Transfer und Geschichte

Mit der Wende zum 21. Jahrhundert kündigte sich auch in den Geschichtswissenschaften ein methodisches Umdenken an. Es galt die Beschränkung nationalstaatlicher Grenzen im historiographischen Vorgehen zu überwinden, der Zeit gerecht zu werden und Geschichte als einen produktiven Prozess zu denken, der sich grenzüberschreitend im Austausch zwischen verschiedenen benachbarten, aber auch entfernteren Regionen der ganzen Welt abspielt. Besonderes Augenmerk sollte dem Transfer kultureller, technologischer, wissenschaftlicher und verwandter Konzepte zwischen Nationen zukommen. Der internationale historische Vergleich nationaler Entitäten, müsse dabei nicht abgeschafft, sondern, folgt man etwa Johannes Paulmann, durch die neue Methode der Transferanalyse komplettiert werden (Paulmann 1998). Eine der wichtigsten Eigenschaften dieser Methode bestünde darin, nicht einfach den Export oder Import von Praktiken, Konzepten oder Begriffen in neue Umgebungen beziehungsweise deren einfache Implementierung in einer neuen Umwelt zu beobachten, sondern die Analyse auch darauf zu konzentrieren, wie sich diese Konzepte selbst an ihre neue Umwelt anpassen und neuartige Prozesse in Gang setzen, die in der Herkunftsumgebung entweder nicht zu beobachten seien oder weniger deutlich hervorträten (ebd.: 669). „Kulturtransfer bedeutet […] einen Prozess der produktiven Aneignung, nicht etwa eine originalgetreue Übertragung fremder Ideen und Einrichtungen“ (ebd.: 674) und in letzter Konsequenz erfordere dies sogar explizit die Erforschung „,nationaler‘ Stile“ (ebd.: 677). Das Wort „Kultur“ in Kulturtransfer will im weitesten Sinne verstanden werden und kann sowohl hoch- als auch populärkulturelle Elemente, politische Vorstellungen, Technologien und Wissenschaft umfassen (ebd.: 676 f.). Einen für die vorliegende Studie unermesslichen Anstoß erfuhr diese neugewonnene transnationale Einsicht durch Sebastian Conrad, der insbesondere die Ausblendung außereuropäischer Regionen in der komparativen Historiographie aufzeigte (Conrad 2002: 145–150). Zu Recht kritisiert Conrad, dass speziell der konstitutive Charakter der Kolonialisierung für die europäische Modernisierung selten in seiner ganzen Tragweite erfasst wurde. Denn „die außereuropäische Welt [hat] seit dem 19. Jahrhundert vielfach die Funktion eines ‚Labors der Moderne‘übernommen, in dem moderne Technologien […] gleichsam experimentell getestet wurden“ (ebd.: 150).

Die vorliegende Studie versteht sich daher als Beitrag zur TransfergeschichteFootnote 1 der PsychiatrieFootnote 2 im außereuropäischen Raum. Im Detail versucht sie implizite Techniken der Psychiatrie aufzuspüren, ohne denen es dem psychiatrischen Diskurs nicht gelingen kann sich in einem neuen sozialen Gefüge zu verankern. Das Sprungbrett in diese außereuropäische Region wird die deutschsprachige Psychiatrie zur Verfügung stellen.

In ihrer Bestandsaufnahme des Kraepelin’schen Diskurses feiern die Autoren des Artikels „Emil Kraepelin’s legacy: systematic clinical observation and the categorical classification of psychiatric diseases“ (deVries et al. 2008) die Errungenschaften des Vaters der modernen deutschen Psychiatrie. Dabei verweisen sie kurz und ohne weitere kritische Reflexion auf die Grundsteinlegung Kraepelins für eine transkulturelle Psychiatrie (deVries et al. 2008: 1). Sie beziehen sich damit auf die kleine Schrift „Vergleichende Psychiatrie“ aus dem Centralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie von 1904 (Kraepelin 1904a); ein Quellenverweis auf diesen Text fehlt. Eine adäquate Diskussion der Wurzeln transkultureller Psychiatrie im psychiatrischen Diskurs des angehenden 20. Jahrhunderts wäre vielleicht gut beraten sich in der Welt umzusehen. Wo und wie wurden etwa diese Fäden aufgenommen? Das Neuartige des Zugangs im Rahmen des vorliegenden Artikels zu relevanten historisch-psychiatrischen Primärquellen, die nicht nur Kraepelins Werke umfassen, liegt in der Entdeckung eines exotischen Raumes, der in der Psychiatriegeschichtsschreibung eher eine Randexistenz zu fristen scheint.Footnote 3 Und das obwohl dieser Raum ein geradezu perfektes Laboratorium darstellen könnte, um die diskursiven Abdrücke, die die Psychiatrie in der Konstitution von Machtverhältnissen hinterlassen hat, zu studieren: Die Rede ist von Japan. Die Bedingungen für die Genese einer Psychiatrie in der Phase der Formation eines Nationalstaates sind in Japan deshalb außerordentlich gut zu beobachten, weil es—wie sich im Folgenden zeigen wird—in Japan zwar überlieferte Formen des Umgangs mit psychisch Kranken in der Gesellschaft gab, diese aber durch die bruchartige Einführung der westlichen Psychiatrie an der Wende zum 20. Jahrhundert mit derselben zwangsweise kollidieren musste. Ein Prozess der wohl auch in Europa stattgefunden hat, doch mit dem Unterschied, dass er in Japan durch die quasi von oben angeordnete Modernisierung namens Meiji-Restauration ab 1868 innerhalb weniger Jahrzehnte über die Bühne ging. In einem relativ überschaubaren Zeitraum kann man diese Transformationen in Japan sehr schön sichtbar machen, während sie in Europa teilweise durch die langen Entwicklungsperioden und Brüche, die sich zwischen historischer Kontinuität und Diskontinuität ansiedeln schwieriger zu erfassen sind. Die Frage ist nun: Wie konnte eine psychiatrische Wissenschaft innerhalb weniger Jahrzehnte in eine außereuropäische diskursive Umgebung transferiert werden, die kaum über Anknüpfungspunkte zur wissenschaftlich orientierten Medizin des Westens bot? In dieser Geschichte werden die deutschsprachige Psychiatrie und speziell Kraepelin eine besonders wichtige Rolle spielen.

