Mehr als 70 Jahre nach Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland existiert inzwischen eine Vielzahl von Publikationen, die sich mit den Verbrechen der Medizin im Nationalsozialismus (NS) auseinandersetzen. Vor allem seit den 1980er Jahren ist ein beeindruckendes Korpus an Forschungsliteratur entstanden, in dem die Beteiligung der Ärzteschaft an Zwangssterilisierungen, die systematische Ermordungen von Patientinnen und Patienten, medizinische Versuche an Menschen ohne Einwilligung sowie die Unterdrückung und Vertreibung von als „nichtarisch“ klassifizierten Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Perspektiven untersucht worden sind (eine zusammenfassende Übersicht über den Forschungsstand einschließlich einer umfassenden Literaturübersicht bieten u. a. Jütte et al. [2]).

Auch die maßgeblichen medizinischen Fachgesellschaften haben sich inzwischen ihrer Geschichte zugewandt und historische Arbeitsaufträge vergeben, um ihre eigene Rolle als medizinische Organisation und die Rolle ihrer Mitglieder im Nationalsozialismus aufzuarbeiten. Relativ spät, aber dafür ausführlich hat sich beispielsweise die fachlich organisierte Psychiatrie bzw. ihre Fachgesellschaft in den letzten Jahren mit ihrer Geschichte im Nationalsozialismus beschäftigt. Ende 2015 (Erscheinungsjahr 2016) konnte Hans-Walter Schmuhl ein eindrucksvolles Buch zur Geschichte der Vorläuferorganisationen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und deren nationalsozialistischer Vergangenheit vorlegen [7].

Eng mit der Geschichte der Psychiatrie im Nationalsozialismus verbunden ist die Geschichte der Neurologie. Auch zur Rolle dieser Disziplin im Nationalsozialismus existieren zahlreiche mehr oder weniger spezifisch auf sie bezogene einschlägige Arbeiten. Im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und ihres früheren Präsidenten Prof. Martin Grond verfolgen wir in diesem Sonderheft des Nervenarztes das Ziel, diesen Forschungsstand zur Neurologie im Sinne eines erzählenden Überblicks zu ordnen und für interessierte Neurologen zu bündeln. Die historische Forschung ist mit einem solchen Review keinesfalls zu Ende, im Gegenteil: Vielfach haben wir bei der Erstellung der folgenden Übersichten bemerkt, welche gravierenden Wissenslücken und Interpretationsschwierigkeiten nach wie vor bestehen.

Nach wie vor bestehen Wissenslücken und Interpretationsschwierigkeiten

Das Vorhaben einer solchen Überblicksdarstellung ist dabei in sich nicht unproblematisch. Zum einen kann schon der Literaturüberblick allein keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, sondern nur auf die für unsere Forschungsübersicht aus unserer Perspektive zentralen Arbeiten fokussieren. Zum anderen können wir in diesem Sonderheft keine eigenen Archivstudien vorlegen, sondern nur über die aktuelle Forschungsliteratur berichten. Eigene Archivuntersuchungen hätten ein mehrjähriges Projekt erfordert. Allein zur (bisher nicht abschließend erfolgten) Rekonstruktion der Rolle einzelner Neurologen wie beispielsweise Heinrich Pette, dem Vorsitzenden der Neurologischen Abteilung der 1935 entstandenen Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater, wäre es notwendig, verschiedenste Archive aufzusuchen und bisher noch nicht gesichtetes Material zusammenzutragen. Zu vielen Neurologen der Zeit gibt es bislang ungesichtetes Material, dessen Erschließung und Bewertung aussteht. Denn nicht zuletzt weichen nicht selten biographische oder regionale Befunde gerade zum polykratischen System der NS-Diktatur von den allgemein festzustellenden Entwicklungen ab.

Die Abgrenzung der Neurologie zur Psychiatrie in der NS-Zeit ist schwierig

Vor allem aber sticht bei einer Konzentration auf die Neurologie das Problem hervor, überhaupt identifizieren zu müssen, wer in der Zeit bis 1945 in Deutschland als ein Neurologe bezeichnet werden kann. Die Frage, was die Neurologie eigentlich sei bzw. was als Spezifika dieser Disziplin gewertet werden kann, fällt für den zu betrachtenden Zeitraum gerade in Abgrenzung etwa zur Psychiatrie nicht leicht. Dieses Problem wird noch dadurch erschwert, dass die um 1900 begonnene institutionelle Verselbstständigung der Neurologie mit ihren Bezügen zur Psychiatrie und Inneren Medizin durch die noch anzusprechende fachgesellschaftliche Zusammenfassung mit der Psychiatrie im Jahr 1935 auf dem Niveau der Vereinsvertretung zurückgeführt wurde. Hatte Max Lewandowsky (1876–1918) schon 1910 im Vorwort zu dem von ihm herausgegebenen Handbuch der Neurologie betont, dass die inhaltliche Abgrenzung zu anderen Fächern schwierig sei und das Handbuch gerade helfen solle, durch die Präsentation ausgewählter Themen die Selbstständigkeit eines eigenen Gebietes der Neurologie stärker sichtbar zu machen ([4], S. IV), so rangen in vergleichbarer Weise noch 35 Jahre später nach dem Zweiten Weltkrieg die Zeitgenossen mit einer klaren Haltung, was denn als Neurologie verstanden werden könnte. So hielt etwa Ernst Kretschmer im Vorwort zum Band Psychiatrie der FIAT Reviews of German Science 1939–1946 fest:

