Zusammenfassung
„Migration ist eine schöpferische Tätigkeit, aber auch ein Leiden“, schreibt der tschechisch-brasilianische Philosoph Vilém Flusser (1992: 249), und weiter, sinngemäß: Es ist das Leiden, aus dem das Tun emportaucht, ein Tun, das zugleich die Entscheidungen strukturiert, durch die man sich und seinen Lebensentwurf definiert; etwa im Alter, im Kontext der Migration, wenn es darum geht, der nachberuflichen Lebensphase Gestalt zu verleihen, oder zwischen Bleiben oder Rückkehr abzuwägen.
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Notes
- 1.
Nach de Wenden (2007: 27) manifestiert sich hier eine strukturelle Dimension von Migration als Prozess eines demografischen, ökonomischen und sozialen Ausgleichs zwischen dem Norden und dem Süden, der sich im Alter fortsetzt, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen.
- 2.
Die Koinzidenz von gesellschaftlichen und individuellen Handlungsentwürfen, die beide auf Vorläufigkeit angelegt waren (Rotationsmodell, Rückkehrorientierung), gilt als Merkmal der ‚Gastarbeitsmigration‘. Entscheidend scheint, dass sich Einwanderung trotzdem vollzog, faktisch zumeist ungeplant auf individueller und vornehmlich ungewollt auf gesellschaftlicher Ebene. Das Altern im Kontext der Arbeitsmigration repräsentiert deshalb nicht nur etwas, das nicht vorgesehen war, einen Kristallisationspunkt häufig unterlassener oder nicht expliziter Lebensentscheidungen (im Sinne einer Einwanderung ohne Einwanderungsentscheidung), sondern vor allem eine gesellschaftliche Leerstelle, einen Nicht-Ort im übertragenen Sinn (Reinprecht 2007).
- 3.
Vgl. dazu Reinprecht 2008. Eingeschränkte Rechtssicherheit gilt theoretisch sogar bei Einbürgerung. In Deutschland darf die Staatsbürgerschaft allerdings nur dann entzogen werden, wenn die betroffene Person nicht staatenlos wird, also etwa bei Doppelstaatsbürgerschaft.
- 4.
In zwei Wellen wurden zwischen 1998 und 2005 insgesamt 500 Personen aus der Türkei und dem ehemaligen Jugoslawien befragt. Durchgeführt wurden die Befragungen in ausgewählten Wiener Wohngebieten mittels standardisierten Erhebungsinstrumenten in der jeweiligen Muttersprache. Zu Vergleichs- und Kontrollzwecken wurde jeweils auch eine Erhebung unter einheimischen Älteren durchgeführt (für die detaillierte Darstellung der Ergebnisse siehe Reinprecht 2006).
- 5.
Die erklärten Varianzen je nach Modell von 20, 24 bzw. 36 Prozent weisen darauf hin, dass für die Bewertung von Zielerreichung und Migrationsentscheidung noch weitere Einflussgrößen relevant sind, die in der Erhebung nicht abgefragt wurden.
- 6.
- 7.
In den eigenen Forschungen wurde zur Messung von Lebensqualität neben Indikatoren zur Messung von allgemeinem Wohlbefinden, Lebenszufriedenheit und Glück u. a. das von der WHO entwickelte Skaleninstrument WHOQOL-BREF (World Health Organization Quality of Life Kurzfassung) eingesetzt. Die Skala setzt sich aus insgesamt 26 Items zusammen und umfasst die Dimensionen physische Lebensqualität (Krankheiten, Schmerzen, Arbeitsfähigkeit, etc.), psychische Lebensqualität (Zufriedenheit mit dem Leben und mit sich selbst, etc.), soziale Lebensqualität (Zufriedenheit mit sozialen Beziehungen, etc.) und umweltbezogene Lebensqualität (Zugang zu Information und Infrastruktur, materielles Auskommen, Freizeit, Wohnen, etc.) sowie eine globale Dimension subjektiv empfundener Lebensqualität (Angermeyer et al. 2000).
- 8.
