Zusammenfassung
Wenn man die Frage stellt, welche Erwartungen Außenstehende an Organisationen richten, so würde jede empirische Untersuchung wohl ergeben, dass eine Förderung oder zumindest eine angemessene Rücksichtnahme auf die eigenen Interessen erwartet wird. Das dürfte für Einzelmenschen als Antragsteller oder als Betroffene, als Kunden oder als Patienten, als Schüler in Schulen oder als Gefangene in Gefängnissen gelten. Es gilt aber auch für das Verhältnis von Organisationen zu Organisationen, etwa der Firmen zu ihren Banken oder der Banken zu den Kredite suchenden Firmen; oder für das Verhältnis der Gewerkschaften zu den Unternehmen oder zum Staat; oder der Krankenhäuser zu den Krankenkassen und umgekehrt. Da Rücksichtnahme auf Interessen schwer zu spezifizieren ist und da enttäuschende Erfahrungen in Einzelfällen nicht ohne weiteres generalisiert werden können, entwickelt sich auf dieser Basis eine Art Vertrauen; oder zumindest belastet Misstrauen die Beziehungen in nahezu unerträglicher Weise, erhöht die Informations- und Kommunikationslasten und wird wohl nur durchgehalten, wenn es keine Alternativen, also keinen Markt gibt.
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Literatur
Siehe dazu Klaus P. Japp, Verwaltung und Rationalität, in: Klaus Dammann et al. (Hrsg.), Die Verwaltung des politischen Systems: Neuere systemtheoretische Zugriffe auf ein altes Thema, Opladen 1994, S. 126–141.
Siehe hierzu in breiterem Rahmen Richard Harvey Brown, Rhetoric, Textuality, and the Postmodern Turn in Sociological Theory, in: Steven Seidman (Hrsg.), The Postmodern Turn: New Perspectives on Social Theory, Cambridge Engl. 1994, S. 229–241.Vgl. auch ders., Society as Text: Essays on Rhetoric, Reason, and Reality, Chicago 1987.
So Bernard Ancori, Apprendre, se souvenir, décider: Une nouvelle rationalité de l’organisation, Paris 1992, S. 25 ff.
So argumentiert Japp a.a.O.
Vgl. Arthur L. Stinchcombe, Information and Organizations, Berkeley 1990.
Siehe dazu Barry M. Staw, Rationality and Justification in Organizational Life, in: Barry M. Staw/Larry L. Cummings (Hrsg.), Research in Organizational Behavior 2 (1980), S. 45–80.
Dass überhaupt von Unterscheidungen ausgegangen werden muss, wird dabei zu wenig beachtet. Siehe aber Elena Esposito, Die Orientierung an Differenzen: Systemrationalität und kybernetische Rationalität, Selbstorganisation 6 (1995), S. 161–176.
So für die Entwicklung der Dichtung von Dryden bis Shelley Earl R. Wasserman, The Subtler Language: Critical Readings of Neoclassic and Romantic Poems, Baltimore 1959.
Das gilt im Übrigen keineswegs nur für Produktionsorganisationen, sondern, wenn man in der reichen Literatur über Reformen im Erziehungssystem nachliest, auch für Schulen und Hochschulen. Auch die allgemeine Klage über den gemächlichen Trott der staatlichen Bürokratien folgt diesem Muster.
Massimo Warglien, Learning in a Garbage Can Situation: A Network Model, in: Massimo Warglien/Michael Masuch (Hrsg.), The Logic of Organizational Disorder, Berlin 1996, S. 163–182, spricht von „one of the most radical and puzzling attempts to shape a theory of intelligent behavior when the main assumptions of rational (or quasi rational) decision making are violated.“ (163)
Bahnbrechend vor allem: Richard M. Cyert/James G. March, A Behavioral Theory of the Firm, Englewood Cliffs N.J. 1963, 2. Aufl. mit einem Epilog, der die anschließende Entwicklung skizziert, Oxford 1992.
Martha S. Feldman, Order Without Design: Information Processing and Policy Making, Stanford 1989, S. 123, definiert zum Beispiel: „A skill is a sequence of behavior in which each action is conditional upon the previous action or state.“
So, auf der Suche nach Exzellenz, Robert E. Quinn, Beyond Rational Management: Mastering the Paradoxes and Competing Demands of High Performance, San Francisco 1989.