Die Durchtrennung des psychiatrisch-neurologischen Gesamtgebietes in je ein selbständiges psychiatrisches und neurologisches Fachgebiet ergab sich aus praktischen Gründen. Bei der weitgehenden Überschneidung der Forschungsgebiete ist diese Durchtrennung eine künstliche, und der Leser wird zweckmäßig beide Referate zu seiner Orientierung heranziehen.

Mit Georg Schaltenbrand, der die neurologischen Bände als Herausgeber übernommen hatte, wurde vereinbart, dass die Hirnanatomie und die Liquordiagnostik, die, wie Kretschmer unterstrich, beide „vielfach von psychiatrischen Forschern und Instituten betrieben“ werden, im neurologischen Teil behandelt werden sollten. Die Erbneurologie, Elemente der Hirnphysiologie, Teile der Biochemie des Hirns und der Immunologie wurden jedoch im psychiatrischen Teil belassen ([3], Vorwort). Für die vorliegende Aufgabe wäre es also zu einfach, die Neurologie überzeitlich als das Fach zu definieren, das sich vornehmlich mit der naturwissenschaftlichen und morphologischen Seite der Hirn- und Nervenbeobachtung befasst habe, während die Psychiatrie sich eher der phänomenologischen Seite zugewandt habe. Forschungen, Wissenschaftler und Institutionen lassen sich für den fraglichen Zeitraum nicht so eindeutig einer von beiden Disziplinen zuordnen.

Die von Kretschmer angesprochene Überschneidung ist gerade für die Neurologie im Nationalsozialismus von Wichtigkeit, wurde doch nach dem Krieg häufig der Versuch unternommen, die Neurologie und ihre Vertreter mit dem Argument von den Verbrechen der Medizin freizusprechen, sie seien durch die Fokussierung auf die „reine Wissenschaft“ immun gegenüber der Politik gewesen. Diese Sichtweise ist lange widerlegt. Schon Alice Platen-Hallermund, die als Prozessbeobachterin an den Nürnberger Ärzteprozessen teilgenommen hatte, hielt dem Argument der „Unschuld“ der Wissenschaft entgegen:

Und nur wenn die Wissenschaft als solche protestiert hätte, könnte sie die Verantwortlichkeit an dem Geschehen der Vergangenheit wirklich ablehnen ([5], S. 90 f.).Footnote 1

Auch diejenigen Personen, die sich als Neurologen in Abgrenzung von der Psychiatrie definierten, orientierten ihr Handeln an den Möglichkeiten, die sich im Nationalsozialismus boten, beispielsweise einer entgrenzten Forschung. Sie stellten der Politik und dem Gesundheitswesen Wissensressourcen zur Verfügung und nutzten ihrerseits je nach Haltung und Persönlichkeit manchmal mehr und manchmal weniger die ihnen von politischer Seite angebotenen Gelegenheiten zum persönlichen oder fachlichen Fortkommen (siehe u. a. [6]).

Ausschnittsweise werden wir in den folgenden Aufsätzen Beispiele für dieses Handeln vorstellen, wobei wir als Neurologen diejenigen Personen in den Blick nehmen, die sich entweder durch Zeugnisse belegbar selbst in Abgrenzung zu anderen Disziplinen als Neurologen bezeichneten oder von ihren Kollegen als Neurologen angesprochen wurden. Ferner folgen wir bei der Einteilung nach Krankheiten oder Wissensgebieten im Wesentlichen der 1946 von Kretschmer und Schaltenbrand als Herausgeber der FIAT-Reviews gewählten Aufteilung, weil diese erstens nah am Untersuchungszeitraum liegt und zweitens von damaligen Vertretern der Neurologie und Psychiatrie rückblickend auf die Jahre 1939 bis 1946 selbst so gewählt worden ist. Die „Erbneurologie“ und als neurologisch bezeichnete hirnphysiologische Aspekte haben wir dabei ebenfalls in die Untersuchung einbezogen. Wie schwer eine Trennung jedoch gelegentlich fällt, mag der Blick auf heutige Zeiten illustrieren, in denen Krankheitsgruppen wie die der Demenzen ebenfalls nicht ohne Weiteres als psychiatrische oder neurologische Domäne begriffen werden können.