Im Folgenden sollen Beispiele für diesen Prozess dargestellt werden, die es der Psychiatrie in Japan ermöglichen sollte ihren Diskurs zu entfalten. Der Einzug der Psychiatrie in Japan führte einen regelrechten Bruch herbei mit den theoretischen und praktischen Formen in der Handhabung psychischer Störungen in der Gesellschaft. Wie konnte der psychiatrische Diskurs diesen abrupten Anschluss an die westliche wissenschaftliche Medizin verschleiern oder, mit anderen Worten, die diskursive Bruchlinie des europäischen Transfers überdecken, um eine nationale historische Kontinuität zu konstruieren? Ohne diese Maske der Vertrautheit, die das Fremde zu verbergen im Stande ist, konnte es der Psychiatrie vielleicht gar nicht gelingen disziplinarische Dispositive zu platzieren, zu deren Rechtfertigung sie ja herangezogen wurde. Denn die Funktion transnationaler Transfers kann darin bestehen die bestehenden Verhältnisse entweder zu hinterfragen oder zu legitimieren (Paulmann 1998: 675). Vielleicht traf in der Geschichte des Transfers der Psychiatrie nach Japan sogar beides zu.

Einen wesentlichen Beitrag zur Konstruktion historischer Kontinuität liefern historiographische Narrative. Deshalb soll zunächst nicht die Psychiatrie selbst zum Objekt der Analyse werden, sondern ihre Geschichtsschreibung.

Bilder der Psychiatriegeschichtsschreibung

Die japanische Psychiatriegeschichtsschreibung beginnt, so wie die Psychiatriegeschichte, in Europa. Am 19. August 1874 unterschreibt ein junger Berliner Medizinalbeamter namens Albert Wernich einen Vertrag, der ihn zwei Jahre lang als Lehrer für Chirurgie, Innere Medizin und Gynäkologie nach Japan an die medizinisch-chirurgische Akademie in Tokyo binden sollte. Er wählte seinen Hinweg über Amerika mit Aufenthalten in New York und San Francisco, auf dem Rückweg unternahm er verschiedene Reisen, die ihn von Südchina, Singapur über Indonesien und Ceylon bis nach Ägypten führten. Das Ergebnis dieser Reise sind über vierhundert Seiten Geographisch-medicinische Studien nach den Erlebnissen einer Reise um die Erde (Wernich 1878). Darin schildert er, neben allgemeinen geographisch-kulturellen Begebenheiten und Schilderungen über den Alltag auf dem Schiff, stets sehr ausführlich die medizinische Beschaffenheit seiner Reisestationen, einschließlich der Beschreibung der lokalen Institutionen. Mehr als die Hälfte des Werkes ist dem eigentlichen Reiseziel Japan gewidmet. Die umfangreiche medizinische Analyse enthält auch die erste Darstellung über Vorkommen und Handhabung von Geisteskrankheiten in Japan aus westlich-psychiatrischer Perspektive. Wernich zeichnet ein eher düsteres Bild der japanischen Anstaltsfürsorge, das an die frühere Kritik der Psychiater an den Irrenanstalten Europas erinnert: vergitterte Zellen, mit Seilen und Ketten gefesselte dahinsiechende Gestalten, schlechte Belüftung, unzumutbare hygienische Bedingungen, Hunger, Kälte und Dunkelheit. Das beträfe jedoch nur die schwierigen Fälle von chronisch Tobsüchtigen, die ohnehin sehr selten vorkämen, wie ihm seine japanischen Begleiter versicherten. Die meisten der harmlosen Geisteskranken seien mitunter gut integriert bei Familien untergebracht. Wernich beschreibt die verbreitete Praxis der familialen Pflege, die im Falle eines akuten Anfalls mit Gefahr für Patienten oder Umwelt die vorübergehende Unterbringung in einer hauseigenen Arrestzelle vorsieht (Wernich 1878: 225 f.). Die Arten von Geisteskrankheiten, die in Japan aufträten, seien laut Wernich im Prinzip denen gleich, die man in Europa kenne, mit dem einzigen Unterschied ihres Verlaufs, in dem er eine japanische Eigenheit zu sehen vorgibt. Dadurch, dass er seine medizinischen Beobachtungen im Sinne eines holistischen Erklärungsansatzes mit seinen allgemeinen Feststellungen über den Geist der Japaner kontextualisiert, macht er die generell schwächliche Konstitution des Inselvolkes für den beschleunigt und progressiven Verlauf einiger Krankheiten verantwortlich. So sei die Schwäche des Nervensystems der Grund für das rasche Eintreten des Endstadiums der Geistesschwäche der vielen Syphiliskranken, ein Prozess der bei europäischen Syphilispatienten über mehrere Stufen erst nach und nach zur geistigen Trübung führen solle (Wernich 1878: 227 f.). Eine Parallele mit den aufgeklärten „Kulturvölkern“ sieht Wernich zwar in der mild-rationalen Behandlung der harmlosen Geisteskranken, jedoch bemerkt er das Desinteresse der Japaner an Therapien. Da sie fast ausschließlich Sicherheitsverwahrungen verordneten, betrieben sie im engen Sinne also nicht einmal eine Art Psychiatrie, sondern würden lediglich abergläubische Heilungsversuche unternehmen (Wernich 1878: 227). Nur vier Jahre später wird der deutsche Psychiater Karl von den Steinen nach seiner Asienreise über das Irrenwesen Neuseelands, Javas und Indiens vor der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten berichten: „Selbst in Japan ist noch wenig psychiatrisch Interessantes zu eruieren“ (Steinen 1882: 287). Seine kurze Beschreibung endet ebenfalls in einem alles andere als positivem Bild der nahezu fehlenden Tradition der Psychiatrie in Japan. In einer von ihm besuchten Anstalt in Kyōto sieht er zwar das Bemühen, Psychiatrie nach europäischem Vorbild aufzubauen, muss aber gleichzeitig festhalten, dass das Fehlen gewisser kultureller Eigenschaften der Japaner, wie zum Beispiel der Empathie, das traditionslose Anknüpfen an europäischen Praxen korrumpieren lässt:

[Die Anstalt] […], im Allgemeinen nach europäischem Plan eingerichtet, war von japanischen Aerzten geleitet, und bot mit ihrer einfachen Behaglichkeit in den sauberen Wohnräumen und ihrer Verwahrlosung in den zahlreichen, abscheulichen Zellen ein eigentümliches Mischbild von guten europäischen Absichten und guter asiatischer Indolenz. (Ebd.: 288)

Nun waren die japanischen Psychiater gefordert zweierlei dringliche Aufgaben zu erledigen, um Japan und seine Psychiatrie in ein besseres Licht zu rücken. Denn wie Kraepelin bemerken wird, trägt die Psychiatriegeschichte wesentlich dazu bei, „zum Schaden der Kranken [das] immer noch zu sehr verbreitete Mißtrauen gegen Irrenanstalten und Irrenärzte zu bekämpfen“ (Kraepelin 1919a: I). Erstens musste die Psychiatrie tatsächlich immens ausgebaut werden, andererseits war es für das Bild der unterentwickelten Japaner, die nur vom Westen übernehmen ohne originäre Ursprünge in der eigenen Geschichte, ganz besonders wichtig eine eigene Psychiatriegeschichte zu schreiben, die den Wurzeln einer japanischen Spielart der Psychiatrie nachspüren sollte. Es ging nicht darum, die Neuartigkeit der europäischen Psychiatrie für Japan zu leugnen, sondern eher eine eigene Version der Geschichte, die zur ihrer Einführung führt zu schreiben oder sie einfach aus japanischer Sicht zu beschreiben. Das Programm gestaltete sich in etwa so: Auf der einen Seite den Bemühungen der traditionellen Irrenfürsorge Rechnung tragen, sie nicht allzu sehr zu verteufeln, aber die absolute Wichtigkeit der Schaffung umfassender neuer Strukturen zu konstatieren. Die Dringlichkeit dieser Aufgabe kann darin erahnt werden, dass alle drei der ersten einflussreichen Psychiater Japans, Sakaki Hajime, Kure Shūzō und Miyake Kōichi ihren Beitrag dafür geleistet haben. Sakaki besetze 1886 die erste Professur für Psychiatrie der Kaiserlichen Universität Tokyo; sukzessive folgten ihm Kure und Miyake. Nicht zufällig hatten diese „drei Musketiere“ der japanischen Psychiatrie Auslandsstudien in Deutschland genossen, standen also auf jeden Fall im Wirkungsbereich von Kraepelin,Footnote 4 beziehungsweise waren sie sogar seine persönlichen Schüler (Omata 2002: 162–165). Speziell bei Kure und Miyake ist der starke Einfluss von Kraepelin nicht zu übersehen. Kure listet beim Vorwort zur zweiten Auflage seines Kompendiums für Psychiatrie Kraepelins Psychiatrielehrbuch als eine der wichtigsten Quellen auf und seine Bezüge zu Kraepelin im gesamten über tausend Seiten umfassenden Kompendium sind mehr als zahlreich (Kure 2002; Kure 2003a, b). Sowohl Kure als auch Miyake verwendeten Kraepelins Klassifikationssystem der Geisteskrankheiten in ihren Lehrbüchern (Kure 2002; Miyake 1938). Jeder dieser drei hat seine eigene Darstellung der Psychiatrie Japans in deutscher oder englischer Sprache veröffentlicht (Sakaki 1886; Kure 1903; Miyake 1926), allerdings mit jeweils unterschiedlichen Facetten.

Sakakis Beitrag, als der erste eines Japaners, war um den Status quo und einen Überblick zur Geschichte bemüht. Er wollte die aus Unkenntnis der Materie entstandenen Vorurteile revidieren:

Von dem japanischen Irrenwesen weiss man in Europa so gut wie gar nichts. Es rührt dies offenbar davon her, dass 1) die japanische Sprache und besonders ihre Schriftart für die Fremden sehr schwer zu erlernen ist, 2) dass die europäischen Aerzte, die in Japan waren, im Allgemeinen kein oder nur sehr wenig Interesse dafür gehabt haben und 3) dass die Japaner selbst sich noch nicht in umfassender Weise damit beschäftigt haben. (Sakaki 1886: 144)

Er fährt fort mit einer kurzen Geschichte der Diagnostik und Therapiemethoden für Geisteskrankheiten von der Antike bis zur Meiji-Restauration. Dabei wird Sakaki nicht verschweigen, dass man in Japan die Kategorie der Psychosen schon seit dem frühen Altertum gekannt hatte. Auffallend ist andererseits die betonte Ähnlichkeit mit Europa und der restlichen Welt, wenn es zum Beispiel um die Verbreitung der Idee von Besessenheit in der Bevölkerung geht (ebd.: 145). Das Bild der Anstalt, hier etwa das der städtischen Irrenheilanstalt, die der psychiatrischen Abteilung der Universität Tokyo als Klinik diente, wird in deutlich helleren Farben nachgezeichnet:

Die Kranken, die sich in der Anstalt befinden, stammen fast sämmtlich aus den ärmeren Klassen, während sich die Reichen meist in einer Privatanstalt oder im eigenen Hause behandeln lassen. Dieselben tragen ohne den Unterschied des Geschlechts eine hellblaue, schlafrockähnliche Kleidung und werden alle frei (no-restraint) [Hervorhebung BL] behandelt. Nur die sehr unruhigen Kranken, welche die anderen stören, kommen in die Zelle. Zwangsjacke, -Stühle oder Ketten u.s.w. sieht man dort nicht […]. Die Kranken haben im Allgemeinen keine Beschäftigung; sie unterhalten sich, lesen, rauchen u.s.w. Einige Frauen beschäftigen sich jedoch mit der Näherei und Aehnlichem. In der bestimmten Zeit werden alle Kranken durch Wärter nach dem Garten geführt und können 1–2 Stunden lang dort spazieren, natürlich mit Ausnahme der unruhigen oder körperlich kranken Personen.