Siehe auch Niklas Luhmann, Das Risiko der Kausalität, Zeitschrift für Wissen-Schaftsforschung 9/10 (1995), S. 107–119.
Vgl. den bahnbrechenden Aufsatz von Arthur Rosenblueth/Norbert Wiener/Julian Bigelow, Behavior, Purpose, and Teleology, Philosophy of Science 10 (1943), S. 18–24
ferner Lawrence K. Frank et al., Teleological Mechanism, Annals of the New York Academy of Sciences 50 (1948), S. 189–196.
Dies war in der Systemtheorie immer schon vorausgesetzt und wird auch durch den Begriff der Autopoiesis nicht in Frage gestellt. Siehe für viele ähnliche Äußerungen z.B. Jurgen Ruesch/Gregory Bateson, Communication: The Social Matrix of Psychiatry, New York 1951, S. 8, 75 f.
Ludwig von Bertalanffy, General Systems Theory: A Critical Review, General Systems 7 (1962), S. 1–20
F.E. Emery/E.L. Trist, The Causal Texture of Organizational Environments, Human Relations 18 (1965), S. 21–32. Einschlägig auch die wichtigen Bemerkungen bei Chester I. Barnard, The Functions of the Executive, Cambridge Mass. 1938 (zit. nach dem Nachdruck 1951), S. 250 f., dass kein System Erfolge oder Misserfolge einzelnen Ursachen (z.B. Personen) zurechnen kann. „This is to say that no specific statement can be made significantly except it be in terms of differential effect. ... Hence, the notion of cause and effect in an absolut sense is not pertinent.“
Siehe dazu Francis Heylighen, Causality as Distinction Conservation: A Theory of Predictability, Reversibility, and Time Order, Cybernetics and Systems 20 (1989), S. 361–384.
Die Mythologie des Entscheidens neigt deshalb dazu, Entscheidungen als spontan, als ursachelos zu beschreiben und allenfalls zu konzedieren, dass der Entscheider „Motive“ braucht, um sich zu entschließen.
Hierzu J.D. Dermer/R.G. Lucas, The Illusion of Managerial Control, Accounting, Organizations and Society 11 (1986), S. 471–482.
Für den Zeitbezug der prudentia, der den Menschen vom Tier unterscheidet, das nur sinnlich reagieren kann, gilt für eine lange Tradition Ciceros De officiis I,IV,11 (zit. nach Loeb Classical Library XXI, London 1968, S. 21) als die maßgebliche Quelle: „Sed inter hominem et beluam hoc maxime interest, quod haec tantum, quantum sensu movetur, ad id solum quod adest quodque praesens est se accomodat paulum admodum sentiens praeteritum aut futurum; homo autem quod rationis est particeps per quam consequentia cernit, causas rerum videt earumque praegressus et quasi antecessiones non ignorât.“ Zu weiteren Auswirkungen vgl. auch Rodolfo de Mattei, Sapienza e Prudenza nel pensiero politico italiano dall Umanesimo al sec. XVII., in: Enrico Castelli (Hrsg.), Umanesimo e Scienza politica, Milano 1951. Der Grundgedanke lässt sich über Aristoteles auf Anaxagoras zurückführen. Er beherrscht die Tradition bis weit ins 18. Jahrhundert, solange die Schulen ihren Unterricht an Prudentien ausrichten.
So in: James G. March/Johan P. Olsen, Ambiguity and Choice in Organizations, Bergen, Norwegen 1976.
So Karl E. Weick, Re-Punctuating the Problem, in: Paul S. Goodman/Johannes M. Pennings et al., New Perspectives on Organizational Effectiveness, San Francisco 1977, S. 193–225 (193 f.).
Siehe: The Organization of Hypocrisy: Talk, Decisions and Actions in Organizations, Chichester 1989, und dazu die kritische Besprechung von M. Reed, Organizations and Rationality: The Odd Couple, Journal of Management Studies 28 (1991), S. 559–567.
