Die Entwicklung der empirischen Bildungsforschung in Deutschland seit den 1990er-Jahren ist zunächst als eine Erfolgsgeschichte zu beschreiben. Es hat in diesen Jahren einen beeindruckenden quantitativen wie qualitativen Ausbau gegeben, der zu vielfältigen und auch international anerkannten Forschungsleistungen geführt hat. Dies lässt sich nicht nur an den internationalen „Large Scale Assessment“-Studien (LSA) wie PISA oder PIRLS festmachen, sondern inzwischen auch an einer differenzierten Unterrichtsforschung, an Projekten der Professionsforschung und an vielfältigen Studien zur Bildungsungleichheit – um nur einige thematische Beispiele zu nennen. Etliche Spielarten dieser Forschung haben in den letzten Jahren eine besonders hohe öffentliche Aufmerksamkeit gewonnen. Mit diesen Erfolgen in der Forschung war (und ist) ein beeindruckender institutioneller Ausbau verbunden: Die Zahl der Professuren an deutschen Hochschulen, die im Schwerpunkt empirische Bildungsforschung betreiben, ist inzwischen auf mehr als 100 gestiegen (vgl. Drewek 2014). Und Forschungszentren insbesondere in Bamberg, Berlin, Dortmund, Duisburg-Essen, Frankfurt/M., Halle, Kiel, München und Tübingen haben durch diesen Ausbau eine nationale oder gar internationale Bedeutung gewonnen. Koordinierte Programme der DFG und das Rahmenprogramm zur Förderung der empirischen Bildungsforschung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) boten den forschenden Akteuren sehr gute kompetitive Finanzierungsmöglichkeiten für Projekte. Die neu gegründete „Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung“ (GEFB) passt in dieses Bild einer selbstbewussten Expansion einer neu definierten Forschungsrichtung. Dies lässt sich in jüngeren Bilanzierungen detail- und materialreich nachlesen (vgl. z. B. Drewek 2014; Köller 2014).

Diese Expansion wird im erziehungswissenschaftlichen Feld aber nicht nur begrüßt, sondern von kritischen Stimmen in vielfältiger Weise begleitet: Eine grundsätzliche Ablehnung empirischer Herangehensweisen im pädagogischen Feld findet sich dabei genauso wie eine schulpädagogische Kritik an der Dominanz fachlicher Leistungstests bei den LSA-Studien. Und auch die Frage nach der Verschiebung von Stellen und sonstigen Ressourcen – etwa von der Didaktik hin zur Empirischen Bildungsforschung – wird kritisch gestellt. Neben einigen polemischen Attacken gibt es eine Reihe von ernsthaften Beiträgen, die sich mit den Konzepten der empirischen Bildungsforschung auseinandersetzen und insbesondere die theoretischen Grundlagen und die Zielsetzungen der LSA hinterfragen. Die Kritik aus dem erziehungswissenschaftlichen Feld stellt nicht nur die Leistungserwartungen und Leistungsversprechen der LSA infrage, sondern macht auch auf mögliche Probleme eines theoretischen und methodischen Reduktionismus aufmerksam, der mit einer vornehmlich technisch-instrumentell verstandenen Bildungsforschung verbunden sei. Und schließlich wird auch nicht selten der Vorwurf einer affirmativen Orientierung gegenüber politischen Erwartungen formuliert. Hinzu kommt eine disziplinpolitische Diskussion innerhalb der Erziehungswissenschaft über einen vermeintlichen Monopolanspruch der empirischen Bildungsforschung und über die Aufkündigung theoretischer und methodischer Pluralität.

