Zusammenfassung
Das Gegenstück in den Ansätzen zu einer integrierten Vermittlungsstruktur bilden Projekte der Gesellschaft. Hieraus werden die “Neuen Sozialen Bewegungen” als ein Projekt ausgewählt, das am ehesten verspricht, sich mit den Projekten der Wissenschaft auf Basis der Imperative treffen zu können.
“Neue Soziale Bewegungen” sind auf dem Hintergrund der “Kolonialisierung der Lebenswelt” durch die Mechanismen “systemischer Integration” (Habermas) zu erklären. Sie bilden das politische Widerstandspotential einer ausgegrenzten Peripherie gegen das Zentrum in Gestalt eines “Bürokratisch-Industriellen-Komplexes” und werden als konfliktfähige Gruppen zum politischen Ausdruck eines weitreichenden Wertwandels.
Beide Pole unterhalten Konfrontations-, Kooperations- und Integrationsbeziehungen. Aus dieser Anschlußfähigkeit und aus den gegenseitigen Transferprozessen wird ein wirkungsbezogener, funktionaler Begriff von sozialer Bewegung abgeleitet: Soziale Bewegung ist die gesellschaftliche Veränderung, die außerhalb der politischen Institutionen durch konfliktfähige Gruppen herbeigeführt wird.
Im Mittelpunkt steht dann mehr die Übertragungsleistung durch Wandlungs- und Rechtfertigungsdruck, den die “Neuen Sozialen Bewegungen” auf das sozio-politische System ausüben, die jeweilige soziale Bewegung, die sie — betrachtet aus einer Metaperspektive — erzeugen, so wie umgekehrt die konfliktfähigen Gruppen Lern- und Anpassungsprozesse vollziehen.
Mehrere Spielarten von sozialer Bewegung werden an der Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland der 70er Jahre gezeigt:
Die “Neuen Sozialen Bewegungen” haben zum einen in Form von Bürgerinitiativen auf der Mikroebene die politische Kultur des lokalen Raumes herausgefordert und verändert. Dies hat sich als Pluralisierung und stärkere Berücksichtigung plebiszitärer Momente in den institutionellen Entscheidungsprozessen niedergeschlagen. Zum anderen sind in zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen inhaltliche Alternativen sichtbar geworden und haben zu einer umfassenden Modernisierung geführt. Besonders deutlich wird dies in den Möglichkeiten der Übertragung wie auch in den — für die konfliktfähige Gruppe — Gefahren der Instrumentalisierung an der Karriere des Selbsthilfegedankens im Sozialbereich und an den Herausforderungen des ökonomischen Systems durch einen informellen Sektor im Rahmen dualwirtschaftlicher Konzepte.
Bei all diesen Modernisierungsleistungen bleibt in den konfliktfähigen Gruppen immer ein überschießendes Potential nicht übertragungsfähig, das als grundsätzliche unbefriedigte Herausforderung die weitere Dynamik sichert.
Für die Beschreibung und Bewertung der gesellschaftlichen Entwicklung, insbesondere des Projekts Soziale Bewegung, lassen sich die gleichen Dimensionen und Imperative anwenden, wie sie aus dem Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft abgeleitet worden waren. Da die soziale Bewegung immer auch eine Bewegung des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft beinhaltet, können die Imperative auch von Seiten der Gesellschaft — insbesondere aus der Perspektive sozialer Bewegung — als maßgebend für die Vermittlungsstrukturen von Wissenschaft und Gesellschaft angesehen werden. Denn selbst die verzerrte Aneignung der Wissenschaft in den “Neuen Sozialen Bewegungen” führt über die Pluralisierung und über den Zwang zur Begründung zu einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung des Verhältnisses zur Wissenschaft. Die dadurch hervorgerufene soziale Bewegung in Bezug auf Wissenschaft kann daher als ein Integrationsprojekt bezeichnet werden — diesmal schwergewichtig als eines der Gesellschaft.