So Bo L.T. Hedberg/Paul C. Nystrom/William H. Starbuck, Camping on Seasaws: Prescription for a Self-Designing Organisation, Administrative Science Quarterly 21 (1976), S. 41–65. Allerdings können die Autoren nicht belegen, dass es einer Organisation, die diese Vorschriften (prescriptions!) beachtet, auch tatsächlich in aller Zukunft gut gehen werde. Es geht also wohl nur um eine Änderung der Selbstbeschreibung des Systems. „A self-designing organization“, heißt es a.a.O. S. 43, „functions most smoothly if its ideology cherishes impermanence.“
Siehe Theodor M. Bardmann, Wenn aus Arbeit Abfall wird: Aufbau und Abbau organisatorischer Realitäten, Frankfurt 1994.
Alphonse Daudet, Aventures prodigieuses de Tartarin de Tarascon, zit. nach Œuvres complètes Bd. VII, Paris 1899, S. 51 und 52.
Hierzu näher Niklas Luhmann, Die Paradoxie der Form, in: Dirk Baecker (Hrsg.), Kalkül der Form, Frankfurt 1993, S. 197–212.
Siehe nur Robert E. Quinn/Kim S. Cameron (Hrsg.), Paradox and Transformation: Toward a Theory of Change in Organisation and Management, Cambridge Mass. 1988.
So Chris Argyris, Crafting a Theory of Practice: The Case of Organizational Paradoxes, in: Quinn/Cameron a.a.O. S. 255–278.
Dass die Familientherapie genau umgekehrt argumentiert und „double bind“ für eine Ursache pathologischer Entwicklungen in Familien hält, mag irritieren, muss aber nicht unbedingt als Gegenargument gelten. Denn Familien und Organisationen sind gerade unter dem Gesichtspunkt des verdeckten Hinweises auf persönliche Einstellungen nicht ohne weiteres vergleichbar.
So ließe sich vielleicht die viel diskutierte japanische Produktionsweise analysieren. Als Prinzip scheint zu gelten: Perfektion ist möglich (obwohl sie nicht möglich ist). Die Anforderungen werden dann so direkt wie möglich auf Situationen herunterdekomponiert, die auf verschiedene Weise eine harmonische Welt reflektieren und in engem kommunikativen Verbund von Situation zu Situation fortschreitend entwickelt werden. Auf diese Weise scheint man Probleme westlichen Denkens, die mit Unterscheidungen, Abgrenzungen, Linearitäten, Kettenbildungen usw. verbunden sind, ausschalten zu können. Wenn dies unter bestimmten Bedingungen erfolgreich war, muss daraus aber nicht gleich der Schluss gezogen werden, dass es auch rational sei.
Hierzu Niklas Luhmann, Zeichen als Form, in: Dirk Baecker (Hrsg.), Probleme der Form, Frankfurt 1993, S. 45–69.
Siehe dazu paradigmatisch Georg Spencer Brown, Laws of Form (1969), Neudruck der 2. Aufl. New York 1979.
Siehe a.a.O. S. 56 ff.
Man mag hier erwähnen, dass Spencer Brown (a.a.O. S. 69) den zentralen Operator der Mathematik, das Gleichheitszeichen, interpretiert als „is confused with“. Man könnte auch sagen, mit diesem Zeichen werde eine Grenze formuliert, deren Überschreiten keine Information erzeugen darf.
Jurgen Ruesch/Gregory Bateson, Communication: The Social Matrix of Psychiatry, New York 1951, 2. Aufl. 1968, S. 238, mit Ausführungen zum Realitätsbegriff der Psychiatrie.
Vgl. oben S. 357 ff.
Eine entsprechende Theorie der Abfolge künstlerisch-stilistischer Innovationen skizzieren Michael Baldwin/Charles Harrison/Mel Ramsden, On Conceptual Art and Painting, and Speaking and Seeing: Three Corrected Transcripts, Art-Language NS 1 (1994), S. 30–69 (insb. S. 31 f.) Zu „redescription“ vgl.
auch Mary Hesse, Models and Analogies in Science, Notre Dame 1966, S. 157 ff.
