Zusammenfassung
»Warum kann der lebendige Geist dem Geist nicht erscheinen!/Spricht die Seele so spricht ach! schon die Seele nicht mehr«. Dieses Schillersche Epigramm aus dem Musenalmanach 1797 bringt den Widerspruch zwischen dem Inkommensurablen des in Kunst Artikulierten und der in Begrenzungen definierenden Begrifflichkeit der Sprache auf eine für den Künstler nahezu selbstmörderische Formel. Mit diesem Widerspruch hatte auch der Musiker umso mehr zu tun, je weiter er seine Kunst begriffsähnlicher Intentionalität annäherte — dies vorab eine Leistung Beethovens, dessen Werke demgemäß in höherem Maße als die seiner Vorgänger nicht nur historische, biographische, stilistische etc. Stationen sondern Stationen der Erkenntnis darstellen.1 Indem sich die Musik endgültig aus dem ästhetischen Eigendasein einer »freien Schönheit«,2 in der die Ästhetik sie noch lange fälschlich befangen sah, zu philosophischer Relevanz und einer sehr direkten Kommunikation mit dem »Zeitgeist« heraufarbeitete, wurde sie, in Auseinandersetzungen mit neu gestellten Ansprüchen eine Erweiterung ihrer Zuständigkeit erstrebend, dieser Grenzen zunächst inne und definierte sich Standort und Mittel neu.
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Notizen
Die vorliegende Arbeit steht in engem Zusammenhang mit der im vorliegenden Bande auf den Seiten 67–103 abgedruckten.
Kant, Kritik der Urteilskraft, § 16.
The unconscious Beethoven, London 1927, 27.
K. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (Paris 1844), Marx/Engels, Werke, Ergänzungsband, Erster Teil, besonders 511 ff.
E. Staiger, Grundbegriffe der Poetik, 4. Aufl. Zürich 1959, 175 ff.
P. Valéry, Eupalinos oder Der Architekt, Reinbek b. Hamburg 1962, 118.
C. Dahlhaus, Musikästhetik, Köln 1967, 111; zur Frage des Lyrischen E. Staiger a. a. O. 13 ff.
Bach zur Absicht seiner Inventionen.
C. Czerny, Über den richtigen Vortrag der sämtlichen Beethoven’schen Klavierwerke, hrsg. und kommentiert von P. Badura-Skoda, Wiener Urtextausgabe, UE Wien 1963, 22.
hierzu Richard Strauß zu Edwin Fischer: »… da müssen’s doch nur Ihre Visitkarten abgeben«, vgl. E. Fischer, Musikalische Betrachtungen, Wiesbaden 1950, 16.
Zu dieser Grenzerweiterung als kompositorischem Programm der Rasumowsky-Quartette vgl. im vorliegenden Bande S. 213 ff. Da die Themenstellung des vorliegenden Aufsatzes den Kreis enger zieht, fallen die von H. Goldschmidt (Motivvariation und Gestaltmetamorphose. Zur musikalischen Entstehungsgeschichte von Beethovens Violinkonzert, Festschrift Heinrich Besseler, Leipzig 1961, 389 ff.) in einen ähnlichen Zusammenhang »kammermusikalischer Werke mit betonter lyrischer Intimität« gestellten opera 78 (dort fälschlich 79), 96 und 102/1 (dort fälschlich 105/I) heraus. Von ihnen hält noch am ehesten op. 78 die Nähe zu den hier untersuchten Befunden.
C. Czerny, a. a. O. 13.
C. Czerny, a. a. O. 15.
Fr. Schlegel über Sophokles, Ü ber das Studium der griechischen Poesie, München 1797, cit. nach E. Behler, Friedrich Schlegel, Reinbek b. Hamburg 1966. 39.
hierüber H. Goldschmidt, a. a. O. 391 ff.
Im einzigen erhaltenen Skizzenblatt (vgl. H. Goldschmidt, a. a. O. 391) ist dieser Ton als es notiert; demgegenüber muß die spätere Veränderung in dis als bewußte Entfernung aus dem Bereich funktionaler Beziehbarkeit erscheinen.
Das Provozierende in op. 59 wurde wohl empfunden und begriffen. Mit diesem Werk stand Beethoven erstmals einer anfangs fast einhelligen Ablehnung gegenüber.
1. Satz, T. 330 ff.
Nachweis hierzu in R. Kolischs erstaunlich wenig beachteter Arbeit Tempo and Character in Beethoven’s Music, Musical Quarterly XXIX, 1943; auch bei H. Goldschmidt, a. a. O. 407/408.
hierzu H. Goldschmidt, a. a. O.
vgl. A. Schmitz, Beethovens »Zwei Prinzipe«. Ihre Bedeutung für Themen- und Satzbau. Berlin/Bonn 1923.
dies möglicherweise anknüpfend an eine motivisch wie strukturell ähnliche Partie in der Durchführung des Finales vom Streichquartett op. 18/III.
