Zusammenfassung
Vor zehn Jahren fand an der juridischen Fakultät der State University of New York in Buffalo als Teil der James McCormick Mitchell-Vortragsreihe ein Symposium statt. Die Teilnehmerinnen waren unter anderem Carol J. Gilligan, Catharine A. McKinnon, Ellen C. Dubois und Carrie J. Menkel-Meadow (vgl. Buffalo Law Review 1985). Dieses Symposium war ein Signal für den Zusammenstoß der Paradigmen in der feministischen Theorie, der sich in den folgenden Jahren abzeichnen sollte. Ich verwende hier den Ausdruck „Paradigma“ in einer „untechnischen“ Weise, um eine Reihe von zusammenhängenden expliziten wie impliziten Annahmen zu bezeichnen, die eine Vorstellung von Theorie und Politik lenken, beeinflussen, strukturieren oder sie zu „formatieren“ helfen. In der Debatte mit Carol Gilligan sagt Catharine McKinnon unter Bezugnahme auf Gilligans Studie „Die andere Stimme“ (Gilligan 1984):
„Ich habe — und es wird Sie schockieren, das zu hören — der Studie gegenüber ambivalente Gefühle. Einerseits finde ich ihre starke und elegante Sensibilität aufregend. Es findet sich darin etwas zutiefst Feministisches: der Impuls, Frauen zuzuhören.... Andererseits macht mich die Vernachlässigung der Ebene der Erklärung zornig (und es ist sehr grob, so etwas über ein Buch zu sagen, das so kühl, so anmutig und so sanft in seiner emotionalen Anrührung ist) — ich spreche hier von einem politischen Zorn. Warum werden Frauen zu Menschen, die, mehr als Männer, dieseWerte repräsentieren?.... Für mich ist die Antwort klar: Es liegt in der Unterordnung von Frauen begründet.... Die Studie hat auch die Stimme des Opfers gefunden... ja, Frauen sind zu Opfern gemacht worden.... Was mich stört, ist, daß Frauen damit identifiziert werden. Ich sage nicht, daß Carol das in ihrem Buch ausdrücklich tut. Aber mich beunruhigt die Möglichkeit, daß Frauen sich mit einem positiv bewerteten feministischen Stereotyp identifizieren: dem ‘Weiblichen’“ (Buffalo Law Review 1985: 74).
Als David Trend mich zur Mitwirkung am Band „Radical Democracy. Identity Citizenship and the State“ (New York 1996) einlud, der aus einem Symposium über radikale Demokratie hervorging, das in der Socialist Review(Jg. 23. Nr. 3) veröffentlicht worden war, hatte ich eine Fassung dieses Essays schon für andere Gelegenheiten vorbereitet. Beim Durchlesen der Socialist Reviewwar ich jedoch über das Ausmaß überrascht, in dem die Anliegen, die ich in meinem Artikel äußerte, denen glichen, die von anderen Teilnehmerinnen an der Diskussion formuliert wurden. Da es für eine zukünftige Rekonstruktion jeglicher Form von radikaler Demokratie wesentlich ist, sich darüber klarzuwerden, wo wir heute, nach zwei Jahrzehnten des Paradigmenstreites in der US-amerikanischen Linken stehen, ist mein Beitrag eine solche Bestandsaufnahme der theoretischen und politischen Entwicklungen der nordamerikanischen Frauenbewegung in den letzten beiden Jahrzehnten.
Zum ersten Mal wurde dieser Text bei einem Symposium über „Wissenschaft, Vernunft und moderne Demokratie“ vorgetragen, das im November 1993 von der Michigan State University veranstaltet wurde. Er liegt hier in einer gekürzten und überarbeiteten Fassung vor. Eine längere Version wird in einem Band der Cornell University Press über das Symposium „Wissenschaft, Vernunft und moderne Demokratie“ erscheinen. Ich bedanke mich bei der Philosophy of Education Societyfür ihre Einladung, eine Version dieses Artikels als Eröff-nungsrednerin bei ihrer Tagung im April 1994 vorzutragen. Insbesondere bin ich Michael Katz und Nicholas C. Burbules für ihre Kooperation dankbar, die diese Einladung und die Veröffentlichung ermöglicht haben. Einige Personen haben frühere Entwürfe des Artikels gelesen: Ich möchte mich bei Theda Skocpol, Winnie Breines und Michael Ferber für ihre Kommentare und Kritik bedanken. Ich habe auch sehr von den Reaktionen von Nicholas C. Burbules und Barbara Houston profitiert.
Anmerkung der Herausgeberinnen: Der vorliegende Text, der eine für die Übersetzung bearbeitete Version des Textes aus dem von David Trend edierten Band ist, wurde von Seyla Benhabib als politische Intervention in den US-amerikanischen feministischen Diskurs verfaßt. Er enthält aber überaus bedeutsame inhaltliche Positionen, die wir als Herausgeberinnen einem deutschsprachigen Publikum nicht vorenthalten wollten.
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Benhabib, S. (1998). Von der Politik der Identität zum sozialen Feminismus. Ein Plädoyer für die neunziger Jahre. In: Kreisky, E., Sauer, B. (eds) Geschlechterverhältnisse im Kontext politischer Transformation. Politische Vierteljahresschrift Sonderhefte 28/1997, vol 28. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-97083-1_2
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