Die Mahlzeit wird 3 mal am Tage gehalten. Die Patienten bekommen natürlich japanische Speise, al[s]o vor Allem Reis, dazu Fische, Fleisch und Gemüse. Nur die körperlich Heruntergekommenen können ausserdem noch besondere Speisen als Milch, Eier etc. bekommen. (Sakaki 1886: 148)

Kure fokussiert in dem von ihm vorgelegten Bild auf die Vorformen der Psychiatrie in Japan. Er nennt es sogar „Geschichte der Psychiatrie in Japan“ (Kure 1903), lässt diese aber vor Einführung der westlichen Medizin enden mit dem Verweis, dass er den Rest an anderer Stelle nachreichen werde (ebd.: 17). Seine Ausführungen gehen der beeindruckend differenzierten Diagnostik und Therapie des Altertums nach, um dann ihren Ausklang in einer längeren Passage über die Tokugawa-Zeit (1603–1868) zu finden (ebd.: 1–6). Wie Sakaki geht er auf den Besessenheitsaberglauben der Bevölkerung ein, den auch er bei allen Völkern der Weltgeschichte in der Vormoderne vertreten sah (ebd.: 12). In diesem Bericht fällt auch der Name eines kleinen Ortes nördlich von Kyoto, der seine volle Bedeutung in der japanischen Psychiatriegeschichtsschreibung erst noch entfalten sollte. Dieser Ort namens Iwakura wird im besonderen Maße zur Revision der Psychiatriegeschichte im Westen und Osten beitragen, denn er illustriert, dass die Anstalt als Ort der Behandlung von Geisteskranken in Japan eine lange Geschichte hat, die scheinbar nicht einmal im Widerspruch zur traditionellen familialen Pflegepraxis stand, sondern sogar daraus hervorgegangen ist (ebd.: 12).

Über ein Vierteljahrhundert nach Steinens Kritik verfasste Wilhelm Stieda einen umfassenden Bericht zur Lage der Psychiatrie Japans. Ähnlich wie seine Vorgänger, sah auch er die japanische Psychiatrie noch in den Kinderschuhen stecken:

Die wissenschaftliche Psychiatrie Japans ist noch verhältnismäßig jung; eine staatliche Irrenfürsorge gibt es in Japan noch gar nicht. Vor der staatlichen Umwälzung, die das Leben in Japan in neue Wege leitete, wurden Geisteskranke entweder in der Familie gehalten oder aber in Privatpflege gegeben. Die Psychiatrie lag in den Händen der Priesterschaft. (Stieda 1906: 514)

Aber etwas hatte sich am althergebrachten Bild verändert. Zwar fehlten die schauerlichen Schilderungen von armen Irren in Ketten und Käfigen bei Stieda keineswegs, doch wurden sie bereits in vergangene Zeiten und entlegene Orte projiziert. Stieda erfuhr von seinem japanischen Kollegen Kure, der ihn auf seinen Erkundungen in Tokyo begleitete, dass in vielen Gegenden Japans noch immer solche Zustände herrschten, was schlicht auf den Mangel an psychiatrischen Einrichtungen zurückzuführen sei. Stieda selbst bekam jedoch Artefakte dieser inhumanen Methoden nur mehr im Museum zu Gesicht (ebd.: 515). In der Stieda’schen Komposition des Bildes der Psychiatrie Japans gibt es einen besonders augenscheinlichen Kontrast, und zwar den zwischen Kyoto und Tokyo, der tatsächlich einer Dichotomie entspricht. Nachdem Stieda eine private Anstalt in Kyoto, der er ein durchwegs positives Zeugnis ausstellte, und die private psychiatrische Anstalt in Iwakura, von dem er mit richtiggehender Begeisterung berichtet, besucht hatte, besichtigte er die von Kure geführte städtische Anstalt in Tokyo: „Das Helle, Freundliche, das mich in den Anstalten in Kiosto [Kyoto] so angenehm berührt hatte, fehlte hier fast ganz“ (ebd.: 520). In beiden städtischen Anstalten gab es noch vergitterte Zellenräume, die jedoch laut Auskunft der Anstaltsleiter nur selten benutzt würden. In beiden Anstalten versuchte man diese Zellen abzubauen oder umzufunktionieren. In beiden waren Psychiater in der Leitung, die ausgesprochene Anhänger der zwangslosen (no-restraint) Behandlung waren. Allerdings ist in Stiedas Beschreibung vieles in Kyoto bereits wirklich umgesetzt, was Kure in Tokyo erst noch anstrebte. Kure hatte ja schon ein Konzept zum großzügigen Umbau der Anstalt ausgearbeitet, aber die Mittel, die ihm die Stadt zur Verfügung stellte, reichten erst nach und nach aus (ebd.: 520). Die private Pflege in Kyoto schien der staatlichen in Tokyo voraus zu sein. Könnte man diesen Vorsprung nicht zum Vorteil für die japanische Psychiatriegeschichte nutzen? Wäre es möglich, dass die in hell-freundlichen Farbtönen beschriebene Anstalt im ruralen Iwakura an eine japanische Tradition anschließt, die es gestattet fortschrittlicher zu sein als eine moderne Anstalt im medizinischen Zentrum Tokyo, die sich ausschließlich an westlichen Modellen orientiert?

