„Aber es ist ja überhaupt kein echter Genuss

als da, wo man erst schwindeln muss!“

Dieser Ansicht Goethes aus Wilhelm Meisters“Wanderjahre werden sich die meisten Patienten mit Schwindel wohl nicht anschließen können, denn anders als beim Anblick „schwindelerregender“ Naturphänomene, auf die Goethe sich bezieht, fehlt für die Patienten ein erkennbarer, schon gar eine freudiger Anlass. Die Unsicherheit des statischen Raumgefühls kommt meist plötzlich, unangekündigt, mit unterschiedlichsten Begleitsymptomen und kann als lebensbedrohlich wahrgenommen werden.

So unscharf die umgangssprachliche Definition von Schwindel, so divers sind die möglichen Auslöser. Sich der Diagnostik und Therapie interdisziplinär zu nähern, ist daher „symptomimmanent“. Im vorliegenden Leitthemenheft kommen folglich die Fachgebiete zu Wort, die am häufigsten primär mit dem Leitsymptom Schwindel konfrontiert werden, die Kardiologie ausgenommen, weil dies den Rahmen sprengen würde. In den letzten Jahren sind mehrere neue Tests in der Vestibularisdiagnostik etabliert worden, die eine sehr exakte Differenzierung sog. peripherer und zentraler Ursachen ermöglichen und bei den peripheren Läsionen eine bessere Zuordnung auf einzelne Bogengänge oder Sakkulus und Utrikulus erlauben. Die Zeiten, in denen einzig durch kalorische Reizung lediglich der Rezeptor des horizontalen Bogenganges als einem von jeweils 5 Gleichgewichtsrezeptoren einer Seite bewertet wurde, sollten vorbei sein!

So unscharf die umgangssprachliche Definition von Schwindel, so divers sind die möglichen Auslöser

Walther beschreibt zum Einstieg in dieses Leitthemenheft die neuen Testverfahren, darunter den Video-Kopfimpulstest (vKIT), die Erfassung der dynamischen Sehschärfe („dynamic visual acuity“, DVA) zur Prüfung des hochfrequenten Bereichs des vestibulookulären Reflexes und die okulären und zervikalen vestibulär evozierten myogene Potenziale (VEMP). Er stellt ein Konzept der differenzierten Analyse der vestibulären Rezeptorfunktion vor, welches die Topodiagnostik der 5 vestibulären Rezeptoren mit einer dynamischen Analyse der Rezeptorfunktion verbindet. Auf diese Weise können alle 5 Rezeptoren des Gleichgewichtsorgans objektiv, seiten- und rezeptorspezifisch, quantitativ und dynamisch geprüft werden.

Wagner et al. fokussieren ihre Ausführungen dazu auf die Diagnostik und Therapie der Otolithenfunktionsstörungen. Für die Prüfung der Macula sacculi stehen die zervikalen vestibulär evozierten Potenziale, für die der Macula utriculi die Prüfung der subjektiv haptischen oder visuellen Vertikale und für die quantitative, seitengetrennte Untersuchung die Prüfung der sog. exzentrische Rotation zur Verfügung. Moderne Feedbacktraininigsmethoden, die in vielen Fällen eine deutliche Besserung der durch Otolithenfunktionsstörungen verursachten Schwindelbeschwerden bewirken, werden diskutiert.

Eine knöcherne Dehiszenz des oberen Bogengangs wird in letzter Zeit für zahlreiche Funktionsstörungen des Mittel- und Innenohrs verantwortlich gemacht. Lüers und Hüttenbrink beschreiben und bewerten in diesem Zusammenhang die diagnostischen Möglichkeiten. Sie weisen im Hinblick auf hochinvasive und z. T. mit erheblicher postoperativer Morbidität einhergehende Operationen mit Recht darauf hin, dass für das Syndrom der Dehiszenz des oberen Bogengangs noch viele offene Fragen hinsichtlich der Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie bestehen.

Fragen der operativen Therapie peripherer Schwindelerkrankungen erörtert Westhofen. Er geht ausführlich darauf ein, dass die Datenlage zu den einzelnen Verfahren mitunter kontrovers ist, was auch damit zusammenhängt, dass die Studienkollektive klein und schwer vergleichbar sind. Besserung der Schwindelbeschwerden bei gleichzeitigem Hörerhalt ist das vornehmliche Ziel, auch wenn für viele Patienten mit bereits eingeschränktem Hörvermögen allein die Besserung des Schwindels im Vordergrund steht. Dabei ist stets zu berücksichtigen, dass im Verlauf potenziell auch das Gegenohr betroffen sein kann.

Die Autoren aus der Neurologie, Ophthalmologie und Psychosomatik untermauern mit ihrer dankenswerten Teilnahme an diesem Leitthemenheft den interdisziplinären Ansatz, den das Thema Schwindel erfordert.

Die Neurologie verbindet als wortwörtlich zentrales Gebiet mit ihren neurootologischen und neuroophthalmologischen Aspekten, die in den Schwindel involvierten Sinnesorgane. Strupp et al. stellen in einer für sich schon interdisziplinären Arbeit die Kernbereiche dar und legen den Schwerpunkt auf eine Beschreibung der wichtigsten peripher-vestibulären Erkrankungen. Besonderen Eingang finden v. a. die therapeutischen Neuerungen der letzten Jahre und eine differenzierte Darstellung der klinischen Befunde beim benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel in Abhängigkeit vom betroffenen Bogengang. Die anschließende Betrachtung zentral-vestibulärer Syndrome und bestimmter Nystagmusformen leitet aus dem Zentrum heraus über in die Ophthalmologie.

Aus Sicht des Augenarztes beschreibt Franko Zeitz die verschiedenen Störungen spezifischer Sehqualitäten, ihre möglichen Ursachen und ihren potenziellen Einfluss auf den sensorischen Konflikt, der dem Schwindel ursächlich ist. Diese Differenzierung ist notwendig, um die Rolle des Sehens bei der Genese des in den letzten Jahren viel diskutierten multifaktoriellen Altersschwindel besser einordnen zu können. Abschließend werden diagnostische Verfahren vorgestellt, bei denen die Prüfung visueller Funktionen Rückschlüsse auf neurologische und neurootologische Pathologien erlaubt.

Frau Eckhardt-Henn beschreibt den Schwindel aus Sicht der Fachdisziplin, deren generell am Symptom und nicht an der Struktur orientierter Ansatz formal dem Problem am nächsten kommt: der Psychosomatik. Die zeitgemäße Einteilung des somatoformen Schwindels in seine Subgruppen wird erläutert, mögliche Ursachen und Therapieformen werden diskutiert. Einen besonderen Platz nimmt im interdisziplinären Konstrukt der sekundär-somatoforme Schwindel ein, bei dem der Patient, ausgehend von einer primär organischen Schwindelerkrankung, durch die Schwindelerfahrung eine sekundäre psychosomatische Schwindelform entwickelt, die von der eigentlichen Grunderkrankung zu trennen ist, da sie einer eigenständigen Therapie bedarf.

Ergänzend zu den Leitthemenartikeln beschäftigt sich die Originalarbeit von Blödow et al. mit dem Stellenwert der neuen Testverfahren bei Diagnostik des Vestibularisschwannoms auch bei normalem Hörvermögen.

Ausnahmsweise ist in diesem Heft der CME-Beitrag dem Leitthema angepasst, sodass durch die Ausführungen von Langhagen et al. auch die Problematik der Diagnostik und Therapie von Schwindel im Kindesalter in die vorliegende umfassende, interdisziplinäre Übersicht zum Thema Schwindel einfließt.