In der Medizinethik werden zunehmend empirische Studien durchgeführt. Den methodischen und praktischen Herausforderungen empirisch-ethischer Untersuchungen widmete sich der Workshop „Empirisch Forschen in der Medizinethik“, der in Kooperation mit der Akademie für Ethik in der Medizin am 27. und 28. November 2019 am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin in Halle stattfand. Der Workshop richtete sich an Nachwuchswissenschaftler*innen und wurde von Dr. Katja Kühlmeyer (Ludwig-Maximilians-Universität München), Dr. Marcel Mertz (Medizinische Hochschule Hannover) und Prof. Dr. Jan Schildmann (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) organisiert. Inhaltlich standen neben der Vermittlung von theoretischen und methodologischen Grundlagen der empirisch-medizinethischen Forschung vor allem der interdisziplinäre Austausch der zwölf teilnehmenden Doktorand*innen und PostDocs mit einem Hintergrund in Philosophie, Medizin, Geschichte sowie Politik‑, Literatur- und Religionswissenschaft im Vordergrund.

Zu Beginn charakterisierte Jan Schildmann den Empirical Turn in der Medizinethik und benannte dessen Chancen und Herausforderungen. Während der Medizinethik häufig vorgeworfen werde, sie sei zu praxisfern, zu allgemein und zu abstrakt, müsse sich die empirische Forschung in der Medizinethik fragen lassen, auf welchem Wege sie über eine Beschreibung der Praxis hinausgehe und welchen Beitrag sie zu dem normativ-ethischen Diskurs leiste. Sicherzustellen sei dabei neben der hierfür notwendigen Fachexpertise verschiedener Disziplinen auch die Entwicklung inter- und transdisziplinärer methodischer Ansätze und die Verständigung über Beispiele für eine gute Praxis.

Wofür kann man empirische Forschung in der Medizinethik nutzen und wofür nicht? Mit dieser an das Plenum gerichteten Frage startete Marcel Mertz seinen Vortrag über die Typen der Verwendung empirischer Forschung in der Medizinethik. Die Antworten der Teilnehmenden zeigten dabei eine Vielzahl von Einsatzmöglichkeiten auf. Divergierende Positionen wurden z. B. in Bezug auf das Verhältnis von Empirie und Ethik deutlich. Im weiteren Verlauf rückte Mertz zwei Typologisierungsansätze aus der aktuellen Forschungsliteratur in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Anschließend konnten die Teilnehmenden die Verortung ihrer derzeitigen Forschungsvorhaben innerhalb dieser Typologien erproben. Dabei wurde deutlich, dass die sehr heterogenen Forschungsprojekte häufig dem gleichen Klassifikationsschema zugeordnet wurden, nämlich der Deskription eines vorherrschenden Ist-Zustandes. Diskutiert wurde die Frage, ob dies einer spezifischen medizinethischen Forschung entspreche oder nicht doch „nur“ empirische Forschung mit medizinethischen Fragestellungen sei. Die Übung war nicht nur der Verständigung der Teilnehmenden untereinander zuträglich, sondern half gleichzeitig auch bei der Reflexion eigener Ansätze.

Mit ihrem Vortrag Methoden empirischer Sozial- und Humanforschung und ihre Anwendung in der Medizinethik gab Katja Kühlmeyer einen Einblick in Grundlagen empirisch-sozialwissenschaftlicher Forschungsmethoden. Dabei konzentrierte sie sich auf die in der medizinethischen Forschung am häufigsten verwendete qualitative Methode des Interviews und die in der quantitativen Forschung häufig präferierte Methode der Umfrage mit einem strukturierten Fragebogen. Kühlmeyer verdeutlichte sehr anschaulich die Fallstricke und Limitationen, die beiden Methoden zugrunde liegen, wie etwa Verzerrungen in der Erhebung von Daten und Perspektivendifferenzen in der intersubjektiven Beschreibung von Sachverhalten, soziale Erwünschtheit von Antworten, Interventionseffekte von Erhebungsinstrumenten oder Grenzen der Generalisierbarkeit von Ergebnissen. Zugleich stellte sie fest, dass in der empirisch-medizinethischen Forschung mitunter auf sozialwissenschaftliche Methoden zurückgegriffen werde, ohne die hierfür bereits bestehenden wissenschaftlichen Standards zu berücksichtigen.

Einblicke in ihre laufenden Forschungsarbeiten gewährten Ines Pietschmann/Hannover (Warum werden Alternativmethoden (nicht) genutzt? Struktur von ethisch relevanten Werturteilen bei Entscheidungen für oder gegen Tierversuchsalternativen), Philipp Karschuck/Dresden (Chancen und Risiken von digitalen Entscheidungshilfen in der Arzt-Patienten Beziehung) und Lorina Buhr/Göttingen (Einstellungen, Erwartungen und Erfahrungen von Patient*innen gegenüber digitaler Selbstvermessung und mobiler Datenerhebung in der medizinischen Forschung und Versorgung) in so genannten Forschungswerkstätten, in denen Gruppe und Dozierende den Referierenden Feedback und Tipps für die weitere Forschung mit auf den Weg gaben.

Die Verknüpfung von Theorie und Anwendung der durch hochengagierte Referenten vermittelten komplexen Inhalte sowie Diskussionen und Networking wurden am Ende positiv hervorgehoben. Von den Teilnehmenden wurde weiterhin der Wunsch nach mehr Zeit für die Vertiefung geäußert. Die zweite Auflage des Workshops ist für November 2020 geplant.