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Neonatizid als mögliche Folge einer negierten Schwangerschaft

Psychische Dynamik und Schuldfähigkeitsbeurteilung

Neonaticide and its association with denial of pregnancy

Psychodynamics and criminal responsibility

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Zusammenfassung

Neonatizide (Tötung eines Neugeborenen innerhalb der ersten 24 h) werden am ehesten von Frauen begangen, die eine erhebliche Persönlichkeitsproblematik aufweisen, ohne dass die Kriterien einer krankheitswertigen Persönlichkeitsstörung erfüllt sind. Diese Frauen können bei ungewünschter Schwangerschaft keine üblichen Lösungswege einschlagen und Hilfsangebote annehmen. Die Schwangerschaft wird oft noch im 1. Trimenon bemerkt, sodass ein Abbruch möglich wäre. Der Prozess einer „gesunden“ Auseinandersetzung mit der ungewollten Schwangerschaft wird an irgendeiner Stelle unterbrochen; dies bedingt das Ausmaß der Negierung der Schwangerschaft. Kommt es dann mehr oder weniger unerwartet zur Geburt, kann im Rahmen einer Stress- oder Panikreaktion bzw. aus Angst vor Entdeckung die aktive Tötung des Kindes erfolgen. In anderen Fällen verstirbt das Neugeborene durch Nichtversorgung. Daraus folgt nicht automatisch die Feststellung einer verminderten Schuldfähigkeit im Sinne der §§ 20/21 StGB.

Abstract

Neonaticide (killing of a newborn within the first 24 h) is most often committed by women with significant personality problems, but without meeting the medical criteria of a personality disorder. Facing an unwanted pregnancy these women are not capable of adequate decision-making and coping strategies. Frequently, the women are aware of their pregnancy in the first trimester, which means that having an abortion would be possible. In contrast to a regular decision-making process regarding unwanted pregnancy, denial of pregnancy disrupts this process at various stages based on the degree of denial. Unassisted delivery following denied pregnancy can lead to acute stress and anxiety, fear of being discovered and thus the killing of the newborn. In other cases, the newborn dies due to lack of care. Criminal responsibility according to §§ 20/21 StGB of the German law has to be assessed in each case, as neonaticide does not automatically lead to diminished criminal responsibility.

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Abb. 1
Abb. 2

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Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to A. Rohde.

Ethics declarations

Interessenkonflikt

V. Dorsch, N. Jelden und A. Rohde geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.

Additional information

Redaktion

B. Madea, Bonn

CME-Fragebogen

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Was trifft zum Thema Neonatizid nicht zu?

Neonatizid ist die Tötung eines Neugeborenen innerhalb von 24 Stunden nach der Geburt.

Ein Neonatizid liegt nicht vor, wenn das Kind nach heimlicher Geburt durch unterlassene Versorgung zu Tode gekommen ist.

Neonatizide werden überwiegend von Müttern begangen.

Neonatizide stellen den größten Anteil unter den Tötungsdelikten an Kindern.

Ein Neonatizid ist die schwerste Komplikation einer negierten Schwangerschaft.

Auf wie viele Geburten fällt ein Neonatizid in Deutschland nach einer auf der bis 1998 ausgewiesenen Kriminalstatistik basierenden Schätzung?

250 Geburten

2500 Geburten

25.000 Geburten

250.000 Geburten

2.500.000 Geburten

Welche Formen kann eine negierte Schwangerschaft haben?

Die Gravidität wird zunächst bemerkt, im weiteren Verlauf jedoch verdrängt.

Die Gravidität wird zu spät wahrgenommen, danach aktive Täuschung der Umwelt.

Die Gravidität wird wissentlich festgestellt, aber die gesamte Zeit ignoriert.

Die Gravidität wird überhaupt nicht erfasst, dabei erfolgt eine Fehldeutung der Symptome.

Die Gravidität ist nur eingebildet, selbst wenn Schwangerschaftszeichen auftreten.

Bei negierten Schwangerschaften kann die Gravidität sogar bis zur Geburt unbemerkt bleiben. Wie hoch ist die Rate solcher Ereignisse?

Eine von etwa 40 Schwangerschaften

Eine von etwa 475 Schwangerschaften

Eine von etwa 1600 Schwangerschaften

Eine von etwa 2455 Schwangerschaften

Eine von etwa 25.000 Schwangerschaften

Was trifft für die Gruppe der Neonatizid-Täterinnen nicht zu:

Es handelt sich um Frauen jeden gebärfähigen Alters.

Es handelt sich nur um Erstgebärende.

Die Frauen leben überwiegend in fester Partnerschaft.

Es finden sich keine besonderen sozioökonomischen Auffälligkeiten.

Die Frauen sind in der Regel über Maßnahmen der Kontrazeption informiert.

