Zusammenfassung
Die von Arnold Schering 1908 als Reflex auf Hermann Kretzschmars Affektenlehre skizzierte musikalische Figurenlehre1 kann heute als eines der attraktivsten und erfolgreichsten Erklärungsmodelle für Musik des 16. bis 18. Jahrhunderts gelten. Damit hoffte man, ein entscheidendes Manko musikalischer Hermeneutik, nämlich das Fehlen einer intersubjektiven, quasi wissenschaftlichen Basis für den Sinn- und Ideengehalt von Musik lösen zu können. Die musikalisch-rhetorischen Figuren wurden als Schlüssel zur Dekodierung alter Musik benutzt und ermöglichten es, eine Musik, die sich bis dahin weitgehend der Analyse entzog, sprachlich, begrifflich zu fassen. Die Figuren boten ein scheinbar sicheres Terrain, um zu Klarheit und Gewissheit der Auslegung zu gelangen. Gleichzeitig dienten sie allerdings auch dazu, den Zugang zur Musik des 16. bis 18. Jahrhunderts auf andere Weise wieder zu verschlüsseln, nun nämlich durch die spezifische, neu zu lernende griechisch-lateinisch-italienische Terminologie der rhetorisch-musikalischen Figuren.
Die Sternbilder dienen nicht der Erkenntnis der Sterne.
Walter Benjamin
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Similar content being viewed by others
Notizen
A. Schering, Die Lehre von den musikalischen Figuren, in: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 1908, S. 106–144.
So von C. Dahlhaus, Die Figurae superficiales in den Traktaten Christoph Bernhards, in: Kongress-Bericht Bamberg 1953, Kassel 1954, S. 135–138.
Vergleiche etwa die unterschiedlichen Systematisierungen von H. Brandes, Studien zur musikalischen Figurenlehre, Berlin 1935
H. H. Unger, Die Beziehungen zwischen Musik und Rhetorik im 16.–18. Jahrhundert, Würzburg 1941, Neudruck Hildesheim 1969
H. Krones, Musik und Rhetorik, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart 1997, Sp. 814–851.
A. Schweitzer, Johann Sebastian Bach, Paris und Leipzig 1905, deutsche Ausgabe 1908, zitiert nach der 10. Auflage Wiesbaden 1979, Kap. XXII und XXIII, S. 425–479.
In diesem Sinne zieht noch Josef Kloppenburg musikalisch-rhetorische Figuren zum Vergleich heran: J. Kloppenburg, Filmmusik. Stil — Technik — Verfahren — Funktionen, in: Musik multimedial. Filmmusik, Videoclip, Fernsehen, hrsg. von J. Kloppenburg, Laaber 2000, S. 26 f.
Christoph Bernhards bis dahin ungedruckte Schriften wurden unter dem Gesamttitel Die Kompositionslehre Heinrich Schützens in der Fassung seines Schülers Christoph Bernhard, hrsg. von J. Müller-Blattau, Leipzig 1926, erstmals veröffentlicht.
D. Battel, Handbuch der musikalischen Figurenlehre, Laaber 1982, 31998; H. Krones, wie Anmerkung 5.
Vergleiche dazu H. Lehmann, Protestantische Weltsichten. Transformationen seit dem 17. Jahrhundert, Göttingen 1998, S. 124 ff.
H. H. Eggebrecht, Über Bachs geschichtlichen Ort (1957), in: H. H. Eggebrechtders., Bach — wer ist das? München 1992, 21994, S. 50.
W. Gurlitt, Der Begriff der sortisatio in der deutschen Kompositionslehre des 16. Jahrhunderts (1942), zitiert nach ders., Musikgeschichte und Gegenwart, Bd. I, hrsg. von H. H. Eggebrecht, Wiesbaden 1966, S. 93 ff. (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft Bd. 1).
Vergleiche dazu K. W. Niemöller, Die musikalische Rhetorik und ihre Genese in Musik und Musikanschauung der Renaissance, in: Renaissance-Rhetorik, Renaissance Rhetoric, hrsg. von H. F. Plett, Berlin, New York 1993, S. 285
A. Schering, Das Symbol in der Musik, hrsg. von W. Gurlitt, Leipzig 1941
A. Schmitz, Die Bildlichkeit der wortgebundenen Musik Johann Sebastian Bachs, Mainz 1950 (= Neue Studien zur Musikwissenschaft I).
H. H. Eggebrecht, Heinrich Schütz. Musicus poeticus, Göttingen 1959, zitiert nach der Ausgabe Wilhelmshaven 1985, S. 80.
Martin Ruhnke hat 1961 bereits den Zusammenhang zwischen Musica poetica und Figurenlehre behutsam, wenn auch deutlich revidiert; ders., Musica theorica, practica, poetica, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart 9, Sp. 954 ff.
Die Zahlen sind lediglich Orientierungswerte. Als Grundlage gilt hier das Quellenverzeichnis von W. Braun, Deutsche Musiktheorie des 15. bis 17. Jahrhunderts. Zweiter Teil, von Calvisius bis Mattheson, Darmstadt 1994 (= Geschichte der Musiktheorie Bd. 8/ II).
Seine Systematik stimmt mit der von Nucius überein, ein Teil der Figuren stimmt mit denen von Burmeister überein. Auf den möglichen Zusammenhang hat bereits Fritz Feldmann hingewiesen: ders., Das „Opusculum bipartitum“ des Joachim Thuringus (1625) besonders in seinen Beziehungen zu Johannes Nucius (1613), in: Archiv für Musikwissenschaft 15, 1958, S. 123–143.
Darauf hat unter anderem Arno Forchert besonders hingewiesen, ders., Musik und Rhetorik, in: Schütz-Jahrbuch 1986, S. 5–21.
Zitiert nach: A. Hirsch, Philosophischer Extract und Auszug aus deß Welt-berühmten Teutschen Jesuitens Athanasii Kircheri von Fulda Musurgia Universali, Schwäbisch-Hall 1662, Neudruck Kassel 1988, S. 131 ff.
Editor information
Rights and permissions
Copyright information
© 2001 Springer-Verlag GmbH Deutschland
About this chapter
Cite this chapter
Klassen, J. (2001). Musica Poetica und Musikalische Figurenlehre — ein Produktives Missverständnis. In: Wagner, G. (eds) Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02821-1_4
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-02821-1_4
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-01876-2
Online ISBN: 978-3-476-02821-1
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)