Zusammenfassung
Vor dem Hintergrund jüngster Presseberichte über aufsehenerregende Amokläufe und zur Aufklärung des Bedingungsgefüges solcher massivster Gewalttaten setzte sich die vorliegende Studie zum Ziel, die Epidemiologie sowie „Täterprofile“ von Amokläufern anhand der Originalakten der jeweiligen Gerichtsprozesse zu analysieren. Hierzu wurden Urteile und forensisch-psychiatrische Gutachten von 27 Amokläufern auf der Grundlage eines eigens für diese Täterschaft erstellten Erhebungsbogens untersucht.
Die Analyse zeigte, dass es in den letzten 20 Jahren keine Zunahme von Amokläufen in Deutschland gab, allerdings eine Zunahme von sog. „school shootings“. 74% der Täter hatten in ihrer Vergangenheit bereits eine psychiatrische Vorerkrankung, wobei es sich hauptsächlich um affektive Störungen, Angsterkrankungen und Psychosen handelte. Laut Sachverständigengutachten waren 44% der Täter vermindert schuldfähig und 26% schuldunfähig. Häufigste Diagnose der Schuldunfähigkeit war „paranoide Schizophrenie“.
Nach der vorliegenden Analyse lassen sich 3 Prototypen von Tätern unterteilen: (1) jugendliche Täter mit jahrelangem Misserfolg in Schule oder Ausbildung verbunden mit empfundener Ausgrenzungen und Suizidgedanken, (2) Täter, die an einer paranoiden Psychose litten, (3) erwachsene Täter mit disponierender Persönlichkeitsstörung, bei denen stabilisierende soziale Faktoren (Partnerschaft, Arbeitsplatz etc.) weggebrochen waren. Die Analyse zeigt zudem, dass bei einer vorbestehenden Disposition in Form einer Psychose, affektiven Störung oder Sucht-/Missbrauchserkrankung bestimmte soziale Risikokonstellationen weitere Teilkomponenten des Bedingungsgefüges sind. Was jedoch letztendlich den Ausbruch dieser massivsten Form von Gewaltanwendung verursacht, bleibt unklar.
Summary
In order to clarify psychosocial and psychopathological components that may contribute to causes of running amok, judgements and forensic-psychiatric certificates of 27 amok runners were examined.
While in the last 20 years there was no increase of amok events in general, a remarkable increase in so-called school shootings occurred; 74% of the culprits had a history of psychiatric disorder, most importantly schizophrenic psychoses, affective disorder or alcoholism. According to the forensic psychiatric certificates, 70% were not or not fully responsible for the crime.
Three prototypes of amok runners were found: (1) adolescents with long-term difficulties at school or apprenticeship and suicidal ideas; (2) persons suffering from paranoid psychoses; and (3) adults with personality disorders after breakdowns of close social relationships. Despite these predisposing factors it remains unknown which pathological conditions of brain function finally cause this most deleterious form of violence.
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Peter, E., Bogerts, B. Epidemiologie und Psychopathologie des Amoklaufes. Nervenarzt 83, 57–63 (2012). https://doi.org/10.1007/s00115-011-3250-6
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