Ungewöhnlich an dieser wissenschaftstheoretischen und wissenschaftspolitischen Kritik ist weder die Tatsache, dass sie – als Reaktion auf eine neue Entwicklung – aufgekommen ist, noch, dass sie z. T auch scharf und zugespitzt geführt wird. Ungewöhnlich ist eher der Verlauf der Auseinandersetzung (vgl. hierzu den Beitrag von Tillmann in diesem Heft): Während die erziehungswissenschaftlichen Kritiker der empirischen Bildungsforschung (von Benner 2002 über Gruschka 2006 bis Brügelmann 2015) ihre Positionen in einer Vielzahl von Büchern und Aufsätzen formuliert haben, hat es bisher bei den Akteuren der empirischen Bildungsforschung nur eine eher verhaltene Reaktion auf diese Kritik gegeben. Nur in wenigen Fällen (so etwa durch Baumert 2007 und Baumert et al. 2009 sowie Klieme 2011) wurde die Kritik unmittelbar aufgenommen, um in wissenschaftlichen Publikationsorganen Entgegnungen zu formulieren. Weil die meisten Kritiken allenfalls sehr knapp beantwortet wurden, konnte sich ein „klassischer“ wissenschaftlicher Disput bisher nicht so recht entfalten. Dies lag auch daran, dass viele Akteure der empirischen Bildungsforschung den Eindruck hatten, dass die wissenschaftstheoretischen Positionen einiger ihrer Kritiker keiner wissenschaftlichen Kritik zugänglich seien (vgl. Tenorth in diesem Band) und es bei manchen Kritikern an Anstrengung fehle, divergierende Geltungsbehauptungen – wie es in forschenden Disziplinen üblich ist – durch eigene Forschung zu belegen.

Jedenfalls: Wechselseitige Vorbehalte statt eines wissenschaftlichen Disputs bestimmten über viele Jahre das Bild. Im Herausgeberkreis der Zeitschrift für Erziehungswissenschaft (ZfE) entstand 2014 die Idee, diesen Zustand zu ändern – und die Kontrahenten in einen wissenschaftlichen Diskurs über die Kritik an der empirischen Bildungsforschung, aber auch über die bisherigen Leistungen dieses Forschungszweigs, zu bringen. Als Instrument dazu wurde ein zweitägiges wissenschaftliches Kolloquium gewählt: das ZfE-Forum, das am 5. und 6. Dezember 2014 an der Universität Hamburg stattfand. Daran nahmen etwa 70 Bildungsforscher/innen und Erziehungswissenschaftler/innen teil, bekannte Akteure der Bildungsforschung genauso wie die kritischen Beobachter/innen dieses Ansatzes. In insgesamt 14 Referaten wurden in einer Pro- und Contra-Struktur sowohl die Leistungen der empirischen Bildungsforschung beleuchtet als auch – aus der Sicht der Kritiker – auf deren Schwächen und Kurzschlüssigkeiten aufmerksam gemacht. In der Diskussion prallten die unterschiedlichen Sichtweisen gelegentlich hart aufeinander, ein Konsens konnte nur selten erzielt werden. Doch erreicht wurde, dass die verschiedenen Positionen ernsthaft ausgetauscht wurden und dass die beiden Seiten sich dabei argumentativ aufeinander bezogen. Dies kann – so die Einschätzung der beiden Herausgeber – durchaus als eine neue Qualität in dieser Debatte angesehen werden.

Das vorliegende Sonderheft der ZfE präsentiert vor allem die (überarbeiteten und erweiterten) Vorträge, die auf diesem ZfE-Forum gehalten wurden. Die Gliederung in vier Themenfelder und die Präsentation jeweils kontroverser Beiträge entspricht im Wesentlichen dem Verlauf des Kolloquiums. Sie werden gerahmt durch die Beiträge der beiden Herausgeber: Tillmann versucht zu Beginn eine Systematisierung der bisherigen Kritik, aus der die thematische Gliederung des Symposions (und dieses Heftes) gewonnen wurde. Und Baumert beleuchtet zum Schluss die Leistungen und Erfolge der empirischen Bildungsforschung (am Beispiel der LSA), um auf diese Weise zu etlichen kritischen Positionen Stellung zu beziehen.

Die Herausgeber bedanken sich bei allen Akteuren, die die Durchführung des ZfE-Forums und die das Erscheinen dieses Heftes möglich gemacht habe: Das sind zunächst die Autoren/innen dieses Heftes, die zuvor meist auch als Referenten/-innen auf dem ZfE-Forum aufgetreten sind. Unser Dank gilt aber auch dem Herausgeberkreis der ZfE, der unsere Aktivitäten – insbesondere die Durchführung des Forums – zuverlässig unterstützt hat. Und unser Dank gilt dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, das sich an der Finanzierung des Forums beteiligt hat.