Das EKG übt seit über 100 Jahren eine enorme Faszination aus: Als einfaches nichtinvasives Diagnostikum ist es im medizinischen Alltag ubiquitär jederzeit verfügbar und kann innerhalb von wenigen Minuten eine Aussage über kardiale Vorerkrankungen, Myokardischämie oder Arrhythmie liefern. Entscheidungen in Therapiealgorithmen, etwa zur Behandlung des akuten Koronarsyndroms (Unterscheidung zwischen STEMI und NSTEMI), der Synkope, des plötzlichen Herztods inkl. Defibrillation und Reanimation, der Indikation zum Herzschrittmacher und sowie der Katheterablation basieren zentral auf dem EKG, welches damit das tägliche Handeln in der Kardiologie maßgeblich bestimmt. Daneben erfordert die Entscheidung, ob und wie eine elektive Operation (in praktisch jedem Fach) durchgeführt werden kann, immer ein EKG. Der Alltag ohne EKG und EKG-Monitoring ist nicht nur in der Kardiologie, sondern auch in den meisten anderen medizinischen Fächern praktisch unvorstellbar.

Darüber hinaus fasziniert das EKG noch auf eine besondere Art: Es gleicht einer speziellen Schrift, deren Kenntnis dem Leser kompakt in wenigen Zeichen multiple Informationen vermittelt. Diese sind besonders interessant, weil sie unmittelbar den Schlüssel zum Verständnis einer Symptomatik oder Erkrankung liefern können.

Sicherlich teilen Kollegen meine Erfahrung, dass eine der befriedigendsten und unterhaltsamsten Tätigkeiten in der Kardiologie darin besteht, mit Assistenten und PJ-Studenten einen Stapel EKGs durchzugehen (Neuaufnahmen, stationäre Tages-EKGs oder präoperative EKGs), die auf den ersten Blick nach langweiliger Routine aussehen mögen, bei kenntnisreicher Analyse aber plötzlich reihenweise spannende Details liefern: Ist die Dyspnoe bei P-dextroatriale verbunden mit SIQIII-Typ und Sinustachykardie vielleicht durch eine Lungenembolie verursacht? Hat der Patient mit der Kardioversion von atypischem Vorhofflattern von gestern bei breitem, triphasischem P vielleicht einen Bachmann-Bündel-Block? Ist die junge Patientin mit starken Thoraxschmerzen vielleicht doch nicht psychisch überlagert, sondern hat bei PQ-Senkung in II eine saftige Perikarditis? Auch ganz basale Fragen (Ist diese ST-Senkung in V4 eigentlich durch den Rechtsschenkelblock zu erklären? Ist das ein inkompletter Rechtsschenkelblock oder ein Brugada-Syndrom? Wie kann ein Schrittmacher mit Linksschenkelblock-Morphologie stimulieren und trotzdem in I einen negativen QRS hervorrufen?) können den Interessierten fesseln und aus einer öden Routinearbeit plötzlich ein spannendes detektivisches Kleinkunstwerk machen.

Aus vielen Jahren Kardiologie bleiben mir Visiten, bei denen ausreichend Zeit für einen Rückzug ins Arztzimmer bestand, wo bei einer Tasse Kaffee zusammen mit interessierten Youngsters EKGs durchgeschaut wurden, als besondere Highlights im Gedächtnis. Umgekehrt erinnern sich Assistenten nicht selten daran, dass ein guter EKG-Kurs einer der Höhepunkte des Studiums darstellte und die Entscheidung zur Kardiologie mit beeinflusst hat.

Zudem fasziniert das EKG dadurch, dass es auch nach 100 Jahren noch Neues zu entdecken gibt. Als Stichworte seien das Brugada-Syndrom, „early repolarization“, das EKG beim Sportler und die verschiedenen Kriterien des Linksschenkelblocks im Kontext mit der Indikation zur kardialen Resynchronisationstherapie genannt. Auch 2015 gibt es bei genauerem Hinsehen immer noch neue EKG-Diagnosen und -Indices zu entdecken – vielleicht mehr als vor 20 Jahren, weil wir durch intrakardiales 3D-Mapping und Magnetresonanztomographie heute vieles, das aus dem EKG nur postuliert und manchmal spekuliert werden konnte, tatsächlich sichtbar machen und beweisen können. Schließlich bleibt das EKG spannend durch all das, was wir nicht genau wissen und nicht ganz erklären können, von der PP-Intervall-Verkürzung beim SA-Block II° über das ventrikulophasische Phänomen beim 2:1-AV-Block bis zum elektrischen Alternans bei supraventrikulärer Tachykardie.

Nicht zufällig trägt eine viel beachtete Sitzung auf dem Europace-Kongress im Juni 2015 den Titel „Who said there’s nothing new in the 12 lead ECG?“ mit Beiträgen zum EKG bei der arrhythmogenen rechtsventrikulären Kardiomyopathie/Dysplasie, bei Sportlern, zum fragmentierten QRS als Risikomarker für ventrikuläre Tachyarrhythmien und zur Ableitung aVR.

In der vorliegenden Ausgabe von Herzschrittmachertherapie + Elektrophysiologie haben wir einige der Themen zusammengetragen, die bei der Analyse des EKGs von Interesse sein können: die Analyse von Bradykardien und der P-Wellen-Morphologie, das EKG bei supraventrikulären Tachykardien, speziell bei verschiedenen Formen des Vorhofflatterns, Breitkomplex-Tachykardien und die Differenzierung der Ursprungslokalisation von Tachykardien aus dem rechts- oder linksventrikulären Ausflusstrakt. Abgerundet wird diese Ausgabe durch neue, komplexe bzw. spezielle EKG-Besonderheiten in den Beiträgen zum fragmentierten QRS-Komplex, zum EKG bei Tako-Tsubo-Kardiomyopathie und Brugada-Syndrom sowie zum EKG bei Patienten mit Herzschrittmacher und bei Sportlern. Alle Beiträge legen einen Schwerpunkt auf EKGs und Bildmaterial zur Erklärung und Illustration, leicht verständliche Texte und Tabellen in Form von „Checklisten“, die versuchen, wesentliche Punkte herauszuarbeiten, damit auch spezielle, komplexe Besonderheiten von EKGs im Alltag leichter zu behalten und nachfolgend zu erkennen sind. Für die exzellenten Beiträge und fantastischen EKGs möchte ich mich an dieser Stelle bei allen Autoren herzlich bedanken.

Ich wünsche allen Lesern eine spannende Lektüre und viel Spaß bei der Durchsicht der täglichen EKGs, die nach dem Lesen dieser Ausgabe von Herzschrittmachertherapie + Elektrophysiologie vielleicht nicht mehr so sein wird wie zuvor. Möge jeder Leser dieses beglückende Gefühl, als habe man einen Schatz gefunden, kennen oder kennenlernen, wenn er/sie die Inhalte dieser Lektüre unverwandt im ehemals drögen Alltags-EKG wiederfindet.

Ihr

Carsten W. Israel

figure a