Da die ursprünglichen vier Dimensionen nicht vollständig reproduziert werden konnten, wurde auf Basis der Ergebnisse der Faktorenanalyse (Hauptachsenanalyse) mit den drei Subskalen des physischen, des umweltbezogenen sowie des psychisch-sozialen Wohlbefindens weitergerechnet. Die entsprechenden Beta-Werte betragen 0.61 (umweltbezogene Dimension) und 0.16 (psychisch-soziale Dimension), der Wert für die physische Dimension ist nicht signifikant.
- 9.
Die entsprechenden Beta-Werte betragen 0.46 (psychisch-soziale Dimension) sowie 0.24 (umweltbezogene Dimension).
- 10.
Diese Bereiche orientierten sich an den Dimensionen Having, Loving, Being von Allardt 1993.
- 11.
Beta-Werte für globale LQ (38 % erklärte Varianz): Kinder (0.38), gesundheitsbezogene und freundesbezogene Aktivitäten (0.26 bzw. 0.32), Abwesenheit von Krankheiten (0.27). Beta-Werte für umweltbezogene Lebensqualität (42 % erklärte Varianz): Wohnlage (0.24), Mitwirkung an Vereinsaktivitäten (0.26), gesundheitsbezogene und freundesbezogene Aktivitäten (0.28 bzw. 0.30). Für die Vergleichsgruppe der Älteren ohne Migrationshintergrund werden 37 % der Varianz der globalen Lebensqualität durch das Fehlen von Krankheiten, Haushaltseinkommen und auf die Gesundheit bezogene Aktivitäten erklärt; die umweltbezogene Lebensqualität wird durch das Modell nur zu 14 Prozent erklärt; kein einziger signifikanter Wert zeigt sich für die Variable Gesundheit.
- 12.
Was sich auch in der Konstruktion einer Kategorie sozial- und altenpolitischer Intervention manifestiert; Rondström 2002; Torres 2001.
- 13.
An dieser Stelle sei erneut auf den empirisch untermauerten Zusammenhang von Lebensqualität und Migrationsbilanz sowie auf den jeweils unabhängigen Einfluss von Migrationsbilanz auf Zukunftspläne einerseits und von Lebensqualität auf Alterserwartungen andererseits hingewiesen. Wie die eigenen Forschungen zeigen, erhöht Lebensqualität die Befähigung zur Bewältigung der im Alternsprozess sich kristallisierenden Handlungsparadoxien, sei es in Bezug auf die Bedürfnisse nach Aktivität und Teilhabe (Integrations- und Partizipationsgewinne werden durch materielle Restriktionen und sozialen Ausschluss konterkariert), sei es in Hinblick auf den Anspruch auf Autonomie und Unabhängigkeit (gesellschaftliche Isolation erhöht die begründete Sorge vor Abhängigkeit von Bezugssystemen der Familie, Verwandtschaft oder ethnischen peers).
- 14.
Auf Doppelzugehörigkeit entfielen 39 Prozent, auf den herkunftsbezogenen Bindungstyp 30, auf Assimilation 22 und auf Unzugehörigkeit zehn Prozent. Der normative Charakter des Modells der Akkulturationsstrategien ist unübersehbar, gleichwohl dürfen die Idealtypen von Assimilation und Segmentation, doppelter Integration und Marginalität nicht alltagstheoretisch gedeutet werden. Normativ gewünscht ist nicht das Verschwinden von Differenz, sondern die Verringerung systematischer Unterschiede in den Lebenschancen (Esser 2004).
- 15.
Dazu etwa Lichtenberger 1984.
- 16.
Vgl. dazu auch Krumme 2004. Zuverlässige Angaben zum quantitativen Ausmaß der Pendelmigration und Remigration liegen nicht vor. Auswertungen des Deutschen Alterssurveys lassen darauf schließen, dass vor allem Personen aus der Türkei im Rentenalter für längere Zeitspannen pendeln und der Anteil der TransmigrantInnen insgesamt zunimmt (Baykara-Krumme & Hoff 2006). Transnationale Mobilität stößt im Alter allerdings auch auf Barrieren von bestehenden aufenthalts-, sozial- und pensionsrechtlichen Gegebenheiten.
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Reinprecht, C. (2012). Migration als Determinante von Lebensqualität: Strukturelle, kulturelle und biografische Aspekte. In: Baykara-Krumme, H., Schimany, P., Motel-Klingebiel, A. (eds) Viele Welten des Alterns. Alter(n) und Gesellschaft, vol 22. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19011-2_13
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