Von beiden Seiten aus — von Wissenschaft und von Gesellschaft — läßt sich also eine gleiche Richtung einschlagen. In der Befolgung der Imperative stellen für beide Seiten Information und Kommunikation die Hauptressource dar. Die gegenwärtigen Informations- und Kommunikationssysteme jedoch sind durch die Aufgaben überfordert.
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Literatur
Vgl. TOURAINE 1972 (Originalausgabe 1968).
Bis hin zu “Neue Soziale Gestalten” als Vorformen Sozialer Bewegungen: vgl. EVERS 1981, S. 46, 52.
Vgl. HABERMAS 1981a; HABERMAS 1981b. Der Systembegrif f ist im folgenden nicht in der Neutralität einer Beschreibungskategorie gebraucht, sondern - wie noch auszuführen - inhaltlich durch den Kontrast zur Lebenswelt bestimmt.
Damit werden entsprechend andere Theoriestränge einbezogen; vgl. HABERMAS 198la.
Darüberhinaus erbringen alle Vorgänge Leistungen für alle Komponenten (vgl. ebda.).
Der Weg der Modernisierung wird davon bestimmt, wo der Schwerpunkt gelegt wird: Kapitalistische Integration läuft schwergewichtig über das Medium Geld; Gesellschaf ten des “Realen Sozialismus” wandeln sich eher über das Medium der Macht.
Hier setzt sich HABERMAS (1981b, S. 491) von Horkheimer und Adorno ab, die mit ihrer Kritik der instrumentellen Vernunft die Trennung von System und Lebenswelt nicht sahen und die instrumentelle Vernunft als subjektive Größe begriffen (vgl. HORKHEIMER 1947).
TOURAINE (1972) nennt dies die “Universalisierung der Entautonomisierung” als Antwort auf die “Programmierte Gesellschaft”.
Vgl. die differenzierte Einschätzung des emanzipatorischen Potentials in Bezug auf Erziehung (HABERMAS 1981a, S. 566f) und auf Massenmedien (HABERMAS 1981a, S. 571 f f).
Vgl. PROSS 1981; KRECKEL 1982
Vgl. TOURAINE 1982a und unten Kap.5.
HIRSCH 1980; “Modell Deutschland” steht dabei für eine kapitalistische, korporatistisch formierte und wandlungsfähige Industriegesellschaft.
Vgl. vor allem INGLEHART 1977.
In diesen Zusammenhang ist auch die These von der Stellvertreterfunktion der Kernkraftfrage zu stellen (vgl. HÄFELE 1974).
Zum Wechselverhältnis von intrapersonalen, interpersonalen und gesamtgesellschaf tlichen Veränderungen vgl. HEGNER 1981, S. 51, 62, 107f.
Wirkungen sind nicht mit den “selbstgesteckten Zielen” gleichzusetzen (vgl. RAMMSTEDT 1980).
“Soziales System” ist im folgenden nicht mehr in dem zur Lebenswelt komplementären Sinne verstanden, wie er der Referierung der Habermas’schen Position zugrunde lag; genauer zu dem methodischen Ansatz vgl. unten Kap.6.1.
Auch RAMMSTEDT (1977, S. 454) stellt seine Beschreibung sozialer Bewegung ab auf die “Interdependenz zwischen sozialer Bewegung und deren soziale(r) Umwelt.”
RAMMSTEDT (1981a, S. 122) unterscheidet die US-amerikanische Tradition mit ihrem Paradigma des abweichenden Verhaltens und eine europäische Tradition, die eher das Paradigma gesellschaftlichen Wandels zur Grundlage habe. Er selbst definiert “Soziale Bewegung” eher aus einer Binnenperspektive heraus: wie jeweils die Interaktion von Gesellschaft und Gruppierung auf Seiten der Gruppierung verarbeitet wird. Ich werde eher vom Standpunkt der Gesamtgesellschaft her argumentieren.
RAMMSTEDT (1978, S. 170) unterscheidet u.a. Propagierung der Krisenfolgen, Artikulation des Protests, Ausbreitung, Organisation und Institutionalisierung.