Die vielfältigen Themenkreise und Perspektiven, die sich aus der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ergeben, haben wir auf für die Betrachtung der Neurologie besonders relevante Aspekte reduziert. Wir schildern unter Bezugnahme auf den Forschungsstand zentrale Denkströmungen, Handlungen und Ereignisse, wobei wir vielfach direkt aus den weiterführenden Originalarbeiten zitieren. Neben der Erb- und Rassenpolitik des NS-Staates als eine seiner ideologischen und gesundheitspolitischen Säulen sind dies vor allem die Vertreibung von Ärztinnen und Ärzten, die in der nationalsozialistischen Gesetzgebung als „jüdisch“ oder „nichtarisch“ klassifiziert worden waren, die Beziehung der Neurologie zur Psychiatrie, die Entgrenzung der medizinischen Forschung und die direkte oder indirekte Beteiligung von Neurologen an der Ermordung psychisch Kranker und behinderter Menschen im Rahmen der sog. „Euthanasie“-Aktionen. Die Darstellung einzelner exemplarischer Lebensgeschichten nehmen wir dabei in Form von Vignetten vor, die sich jeweils auf die behandelten zeitlichen und inhaltlichen Abschnitte beziehen.

Die Beiträge folgen einer inhaltlichen und chronologischen Ordnung. Nach einer Übersicht zu den „Voraussetzungen und Rahmenbedingungen“ der Neurologie im Nationalsozialismus [8] werden am Beispiel der Epilepsieforschung exemplarisch die Folgen und Folgerungen geschildert, die sich für Neurologen aus eugenischem Denken und nationalsozialistischer Politik ergaben [9]. Die systematischen Versuche von Neurologen, von der Ermordung von Patientinnen und Patienten durch die Forschung an deren Gehirnen zu profitieren, werden im dritten Beitrag behandelt [10], bevor sich der vierte Aufsatz der nach dem Zweiten Weltkrieg nur langsam einsetzenden Aufarbeitung der Involviertheit von Neurologen in den nationalsozialistischen Staat und die durch ihn eröffneten Entgrenzungen der Medizin zuwendet [11].

Ärzte scheinen schon einige Zeit vor der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler gewusst zu haben, was der nationalsozialistische Staat für das Gesundheitswesen und ihre Rolle hierin vorsah. Der SPD-Abgeordnete und Arzt Julius Moses zumindest veröffentlichte 1932 in der Zeitschrift Der Kassenarzt einen Beitrag mit dem Titel „Der Kampf gegen das ‚Dritte Reich‘ – ein Kampf für die Volksgesundheit!“, in dem er feststellte:

Alles, was bisher als ein ethisches und moralisches Gebot, als ein kategorischer Imperativ für die Ärzteschaft galt, würde dort wie ein schmutziger Fetzen über Bord geworfen. Der Arzt als Helfer und Freund des kranken Mitmenschen würde im „Dritten Reich“ verschwinden (...) Im nationalsozialistischen „Dritten Reich“ hätte also der Arzt folgende Sendung, um ein „neues, edles“ Menschentum zu schaffen: Geheilt werden nur die Heilbaren! Die Unheilbaren aber sind „Ballastexistenzen“, „Menschenschund“, „lebensunwert“ und „unproduktiv“. Sie müssen zerstört und vernichtet werden (...) Und der Arzt ist es, der diese Vernichtung durchzuführen hat. Er soll also mit einem Wort zum Henker werden! (zit. nach [1, S. 210 f.]).

Gerade diese Überlegungen und das Wissen um das zu Erwartende sind im Hinterkopf zu behalten, wenn aus der Retrospektive immer wieder gefragt wird, warum Ärzte, nicht zuletzt auch Neurologen, die Möglichkeiten des neuen Staates für ihre Belange nutzten und sich an Verbrechen in der medizinischen Forschung ebenso direkt oder indirekt beteiligten wie an der Ermordung von Patientinnen und Patienten. Mit der in diesem Sonderheft vorgelegten Übersicht möchten wir einen Beitrag dazu leisten, weitere Forschungen zur Medizin im Nationalsozialismus im Allgemeinen und zur Neurologie im Nationalsozialismus im Besonderen zu befördern und eine fundierte Diskussion innerhalb der heutigen neurologischen Fachgesellschaft zu ermöglichen. Ein solcher Prozess schließt auch ein, nach der weiteren Entwicklung des Umgangs mit der eigenen Vergangenheit in den Dekaden nach 1945 zu fragen.