Iwakura in der Welt

Der Gründungsmythos der Pflege von Geisteskranken in Iwakura besagt, dass die Tochter des Kaisers Gosanjō, der von 1068 bis 1072 regierte, psychisch erkrankte. Einer religiösen Eingebung ihres Vaters folgend, wurde sie nach Iwakura zu einer heiligen Quelle beim Daiun-Tempel geschickt, wo sie durch die Behandlung mit dem Quellwasser Heilung erfuhr. Daraufhin seien von überall her Leute nach Iwakura geströmt, die auf der Suche nach Heilung von Geisteskrankheiten gewesen seien (Hashimoto 2010: 143 f.). Kure beschreibt Iwakura in einem Absatz seiner Psychiatriegeschichte mit den folgenden Worten:

In ‚Iwakura‘ bei ‚Kioto‘ […] ist ein kleiner Tempel, welcher dadurch in ganz Japan berühmt und bekannt wurde, daß die Irren sich dort sammelten und wohnten. Seit einigen Jahrhunderten glaubte man, daß die Gottheit in diesem Tempel die besondere Fähigkeit besitze, die Psy-chosen zur Heilung zu bringen und es kamen daher die Leute dort zusammen, beteten, beichteten und benutzten einen Wasserfall bei dem Tempel, um für die körperliche und so auch für die geistige Reinheit zu sorgen und dadurch die Gebete am Altar des Gottes wirksamer zu machen. Diese herbeigekommenen Leute fanden Unterkunft in den Häusern der in der Nähe wohnenden Bauern; sie wohnten und schliefen mit deren Familien zusammen, arbeiteten mit ihnen im Haus und auf dem Felde, gingen mit ihnen in die Berge, in die Wälder und auch nach der Stadt. Es war eine echte Kolonie, verbunden mit familiärer Pflege, natürlich ohne ärztliche Beaufsichtigung. Es mußten viele der Krankheiten dort einen günstigen Ausgang genommen haben, die die Irren werden heute noch dorthin geschickt und einzelne Familien behalten sie heimlich bei sich, da es jetzt polizeilich verboten ist, solche Kranke in Privatwohnungen aufzunehmen. Man findet jetzt dort eine Privatirrenanstalt. (Kure 1903: 12)

Diese Privatanstalt findet wiederum ihre Erwähnung bei Stieda, der schon bei der Anreise nach Iwakura von der „wunderhübsche[n] Lage am Abhange eines […] Bergzuges“ (Stieda 1906: 517) schwärmte. Zu dieser Zeit stand die Privatanstalt bereits unter ärztlicher Direktion.

Die Zeit der Gebetsheilungen ist für Iwakura vorüber, aber die Familien-pflege hat sich noch im Dorf erhalten, obgleich die Regierung in neuerer Zeit dieselbe verboten hat. Dieses Verbot ist ohne Mitwirkung Sachverständiger erfolgt und hervorgerufen durch angeblich oft vorgekommene Missbräuche der Pflegegewalt. (Ebd.: 518)

In der modernen Psychiatrie kann es natürlich nicht um die religiösen Heilmethoden gehen, aber in der familiären Pflege von Geisteskranken ist eine Praxis zu erkennen, die sich als traditionell in der Bevölkerung verankerte Form mit psychiatrischen Therapien verbinden lassen könnte. Denn diese Art der Unterbringung schien den Ansprüchen der Psychiatrie auf humane, zwangslose Behandlung gerecht zu werden. Bei der Besichtigung der Wohnanlagen war für Stieda von „irgendwelchem Zwang, von Gewalt […] nichts zu merken“ (ebd.: 518). Die japanische Psychiatrie musste bei ihrer Installierung darauf achten, dass sie Anknüpfungspunkte in den sozialen Praktiken der Bevölkerung fand. Auf anderen Feldern musste sie ja mit den Traditionen brechen, etwa bei der Transformation der verbreiteten Tier- und Geisterbesessenheit in ein psychopathologisches Syndrom. Umso wichtiger war es, kompatible Elemente mit dem modernen psychiatrischen Diskurs zu verflechten, um die diskursiven Bruchlinien zu trüben und damit für Akzeptanz zu sorgen. Wenn eine Gesellschaft trotz Verbot beharrlich eine Praxis weiterverfolgt, dann darf die Psychiatrie es sich nicht entgehen lassen, diese in ihren Einflussbereich zu übernehmen.

Die japanischen Psychiater haben es fürs erste vergebens versucht, die Regierung dahin zu beeinflussen, dass sie die Familienpflege nicht verbietet, sondern sie nur neu organisiert und unter fachmännische Kontrolle stellt [Hervorhebung BL]. Es wäre zu bedauern, wenn in Japan die Einrichtung der kolonialen Irrenpflege, zu der die Ansätze ja schon vorhanden sind, vernichtet werden würde. (Stieda 1906: 518)

Dabei spielte es für die ansonsten traditionskritische Psychiatrie keine Rolle, dass es sich bei dieser über fast tausend Jahre alten Geschichte Iwakuras offenbar nur um einen Mythos handelt. Faktisch legt die Forschung anhand der Beschreibungen des Tempels Daiun in Iwakura nahe, dass es sich um einen Mythos handelt, der zum Zwecke der Attraktion von Besuchern in der Tokugawa-Periode konstruiert wurde (Hashimoto 2010: 144). Der japanische Psychiatriehistoriker Hashimoto Akira betitelt deshalb auch seinen Artikel über Iwakura nicht nur „The Invention of a ‚Japanese Gheel‘“ weil es sich dabei um einen erfundenen Gründungsakt gehandelt haben könnte, sondern auch wegen der von Psychiatern konstruierten Analogie zwischen dem Ort Geel in Belgien und Iwakura in Japan.Footnote 5