Welche Aussage hinsichtlich der Auffälligkeiten in der Persönlichkeit von Neonatizid-Täterinnen ist falsch?

Typischerweise sind die Kriterien einer manifesten Persönlichkeitsstörung erfüllt.

Es finden sich Defizite im Kommunikationsverhalten.

Es zeigen sich mangelende Bewältigungsstrategien.

Es finden sich Defizite in der Emotions- und Problemkommunikation.

Es finden sich Persönlichkeitsdefizite, die eine Schwangerschaftsnegierung begünstigen.

Für die forensisch-psychiatrische Begutachtung von Neonatizid-Täterinnen gilt nicht: Die forensisch-psychiatrische Begutachtung…

soll dabei helfen, die strafrechtliche Verantwortung der Täterin zu beurteilen.

folgt den üblichen Richtlinien der Schuldfähigkeitsbeurteilung.

trifft Aussagen sowohl zur Einsichts- als auch zur Steuerungsfähigkeit der Täterin in der akuten Situation.

führt im Einzelfall auch zur Feststellung einer eingeschränkten Schuldfähigkeit.

einer Neonatizid-Täterin führt in der Regel zur Feststellung einer „anderen schweren seelischen Abartigkeit“ und damit nach § 20 StGB zur verminderten Schuldfähigkeit.

Die 23-jährige Frau Z bemerkt in der 10. Schwangerschaftswoche, dass ihre Periode ausbleibt. Ein Test aus der Apotheke bestätigt ihr das Vorliegen einer Schwangerschaft. In den folgenden Monaten schiebt sie das Wissen um die Schwangerschaft immer wieder bewusst beiseite, vermeidet eine Auseinandersetzung damit. Wenn sie auf die Wölbung ihres Bauches angesprochen wird, führt sie dies darauf zurück, dass sie zu viel gegessen habe. Von ihrer Mutter konkret auf eine Schwangerschaft angesprochen, verneint sie, dass sie schwanger sei. Was trifft für den Fall von Frau Z zu?

Die Falldarstellung ist untypisch, da Frauen nach einem positiven Schwangerschaftstest aus der Apotheke keine negierte Schwangerschaft mehr entwickeln können.

Die Falldarstellung ist ganz typisch für eine nichtwahrgenommene Schwangerschaft, da dabei körperliche Veränderungen von der Betroffenen überhaupt nicht wahrgenommen werden.

Die Falldarstellung weist auf eine Mischform aus ignorierter und verheimlichter Schwangerschaft hin, d. h., das Wissen um die Schwangerschaft wird beiseitegeschoben, später die Umwelt aktiv getäuscht.

Die Falldarstellung ist untypisch, da auch von der Familie, Freunden und Arbeitskollegen üblicherweise Anzeichen für eine Schwangerschaft überhaupt nicht wahrgenommen werden.

Die Falldarstellung weist zweifelsfrei auf eine schwere psychische Erkrankung (Psychose) bei Frau Z hin, die u. a. zu einer Realitätsverkennung und Wahrnehmungstäuschung führt.

Warum sind Alternativen wie anonyme/vertrauliche Geburt und Babyklappe in der Prävention von Neonatiziden bei einer negierten Schwangerschaft nicht hilfreich?

Es fehlen immer noch flächendeckende Hilfsangebote und Beratungsstellen.

Es fehlen die innerliche Überzeugung und die Akzeptanz solcher Alternativangebote.

Es fehlen die intellektuellen Fähigkeiten, sich über solche Angebote zu informieren.

Aufgrund ihrer Persönlichkeitsdefizite können Frauen mit negierter Schwangerschaft solche Angebote nicht wahrnehmen.

Es fehlen Selbsthilfegruppen und Chatrooms mit gleichermaßen betroffenen Frauen.

Für die Neugeborenentötung trifft nicht zu:

Sie resultiert aus einem Zusammenspiel verschiedener Faktoren, die eine Negierung der Schwangerschaft begünstigen.

Situative Faktoren spielen ebenfalls eine Rolle, z. B. kann die zufällige Entdeckung der Schwangerschaft einen Neonatizid verhindern.

In einer Stress- und Panikreaktion kann es nach einer unbegleiteten Geburt zur unmittelbaren Tötung des Neugeborenen kommen.

Neonatizide kommen in allen sozialen Bezügen und in jedem Bildungsniveau vor.

Die Umstände einer Geburt ohne medizinische Begleitung stellen nach BGH-Urteil eine so erhebliche Belastung dar, dass per se von einer Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit gemäß § 20/21 StGB auszugehen ist.

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Dorsch, V., Jelden, N. & Rohde, A. Neonatizid als mögliche Folge einer negierten Schwangerschaft. Rechtsmedizin 27, 295–307 (2017). https://doi.org/10.1007/s00194-017-0166-x

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