So Spencer Brown a.a.O. S. 57 mit Bezug auf die mathematischen Operationen der Arithmetik und der Algebra, die mit der Einführung eines re-entry ihre Grenzen erreichen. Und wohlgemerkt: es handelt sich nicht um eine Unbestimmtheit, die auf die Abhängigkeit von der Umwelt, also auf unabhängige Variable zurückgeht, sondern um eine im System selbst erzeugte Unbestimmtheit.
Dies wird in der neueren Literatur über das Gedächtnis von Organisationen durchaus gesehen. Siehe nur James P. Walsh/Gerardo Rivera Ungson, Organizational Memory, Academy of Management Review 16 (1991), S. 57–91. Das bedeutet jedoch, dass Gedächtnis in Bezug auf Rationalität ambivalent wird — mal hilfreich, mal nachteilig.
Dieser „Fehler“ wird in der Literatur oft notiert und mit Aufforderungen zu Innovation, Kreativität usw. bekämpft. Belege dazu bei Walsh/Ungson a.a.O. Das Problem lässt sich schärfer fassen, wenn man unsere These akzeptiert, dass ein System nur Eigenzustände erinnern kann und nicht Zustände der Umwelt, zu denen es keinen Zugang hat.
Siehe Nils Brunsson, The Irrational Organization: Irrationality as a Basis for Organizational Action and Change, Chichester UK 1985. Siehe auch ders., The Organization of Hypocrisy: Talk, Decisions and Actions in Organizations, Chichester UK 1989.
Mit einem solchen Begriff der Vernunft als télos der abendländischen Philosophie hatte bekanntlich Husserl einen Ausweg aus gewissen Verengungen der europäischen Moderne projektiert. Siehe Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Husserliana Bd. VI, Den Haag 1954.
So Josef Wieland, Die Wirtschaft der Verwaltung und die Verwaltung der Wirtschaft, in: Klaus Dammann et al. (Hrsg.), Die Verwaltung des politischen Systems: Neuere systemtheoretische Zugriffe auf ein altes Thema, Opladen 1994, S. 65–78 (74). Wieland nennt die Wirtschaft „das Leitsystem moderner Gesellschaften“.
Wie beim Quartett, könnte man sagen, die zweite Geige. Aber die genauere Analyse kann dann gerade hier zeigen, dass die Gesamtleistung entscheidend von dem Instrument abhängt, das in der Prominenzskala den geringsten Platz einnimmt.
Vgl. nur Jules Michelet, L’amour, Paris 1858.
Die Alternative authentische Liebe/homme copie war bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts sichtbar gewesen; aber doch mit deutlicher Präferenz für echte Liebe und gegen die bloß angelesene Identifikation. Siehe Stendhal (Henri Bleyle), De l’amour (1822), zit. nach der Ausgabe Paris 1959. Und natürlich Romane wie Madame Bovary oder Effi Briest. Eine resolute Umkehrung der Ge-wichtigung vollzog dann bekanntlich René Girard in Mensonge romantique de vérité romanesque, Paris 1961.
Vgl. Niklas Luhmann, Protest: Systemtheorie und soziale Bewegungen (hrsg. von Kai-Uwe Hellmann), Frankfurt 1996.
Dass die als „Fundamentalismus“ bezeichneten Erscheinungen Neubildungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind und dass es sich nicht um ein Fortleben alter Traditionen handelt, sondern um ein durch Intellektuelle inspiriertes Wiederaufgreifen, kann als weithin akzeptiertes Resultat der neueren Forschung gelten. Damit ist allerdings keineswegs ausgemacht, wie weit damit auf allgemeine Globalisierungstendenzen etwa der Geldwirtschaft, der staatlich (und nicht ethnisch) orientierten Politik, der dominanten, „Para“-Phänomene ausschließenden Wissenschaft reagiert wird oder wie weit, zumindest auch, eine Reaktion auf organisierte Arbeitsbedingungen vorliegt. Vermutlich wird man hier regional differenzieren und auch das geschichtliche Tempo der Umbrüche in Rechnung stellen müssen.
Siehe dazu Frederick Steier/Kenwyn K. Smith, Organizations and Second Order Cybernetics, Journal of Strategic and Systemic Therapies 4,4 (1985), S. 53–65.
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Luhmann, N. (2000). Rationalität. In: Organisation und Entscheidung. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97093-0_15
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