Um eben diesem Mythos in seiner Charakterisierung der “NSB” aufzusitzen; vgl. VESTER 1981 (er bezieht sich vor allem auf E. Thompson).
Vgl. ROESSLER 1975 und unten Kap.10.2.1.; ich verdanke diesen Literaturhinweis N. Luhmann.
Bezogen auf seine (binnenperspektivische) Definition der “Sozialen Bewegung” hat RAMMSTEDT (1981a, S. 124) das gleiche Problem gesehen: Der Prozeß der sozialen Bewegung sei den Teilnehmern kaum bewußt. Denn wäre die Gesetzmäßigkeit des Prozesses bekannt, so wäre die Bewegung der Bewegung gefährdet.
Bei RAMMSTEDT (1980) ist dies die Phase der Ideologisierung.
Dies setzt sich in schon fast mystischen Formulierungen fort: So behauptet z.B. CHURCHMANN (1973, S. 156), es gebe einen “entscheidenden Aspekt der Politik, den niemand ‘kennt’, die Weltanschauung des betreffenden Gesamtsystems.” (“Weltananschauung” im Original deutsch).
Vgl. OFFE 1972, S. 27ff; SHELL 1981.
Ausführlich in: VOWE 1983a, S. 196ff; vgl. auch EBERT 1980; MAYER-TASCH 1976; BÜRGERINITIATIVEN 1980; OFFE 1982; HUBER 1982b
Dies ist ausführlicher dargestellt in: VOWE 1983a, S. 200ff. Zum Begriff der Politischen Kultur vgl. ALMOND 1963; 1977. Mittlerweile sind ausgeweitete Konzepte in Sicht, die das institutionelle Gerüst, die Entscheidungsabläufe, den Spielraum von Politikern und die Formen der Machtteilung einbeziehen (vgl. MAYNTZ 1982a, S. 11; dort sind diesbezügliche unveröffentlichte Arbeiten zitiert.) Ich lege dem Systementwurf ebenfalls einen über Almond hinausgehenden Begriff der Politischen Kultur zugrunde. Zu Bürgerinitiativen und zur Partizipationsdiskussion vgl. OFFE 1970; OFFE 1972; PANKOKE 1972; MAYER-TASCH 1976; ALEMANN 1977; ANDRITZKY 1977; ELLWEIN 1978; GABRIEL 1978; JÄGER 1978; KÖSER 1978; STEFFANI 1978; THAYSEN 1978; ZILLESSEN 1978; GUGGENBERGER 1980; HEGNER 1980; RAMMSTEDT 1980; SCHILLER 1982.
Vgl. ALEMANN 1977, S. 277; DIENEL 1978
S. unten Baustein 10 “Erfahrungen aus der Stadtplanung” (Kap. 9.2.3.).
Fast alle diese Momente sind bei NASCHOLD (1971, S. 92) bereits angeführt und diskutiert.
Vgl. die Zwischenbilanz in PROBLEME 1982
S. auch NELKIN 1977, S.16.
Vgl. NEUSÜSS 1980; vgl. SENATOR 1982; KONFRONTATION 1982.
Vgl. ULLRICH 1980, S. 45; JANICKE 1979.
Zur Statistik und zu den Prinzipien alternativer Projekte vgl. die mittlerweile reichhaltige Literatur, insbes. HUBER 1981; vgl. auch HUBER 1982b; GORZ 1980.
Beispiele für Ubertragungen gibt Dierkes in ÖKONOMIE 1980, S. 71. Zur Arbeitsorganisation: KERN 1982.
KLAGES 1982; KERN (1982) haben auf die Funktionalisierbarkeit einer solchen Disponibilitätsthese hingewiesen.
Vgl. auch die Sammelrezension zu alternativen Lebensformen CLAUSEN 1980.
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Vowe, G. (1984). Integrationsprojekte der Gesellschaft. In: Information und Kommunikation. Studien zur Sozialwissenschaft, vol 57. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-88134-2_4
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