Nachdem bereits die Hefte 06/2010 und 01/2011 der Zeitschrift Rechtsmedizin dem Leitthema „Forensische Altersdiagnostik“ gewidmet waren [4, 5], haben nunmehr 2 weitere Hefte diesen viel diskutierten und mit diversen neuen Forschungsansätzen verfolgten Themenkomplex als Schwerpunkt. In den Beiträgen der vorliegenden Ausgabe werden einerseits neue Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der forensischen Altersdiagnostik vorgestellt. Andererseits sind diese Arbeiten auch Teil einer innerhalb und außerhalb der deutschen Ärzteschaft geführten aktuellen Diskussion über Altersschätzungen bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF) in ausländerrechtlichen Verfahren.

Die von Wittschieber et al. publizierte Studie geht der Frage nach, ob eine weitere Unterteilung der Substadien der Schlüsselbeinossifikation nach Kellinghaus et al. [1] die Nachweismöglichkeiten der Vollendung des 17. Lebensjahrs verbessern. In den Staaten der Europäischen Union ist die Altersgrenze 17 Jahre für den Familiennachzug von UMF von großer praktischer Bedeutung.

Zur Erhöhung der Aussagesicherheit von Altersschätzungen ohne Legitimation für Röntgenuntersuchungen ist in den letzten Jahren die Etablierung röntgenstrahlenfreier bildgebender Verfahren in den Fokus des Forschungsinteresses gerückt. Neben magnetresonanztomographischen Untersuchungen kommen sonographische Studien für die Beurteilung des Ossifikationsstadiums verschiedener Skelettregionen in Betracht. Schulz et al. geben eine Übersicht über die vorliegenden sonographischen Referenzstudien und bewerten die Aussagemöglichkeiten von Ultraschalluntersuchungen zum Nachweis der Vollendung der juristisch relevanten Altersgrenzen 14, 16, 18 und 21 Jahre.

Während von ärztlichen Sachverständigen durchgeführte Altersschätzungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ohne gültige Ausweispapiere zur Klärung der Strafmündigkeit oder der Anwendbarkeit des Erwachsenenstrafrechts in öffentlichen Diskussionen nahezu unbeachtet bleiben, gab es immer wieder kritische Stimmen zu Altersschätzungen bei UMF außerhalb von Strafverfahren. So haben sich seit 1995 5 Deutsche Ärztetage mit dieser Thematik beschäftigt. Die jüngste Entschließung zu Altersschätzungen bei UMF wurde auf dem diesjährigen 117. Deutschen Ärztetag in Düsseldorf verabschiedet. Rudolf untersucht in seinem Aufsatz den Entstehungshintergrund der den Entschließungen zugrunde liegenden Anträge und etwaige Diskussionen dazu auf den Ärztetagen. Seine Rechercheergebnisse zeigen, warum die letzten Ärztetagsentschließungen im Widerspruch zur Gesetzgebung und der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur zur forensischen Altersdiagnostik stehen.

Letzte Ärztetagsentschließungen stehen im Widerspruch zu Gesetzgebung und einschlägiger Literatur

Die bereits seit Jahren laufende Debatte zu Altersschätzungen bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen wird in Heft 18/2014 der Zeitschrift Deutsches Ärzteblatt durch einen Beitrag von Nowotny et al. [2] mit dem Titel „Strittiges Alter – strittige Altersdiagnostik“ noch mehr zugespitzt. In dieser Publikation wurden zahlreiche unzutreffende Behauptungen zu den Rechtsgrundlagen und Methoden der forensischen Altersdiagnostik aufgestellt. Schmeling et al. dokumentieren die aus sachverständiger Sicht beim Deutschen Ärzteblatt zu Nowotny et al. [2] eingereichten Leserbriefe in einem zusammenfassenden Kontext. Als Reaktion auf die kürzlich im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichten Leserbriefe haben sich Nowotny et al. [3] erneut zu Wort gemeldet. Diese problematische Darstellung wurde zum Anlass genommen, den neuerlichen unzutreffenden Behauptungen mit wissenschaftlichen Beiträgen in diesem und dem nächsten Themenheft unserer Zeitschrift Rechtsmedizin entgegenzutreten. Beispielsweise wird von Schmeling et al. die Studienlage zum zeitlichen Verlauf der Schlüsselbeinossifikation dargestellt. In dieser Übersichtsarbeit werden die von speziellen Kritikern evidenzbasierter Altersschätzungen immer wieder zitierten und aus dem Zusammenhang gerissenen methodisch fragwürdigen Untersuchungen in den Kontext des vorliegenden wissenschaftlichen Schrifttums eingeordnet. Die Arbeit belegt den hohen Stellenwert der Beurteilung der Schlüsselbeinossifikation für den Nachweis der Vollendung des 18. und 21. Lebensjahrs.

Eigentlich weiß man nur, wenn man wenig weiß; mit dem Wissen wächst der Zweifel. ([6])

A. Schmeling

K. Püschel