Im weltberühmten Geel in Belgien befindet sich nämlich eine Ansammlung von familialen Pflegeunterkünften mit integrativem Lebensmodell für Geisteskranke, die aus der ehemaligen „Irrenkolonie“ rund um den Wallfahrtsort der heiligen Dymphna hervorgegangen ist und deren Geschichte einer Legende nach bis ins sechste Jahrhundert zurückreichen soll (Schmidt 1983: 57). Die erste schriftlich festgehaltene Verbindung von Geel und Iwakura tauchte bei niemand geringerem als Kure selbst auf. Er hatte vielleicht noch vor seinem Auslandsaufenthalt von Sakaki von den Diskussionen um die Familienpflege in Deutschland gehört und in seinem Psychiatrielehrbuch umgesetzt. Deshalb nahm er auch die Mühen auf sich, auf der Heimreise nach Japan im Sommer 1901 extra einen Zwischenstopp in Geel einzurichten. Später, als er bereits medizinischer Direktor des Sugamo Hospitals in Tokyo war, spielte er sogar mit dem Gedanken die Familienpflege auch in dieser Anstalt einzuführen. Ein Plan der vermutlich lediglich an den finanziellen Hürden scheiterte (Hashimoto 2010: 160–163). Das erklärt die große Bedeutung von Iwakura, denn mit der Konstruktion eines original japanischen psychiatrischen Konzeptes, das noch dazu eine frappierende Ähnlichkeit mit einer viel beachteten europäischen InstitutionFootnote 6 aufwies, gleich zwei Probleme auf einmal lösen: Zum einen konnte man eine nationale Traditionslinie für die Psychiatrie herstellen, und zum anderen bot es die Gelegenheit sich gleichzeitig international zu präsentieren um damit zur Aufwertung der als rückständig angesehenen Psychiatrie und ihrer Geschichte in Japan beizutragen.

Der nächste umfangreiche Bericht über die japanische Psychiatrie im deutschsprachigen Raum, der auf 1933 datiert ist, entwirft ein geradezu schwärmerisches Bild der Bemühungen in Japan (Weygandt 1933). Natürlich darf der Faktor der politischen Affinität des nationalsozialistischen Deutschlands zum ultranationalistischen japanischen Reich nicht außer Acht gelassen werden, der möglicherweise den deutschen Psychiater und überzeugten Rassenhygieniker Wilhelm Weygandt Japan schon auf der ersten Seite seines Berichts das bis dato westlichen Nationen vorbehaltene Prädikat eines Kulturlands zuerkennt (ebd.: 73). Trotzdem ist es auffällig, dass er seine Darstellung der japanischen Psychiatrie gleich mit der Geel–Iwakura–Parallele beginnt: „Die Anfänge der japanischen Irrenfürsorge erinnern geradezu verblüffend an die Entwicklung von Gheel“ (ebd.: 74). Sein durchwegs positives Zeugnis spiegelt auch den inzwischen gefruchteten Ausbau der psychiatrischen Institutionen wider. Das Fazit lautet wenig überraschend:

Zweifellos ist die Psychiatrie und Neurologie in Japan hinsichtlich Studium und Fürsorge in erfreulichem Emporstieg begriffen. Die öffentlichen Irrenanstalten, die der Landessitte gemäß weniger massiv gebaut und im Betrieb wohl einfacher als die Krankenhäuser sind, entsprechen doch den Lebensformen. Ihr Betrieb zeichnet sich durch Reinlichkeit, Ordnung und humanen Ton aus, was durch die ruhige Haltung und die gemessenen Umgangsformen auch seitens der Kranken erleichtert wird […]. Die Kliniken streben nach guten akademischen Leistungen und arbeiten mit reichlichen Mitteln, wenn auch etwas knappen Krankenmaterial. (Ebd.: 83 f.)

Weygandts Darstellung ist also ein schönes Beispiel für die transnationale Verflechtung in der Produktion historischer Narrative, die helfen können einen Transfer von beiden beteiligten Seiten aus zu legitimieren.

Dieses erfolgreiche Erstellen einer national-internationalen Traditionslinie und ihrer Verankerung im japanischen sowie europäischen psychiatrischen Diskurs regt dazu an, dieses diskursive Dickicht weiterhin nach Konstruktionen zu durchforsten, die den reibungslosen Transfer der Psychiatrie nach Japan befördert haben. Oder vielleicht wäre es besser an dieser Stelle von einem diskursiven Geflecht zu sprechen, denn man kann beobachten, wie sich an den Grenzflächen des psychiatrischen Diskurses Verbindungen zur Idee eines japanischen Nationalstaates freilegen lassen. Könnte es zum Beispiel sein, dass sich die Psychiatrie in Japan national legitimiert indem sie rein internationale Kontinuitäten produziert? Angenommen, ihr würde es gelingen das im wundersamen Orient, der exotischen Antithese Europas, liegende Japan als dem Westen verwandt zu charakterisieren, würde die Psychiatrie dann nicht eine wichtige Funktion bei der Identitätskonstruktion eines modernen Japans erfüllen? Es ist eine heikle Gradwanderung, die—ohne Japans Identität und Idiosynkrasie zu untergraben—gleichzeitig vermochte, das Land in ein westliches Kontinuum zu stellen. Was kann darüber hinaus die psychiatrische Terminologie zu diesem Prozess beitragen? Angenommen wissenschaftliche Termini und Begriffe wären nicht einfach neutrale Gebilde, sondern trügen in sich die Spuren von übergeordneten machtpolitischen Strukturen, dann würfe dies die Frage auf, inwieweit beispielsweise die Verwendung psychiatrischer Terminologie von der kolonialen Situation durchdrungen ist (Conrad 2002: 151). Dann wäre auch vorstellbar, dass diagnostische Konzepte in Japan eine doppelte Funktion erfüllten, die zum einen einer europäischen Kolonialisierung entgegenzuwirken gestattete, im selben Schritt aber die eigene koloniale Machtposition zu stärken vermochte.

Dementia praecox und alopecanthropia

Die dementia praecox, die vorzeitige Demenz, war eine der wirkmächtigsten Begriffsschöpfungen der Psychiatrie im 20. Jahrhundert, die von Kraepelin geprägt wurde. In seiner Nosologie konnten unter den Begriff dementia praecox einige bis dahin getrennt behandelte endogene Krankheitsbilder versammelt werden, deren Verlauf gewisse Ähnlichkeiten aufwies. Mit dem typischen Ausbruchsalter in der Jugend und der auffallend raschen Progression sollte diese Form der Demenz laut Kraepelin zu schweren Integritätsstörungen der PersönlichkeitFootnote 7 führen (Kraepelin 1919b: 1–4). Seine unvergleichliche Aufmerksamkeit unter den Psychiatern verdiente die dementia praecox aufgrund seiner relativen Häufigkeit in Europa und Amerika: „Dementia praecox ist ohne Zweifel eine der häufigsten Formen der Geisteskrankheit von allen“ (ebd.: 224).

