehe auch Anderson 1977). Es ist natürlich nicht möglich, in diesem Lehrbuch die Debatten, die die „Entdeckung“ von Gramsci hervorgerufen hat und auf die sich Germain und Kenny (1998) ausführlich in ihrer kritischen Bewertung des Beitrages der „Neo-Gramscianer“ zur Theorie der Internationalen Beziehungen beziehen, wiederzugeben (Bieler/Morton 2001, 3; Bieler/Morton 2003, 2006; siehe auch Jacobitz 1991). Anhand dieser Verweise können die Leser ihren eigenen Zugang zu der Art und Weise, wie die „Neo-Gramscianer“ Gramsci verstehen, finden.
Siehe van der Pijl 1989 und Overbeek 1993 für einige Aufsatzsammlungen, die diese Perspektive übernehmen. Siehe auch van Apeldoorn (2004).
Siehe van der Pijl 1984, 0; idem 1998, 43; auch Overbeek 1990, 29, 1781. Eine noch grundlegendere Unterscheidung (zumindest in bestimmter Hinsicht) ist die zwischen fixem konstanten Kapital, zirkulierendem Kapital (Geld, Waren und zirkulierendem konstantes Kapital) und variablem Kapital (i. e. die Summe des Lohnes der Arbeitskraft). Für Erläuterungen hinsichtlich der Bedeutung des Unterschiedes zwischen fixem und zirkulierendem Kapital siehe Shortall 1986.
Peter Burnham hat diese Behauptung kritisiert: „The neo-Gramscian analysis [...] simply offers a pluralist analysis of global capitalism which overemphasises the role of ideology in economic policy and regime formation, illegitimately invokes the dominant ideology thesis and fails to specify its implicit fractionalist theory of the state“ (Burnham 1991, 91; siehe auch Clarke 1978 mit einer früheren Kritik des Fraktionalismus). Anstatt Gramsci zu extrapolieren, sagt uns Burnham, dass wir verstehen müssen, dass „the culmination of’ scientific political economy’ is to be found in a critical reading of the work of Marx“ (Burnham 1994, 222). Der Beginn einer Antwort auf Burnham wäre zu zeigen, dass seine theoretische Alternative wahrscheinlich in die Falle des orthodoxen Marxismus liefe, wie ihn Laclau und Mouffe identifiziert haben (1985).
Diese Kritik ist tatsächlich einer der Hauptaspekte bei Germain und Kenny (1998).
Ihre Vorboten waren nach Cox der englische Inselstaat, welcher den Handelskapitalismus hervorbrachte, und der absolutistische „continental power state“, in welchem die herrschende Klasse für ihr Einkommen noch in erster Linie von Abgaben und Mieten abhängig war (Cox 1987, 1119).
Vgl. Brenner 1977, ebenso Denemark und Thomas 1988. Diese Debatte hat ihre Wurzeln in der älteren und bekannteren Diskussion über den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus in Westeuropa; siehe z. B. Anderson 1974 und Dobb 1973 [1947].
Weniger bekannt innerhalb Wallersteins Auffassung, aber vielleicht von einer mehr grundlegenden Bedeutung ist die Arbeitsteilung (Entwicklung komplementärer Fähigkeiten, Spezialisierung), die innerhalb eines Produktionsprozesses stattfindet. Diese Arbeitsteilung wiederum „becomes objectified in knowledge, machinery, and organisation“ und schafft auf diese Weise Netzwerke unpersönlicher, vergegenständlichter Beziehungen der gegenseitigen Abhängigkeit von Einzelpersonen. Dieser Prozess wird als Vergesellschaftung bezeichnet (vgl. van der Pijl 1998, ). Wir werden in Kürze darauf zurückkommen.
Im Allgemeinen tendiere ich dazu, mit Wallersteins Position in seiner Debatte mit Frank und Gill übereinzustimmen, dass nämlich das, was die Post-15.-Jahrhundert-Welt-Ökonomie von der vorangegangenen Weltökonomie (ohne Bindestrich) unterscheidet, die internationale Arbeitsteilung ist, welche eher den Handel mit grundlegenden Waren (wie Bauholz, Getreide usw.) als den für frühere Zeiten charakteristischen Handel mit Luxusgütern (Seide, Gewürzen) berührt (Wallerstein 1993). Diese Position bedeutet nicht (zumindest nicht für mich), dass vom Kapitalismus als einer Produktionsweise behauptet werden kann, innerhalb aller sozialen Formationen, die Teil dieser Welt-Ökonomie waren, fest verankert gewesen zu sein. Mandels Position, die zwischen „kapitalistischem Weltmarkt“ und „kapitalistischer Produktionsform“ unterscheidet, ermöglicht es uns, der nutzlosen Diskussion, in welche Frank und Wallerstein sich haben hineinziehen lassen, aus dem Weg zu gehen (vgl. Mandel 1972).
Diese Periodisierung ist hergeleitet von verschiedenen anderen Periodisierungen in der Literatur, wie denjenigen von Mandel im Spätkapitalismus (1972) oder Zürn (1995), welche annähernd ähnlich, aber gewiss nicht gleich sind.
Stephen Gill hat dies „New Constitutionalism“ genannt; siehe Gill 1998.
Nirgendwo ist dieses Auseinanderbrechen weiter vorangeschritten als in der Europäischen Union (EU), in der die Einheitliche Europäische Akte (1986) und die Verträge von Maastricht (1991) und Amsterdam (1997) eine bewegliche und vielschichtige Governance-Struktur mit spezifischen (aber auch wechselnden) Rollen für supranationale, intergouvernementale, nationale und regionale Institutionen und Autoritäten geschaffen haben. In anderen regionalen Kontexten und ebenso auf der globalen Ebene sind ähnliche Entwicklungen sichtbar geworden. Institutionen wie der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Welthandelsorganisation (WTO) haben von den nationalen Regierungen, die deren Exekutiven dem Namen nach kontrollieren, einen beachtlichen Grad an Autonomie übertragen bekommen, während eher informelle Organisationen wie z. B. die G7 eine bedeutende Rolle in der Formulierung langfristiger strategischer Ausrichtungen der Politik spielen.
Das hat auch Gramsci deutlich ausgesprochen: „Do international relations precede or follow (logically) fundamental social relations? There can be no doubt that they follow“ (Gramsci 1971, 176).
Picciotto (1991) argumentiert, dass transnationale Konzerne schwache transnationale regulative Strukturen starken Strukturen vorziehen und sie das Vorhandensein unterschiedlicher nationaler Steuerungssysteme instrumentalisieren. Die beiden Positionen schließen sich nicht gegenseitig aus, als die eine in Begriffen von Zielen gefasst ist, während die andere (zu einem gewissen Teil zumindest unabsichtlich) Ergebnisse analysiert.
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(2008). Struktur und Funktionsbedingungen ungleicher Entwicklung im Weltsystem — theoretische Grundbegriffe. In: Rivalität und ungleiche Entwicklung. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-91055-0_2
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-15440-4
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