Zu op. 9/III. vgl. E. Platen, Beethovens Streichtrio op. 9 Nr. 2, in: Colloquium Amicorum, J. Schmidt-Görg zum 70. Geburtstag, Bonn 1967; zur 7. Sinfonie vgl. A Knab, Denken und Tun, Berlin 1959, 27 ff. Daß die »Faktoren der Einheit in der Mehrsätzigkeit der Werke Beethovens« (vgl. die gleichnamige Veröffentlichung von L. Misch, Bonn/München 1950), trotz verschiedener Versuche und Anläufe noch immer als terra incognita erscheinen, rührt nicht zuletzt von Verengungen und Betrachtung sowohl in bezug auf die Semantik der Musik als auch in der Konzentration oft auf jeweils nur ein Werk her, die dessen ästhetische Autonomie mißverstehend zugleich für dessen problematische nimmt; vgl. a. D. Cooke, In Defence of Functional Analysis, in: Musical Times, Sept. 1959, 456 ff.
hierzu R. Réti, The Thematic Process in Music, New York 1947.
hierzu R. Réti, a. a. O.
hierzu A. Knab, a. a. O. 46 ff., und, ohne dessen Kenntnis, M. Katz, Über Beethovens Klaviersonate op. 110, in: Mf XXII/1969, 401 ff., und E.Voss, Zu Beethovens Klaviersonate As-Dur op. 110, in: Mf XXIII/1970, 256 ff. Zur gedanklichen und thematischen Einheit im Violinkonzert vgl. H. Goldschmidt, a. a. O.
Lwow/Pratsch, Sobranije narodnich russkich pesen s ich golosami, Petersburg 1790, NA Moskau 1960, vgl. hierzu auch W. Salmen, Zur Gestaltung der »Thèmes russes« in Beethovens op. 59, in: Festschrift für Walter Wiora, Kassel usw. 1967, 397 ff.
dessen Problematik schon E. T. A. Hoffmann in seiner ausführlichen Rezension behandelte, vgl. Musikalische Novellen und Aufsätze, GA Bd. II, Regensburg o. J., 47; sehr eingehend betrachtet den Satz überdies A. Halm, Beethoven, Berlin 1927, 142 ff. und 161 ff.
Geschichte der romantischen Schule in Deutschland.
Ähnlich kombinierbar, das eine als Kontrapunkt des anderen, sind die beiden Themen im zweiten Satz des Streichquartettes op. 95, obwohl nie so auftretend. Sie vertreten hier zwei prinzipiell unterschiedliche Satzweisen, eine stimmig belebte homophone und eine fugische. Angesichts des in diesem Allegretto ma non troppo entfalteten Bildes einander ergänzender Gegensätze erscheint die Zusammengehörigkeit der Themen nicht in einem Maße wie in op. 70 als versteckter Schlüssel.
»Die Einheit der Form und die Einheit des Sinns, beides Merkmale der Klassik, beruhen auf einer zusammenfassenden Kraft beim Hörer.« H. Besseler, Das musikalische Hören der Neuzeit, Berichte über die Verhandlungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse, Bd. 104, Heft 6, Berlin 1959, 60.
hierzu H. Goldschmidt, a. a. O.
vgl. z. B. die Deutung des zweiten Satzes der Pastoralsinfonie bei J. Ujfalussy, Dramatischer Bau und Philosophie in Beethovens VI. Sinfonie, in: Bence Szabolcsi Septuagenario, Budapest 1969.
vgl., auf Schindler fußend, W. v. Lenz, Beethoven, Eine Kunststudie, Bd. 4, Hamburg 1860, 290 ff.
vgl. H. Goldschmidt, a. a. O., und A. Feil, Zur Satztechnik in Beethovens Vierter Sinfonie, AfMw XVI/1959, 391 ff.
Um die Betrachtung ähnlicher Sachverhalte in allen Sätzen der Pastoralsinfonie (wie auch in allen Sätzen von op. 58 von einer betonten Setzung im Thema ausgegangen wird) nicht nur im zweiten, wäre J. Ujfalussys erhellende Deutung (a. a. O.) zu ergänzen.
Der Vergleich mit dem in wichtigen Details ähnlichen Thema des ersten Satzes von Mozarts Sinfonie A-Dur KV.201 veranschaulicht den Übergang von dem im Normalsinne kontrastierend disponierten zum »prozessualen« Thema; Das erste Glied, bei Mozart durch die Gewichtigkeit des Oktavschrittes und zwei Viertel profiliert, erscheint bei Beethoven »verkümmert« zum bloß angeschlagenen, in sich unbewegten Akkord, das zweite hingegen sowohl gesteigert und beschwert durch den akkordischen Satz (da auch das Tempo langsamer ist, in dem der Mozart-Satz übrigens zu den berühmtesten Streitfällen zählt), als auch einer eigenen, weiterreichenden Entwicklung fähig, wohingegen das Mozartthema dem Mechanismus einer zweitaktigen Wiederholung anheimfällt. Auch wenn nur zufällig ähnelnd noch symptomatisch (wiewohl die klanghafte Konzeption beider Sätze sie wie Glieder eines gleichen Zusammenhangs erscheinen läßt), erscheint bei Beethoven das in KV 201 in der thematischen Gestalt synthetisierte Kontrastverhältnis in seiner Reichweite voll entdeckt, in den Konsequenzen als kausaler Zusammenhang wahrgenommen und erschlossen bis zu jener Grenze jenseits derer sich die also herausgearbeitete Antonomie kaum noch als thematische Gestalt fassen läßt.
hierzu L. Misch, Beethovenstudien, Bonn 1958.
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Gülke, P. (2000). Kantabilität und thematische Abhandlung. In: »… immer das Ganze vor Augen«. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02724-5_4
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