Im psychiatrischen Diskurs Japans manifestierte sich dieser Begriff erstmals beim Kraepelin-Schüler Miyake (vgl. Miyake 1938: 234). Im Japanese Journal of Neurology and Psychiatry, einer der ersten Publikationen japanischer Psychiater, die auch im internationalen psychiatrischen Diskurs Fuß fassen sollte, veröffentlichte Miyake seine Version einer psychiatrischen Verortung Japans. Unter dem Titel „A Psychiatric Bird’s-Eye View of Nippon“ (Miyake 1926) wurde unter exzessiver Verwendung von Statistiken eine Kartographie der Geisteskrankheiten in Japan entworfen. Laut Dokumentation in der Matsuzawa-Klinik in Tokyo (ebd.: 9 f.), entfiel sowohl bei Männern (4.858 von insgesamt 13.576 Fällen) als auch Frauen (2.064 von 5.437 Fällen) der höchste Anteil an Diagnosen auf dementia praecox.Footnote 8 Aber, und das ist der springende Punkt, es erlaubte der vergleichenden Psychiatrie mannigfaltig unterschiedliche Ausprägungen, nicht nur der dementia praecox, sondern von Psychosen allgemein unter den verschiedenen Völkern der Erde festzustellen. Damit wird eine spezielle Psychose theoretisch von einer pathologischen Kategorie zu einer diffusen Gruppierung von pathologischen Zuständen, die Zuschreibungen einer gewissen psycho-kulturellen Konstitution aus einer ethnozentrischen Perspektive ermöglichen können.

Anfang des 20. Jahrhunderts unternahm Kraepelin eine Reise nach Java, wo er in der psychiatrischen Anstalt Buitenzorg eine Untersuchung zu Kultur- und Rassenspezifika von psychischen Krankheiten durchführte und über die er im Mai 1904 bei der Jahresversammlung des Vereins bayrischer Irrenärzte in einem Referat mit dem Titel „Psychiatrisches aus Java“ (Kraepelin 1904b) berichtete. Die im selben Jahr daraus hervorgegangene Abhandlung „Vergleichende Psychiatrie“ wurde zum Standardwerk der komparativen interkulturellen Psychiatrie.

Von denjenigen Krankheitsformen, für deren Entstehung wir, zunächst wenigstens, bestimmte äussere Ursachen nicht verantwortlich machen können, war die Dementia praecox [Hervorhebung im Original] in dem Sinne, wie wir sie heute umgrenzen, überaus häufig. Allerdings stehen wir hier vor der Frage, wie weit dieses Krankheitsbild eine klinische Einheit bildet. Es wäre möglich, dass sich bei der Auflösung desselben in kleinere Gruppen Unterschiede in der Morbidität der Eingeborenen und der Europäer [Hervorhebung BL] herausstellen. (Kraepelin 1904a: 435)

Es geht also um die differenzierte Ausbildung der Syndrome, die eine Abgrenzung zwischen Selbst und Anderem ermöglicht, was in diesem Fall die nicht weiter differenzierte Einheit der Völker Europas und der indigenen Bevölkerung des kolonisierten Javas ausmacht. Kraepelin kam zum Ergebnis, dass beispielsweise die auf Java sehr häufig auftretenden psychotischen Formen des Látah und des Amok,Footnote 9 zwar keine genuin neuen Klassen von psychischen Störungen darstellen, aber auf „der anderen Seite […] uns bekannt[e] Krankheitsbilder dort Abwandlungen, die wir mit einer gewissen Berechtigung auf Rasseneigentümlichkeiten der Erkrankten zurückführen dürfen“ (ebd.: 437) ausbilden.

Miyake hält gleich auf der ersten Seite seiner vogelperspektivischen Studie fest, in der er sich auf Kraepelins Beobachtungen aus Java bezieht, dass in Japan keine „rassenspezifischen“ Syndrome der Art Amok oder Látah vorkommen. Man kommt nicht umhin die Markierung „spezifisch“ in Bezug auf eine „Rasse“ hier als rassistische Zuschreibung der Rasse der Anderen aufzufassen. Interessanterweise gibt es nämlich eine Ausnahme: Die Ainu,Footnote 10 denen die Ausbildung einer speziellen Art der Hysterie namens imbakko zugeschrieben wird (Miyake 1926: 8). Was Miyake eigentlich vielleicht sagen wollte, war nicht, dass es in Japan keine rassenspezifischen Geisteskrankheiten gibt, sondern dass sie nur bei Japanern nicht auftreten. Japan, das im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts bereits zur Kolonialmacht geworden war, reproduzierte die Gesten der imperialen Vorbilder aus Europa, indem es ebenfalls seine politisch-ökonomisch gestützte Definitionsmacht ausspielte. Denn Miyake führte fort: „Als Beispiele von Geistesstörungen mit spezieller Abhängigkeit von territorialen Verteilungen seien die Fälle von Kretinismus und Opiumsüchtigen von Taiwan (Formosa) und die Eunuchen von Chosen (Korea) angeführt“ (ebd.: 9). Kure schrieb in seinem ebenso auf Kraepelins vergleichende Psychiatrie bezugnehmendem Kompendium,Footnote 11 vom Amok und Látah der Malaien im selben Atemzug wie vom imbakko der Ainu und dem Kretinismus Taiwans (Kure 2003a: 328). Dabei spricht Kure im Fall von Amok, Látah und imbakko unmissverständlich von rassenspezifischen Geisteskrankheiten, und im Fall vom in Taiwan verbreiteten Kretinismus von einer regionalen Geisteskrankheit (ebd.). Allerdings ist es für die vorliegende Analyse gar nicht so sehr von Belang was Kure damit sagen wollte bzw. wie er das Auftreten von Syndromen unter verschiedenen Völkern oder Regionen interpretiert hat. Es geht auch nicht darum Kures Aussagen zu werten, sondern lediglich darum herauszufinden, welche Funktionen diese Aussagen in einem Aussagesystem, also in einem Diskurs, erfüllen können. Lassen sich unter dieser Prämisse nicht politische Effekte des psychiatrischen Diskurses herauslesen, die es Japan erlaubten, den Westmächten „rassisch“ auf einer Augenhöhe zu begegnen? Nur ein Problem tauchte noch auf, nämlich die schon erwähnte auffällige Verbreitung von Phänomenen der Besessenheit in Japan. Diese letzte Hürde sollte Miyake aber mit Bravour überwinden.

