Die Interpretation lässt verschiedene Möglichkeiten zu: Meinungsumfragen zeigen, dass erstmals seit Jahrzehnten viele Menschen nicht mehr wünschen, dass die Nachkommen es einmal besser haben sollen als sie selbst, sondern dass es ihnen nicht schlechter gehen soll. Nach langen Jahren des einmal mehr, einmal weniger, aber immer noch klaren Wachstums, haben also unterschiedliche Faktoren in unserer vernetzten Welt für Unsicherheit und eingebremste Hoffnungen für die Zukunft gesorgt. Das wäre eine vorsichtige Interpretation des Ergebnisses. Zukunftsangst gründet freilich nicht immer auf objektiven Gegebenheiten.

Materiell ist es sehr vielen Menschen in Europa und speziell in Österreich noch nie so gut gegangen. Der Ausgangswert ist also hoch, aber es könnte natürlich immer noch ein bisschen besser gehen. Ein zweites (oder drittes?) Auto, eine größere Wohnung, eine größere Stereo-, Heimkino-, Computer- oder Hightech-Multimediaanlage, noch ein paar Schuhe, eine Markenuhr, schöne Reisen …. Das Angebot ist unerschöpflich und weckt viele Wünsche. Bisweilen führt dies zu einem wahren Wettbewerb – zwischen Nachbarn, Kollegen, im Freundeskreis. Dann geht es weniger um den Genuss des neuerworbenen Objekts, sondern schlicht darum, mehr zu haben. Ein Effekt übrigens, der sich in ähnlicher Weise auch im Gesundheitssystem und im universitären Bereich beobachten lässt – und zu recht skurrilen Situationen führt. Vor die Situation gestellt, dass zwei Abteilungen für Forschungsprojekte je fünf Millionen Euro bekommen, wenn sich beide gemeinsam bewerben, oder eine Abteilung einen Bruchteil davon erhält, die andere Abteilung dagegen gar nichts, fällt aus dem Urinstikt des Konkurrenzkampfes gerne die Wahl auf Variante 2. Der Charme der Ungleichheit, des Besserseins als der Andere, des Mehrhabens, scheint eine starke Anziehungskraft zu haben.

Es geht uns bereits sehr gut

Man könnte freilich auch vermuten, dass wir erkannt haben: Es geht uns bereits sehr gut. Deshalb soll es unseren Kindern auch so gut gehen. Nicht besser – denn das wäre „eigentlich“ vermessen. So könnten auch Platz und Mittel sein für den Ausgleich von Ungleichheiten und für gemeinsamen Wohlstand ohne Angst und Unsicherheit. Denn auch das ist Realität: Die Ungleichheit zwischen den sehr Reichen und den Menschen am unteren Ende der Einkommensskala ist überproportional gewachsen. Das tut der gesamten Gesellschaft nicht gut. Nicht „blauäugige Träumer“, sondern eine OECD-Studie aus dem Jahr 2015 hat gezeigt, dass diese wachsende Ungleichheit nicht nur ungerecht ist, sondern auch der Wirtschaft schadet, weniger Ungleichheit nützt uns allen – zumindest also einmal in wirtschaftlicher Hinsicht. Weniger Ungleichheit eröffnet aber auch größere Chancen im Bereich der Bildung und Ausbildung für mehr Menschen, nützt das Potential von jungen Menschen, die andernfalls ohne Ausbildung vielleicht arbeitslos sind und von Sozialleistungen leben müssen. Bildung, sinnvolle Tätigkeit, kreative Betätigung fördern dagegen die Zufriedenheit und festigen damit auch die gesamte Gesellschaft.

Kein neues Dogma

Das rein materielle Wachstum wird sich vermutlich auf Dauer nicht aufrechterhalten lassen. Aber der Beginn für eine Umkehr ist schwierig und läuft auch wieder Gefahr zum neuen Dogma zu werden. Aber spannend ist es schon, wenn Konzepte vorgestellt werden, die eine Abkehr vom Wachstum vertreten mit dem Aufbau von autonomen, sparsamen, solidarischen Gesellschaften, wie das der französische Ökonom und Philosoph Serge Latouche tut. Zumindest darüber nachdenken, wäre schon ein wichtiger Schritt

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V. Kienast