Die Auseinandersetzung der Medizin mit der in Japan, aber auch China und Korea, oft anzutreffenden Besessenheit von Füchsen (kitsune-tsuki) und anderen Tieren hat eine lange Geschichte. Ab den 1870er Jahren, als die frühesten medizinischen Zeitschriften in Japan erschienen, wurde die Besessenheit (monotsuki) zu einem der eminentesten Probleme für die junge Psychiatrie. Ärzte diskutierten in den Fachjournalen, ob es sich dabei um eine Form von Geisteskrankheit handele oder nicht. Der deutsche Internist Erwin von Bälz, der 1879 als sogenannter oyatoi gaikokujin Footnote 12 die westliche Medizin in Japan zu etablieren half und die ersten Vorlesungen zur Psychiatrie in Japan hielt, sollte diese Debatte maßgeblich beeinflussen. 1885 legte er in einem Artikel, der in gleich drei japanischen medizinischen Zeitschriften publiziert wurde, eine vollständig psychiatrische Theorie über die Fuchs-Besessenheit vor.Footnote 13 Darin erklärte er das Phänomen der veränderten Sprache und spontan auftretenden Persönlichkeitsspaltung der Besessenen mit einer vorübergehenden Störung, die die beiden Gehirnhälften unabhängig voneinander operieren ließe (Burns 2000: 37–39). Aber dieses Konzept der Besessenheit als Geisteskrankheit konnte sich nicht widerstandslos durchsetzen. Zu fest verankert schienen die traditionellen Vorstellungen von den göttlichen Füchsen, die zur Bestrafung oder aus Rache in die Körper ihrer Opfer fahren. So kam es, dass Sakakis Psychiatriestudenten, darunter auch Kure, die in verschiedenste Gebiete geschickt wurden um Feldforschungen über Besessene anzustellen, beim Versuch diese neue Deutung eines alten Phänomens unters Volk zu bringen auf empfindlichen Widerstand stießen. Oft wurde den Psychiatern der Zugriff auf die Objekte des Interesses verweigert, oder die Angehörigen wollten weder Diagnose noch Therapievorschläge annehmen (ebd.: 39 f.). Dass Teile der Bevölkerung lieber auf den Austreibungsritus zurückgriffen statt ihre Besessenen der Psychiatrie anzuvertrauen, war auch in der Taishō-Zeit noch gang und gäbe (Hyōdō 2008: 22 f.). Die althergebrachten rituellen Praxen und die psychiatrische Methode bestanden geraume Zeit lang nebeneinander, es wurde keineswegs einfach die eine durch die andere abgelöst.

Es drängt sich die Frage auf, wie das nun alles in das Konzept der psychiatrischen Analyse Miyakes von Japan passt? Fuchsbesessenheit als kulturspezifisches Syndrom, das in Europa nur die von der Wissenschaft als Aberglaube verspottete Entsprechung des Teufels- und Dämonenglaube hatte? Miyakes Diskurs löst dieses Problem in zwei Schritten. Erstens, und das ist alles andere als nebensächlich, wird er die Fuchsbesessenheit mit einem medizinisch-wissenschaftlichen Begriff bezeichnen und verschiedene Formen unter die nosologischen Standardkategorien dementia praecox, manisch-depressive Psychose oder Hysterie subsumieren (Miyake 1926: 9). Damit schafft er den Neologismus der Alopecanthropie,Footnote 14 ein Begriff der nur in den Werken Miyakes auftaucht und durch die vorliegende Studie quasi entdeckt wurde (vgl. Miyake 1926: 9; Miyake 1938: 35). Während Kure in seinem Kompendium der Fuchsbesessenheit noch fast ganze drei Seiten widmete (Kure 2002: 104–106), ist in Miyakes Lehrbuch der „Fuchsbesessenheitswahn“ (Miyake 1938: 35) nur mehr ein gewöhnlicher Unterpunkt des Wahns unter vielen anderen, wie dem Gesundheitswahn, dem Beeinflussungswahn, dem Unschuldswahn oder dem Begnadigungswahn, dem ein einziger Satz zukommt: „Die in unserem Land vorkommende Überzeugung von einem Fuchs besessen zu sein: Fuchsbesessenheit, Fuchsbesessenheitswahn Alopecanthropie“ (ebd.: 35). In seiner englischsprachigen Darstellung der Psychiatrie Japans projizierte er das Phänomen bereits einfach in die Vergangenheit: „Das Nippon von gestern hatte Fälle von alopecanthropia“ (Miyake 1926: 9). Immerhin befindet sich Japan im Prozess der Modernisierung, deshalb konnte er das Phänomen Besessenheit trotz seiner relativen Prävalenz zu einem historischen Problem machen, denn die Geisterheiler, Schamanen und fuchsaustreibenden Priester „nehmen in der heutigen Zeit schrittweise ab, gerade proportional mit der Entwicklung der Kultur unter unseren Einwohnern“ (ebd.).

Mit dieser Darstellung dürfte es gelungen sein zu zeigen, wie sich die Psychiatrie im japanischen Diskurs entfaltete, wie sie sich durch die Konstruktion von Traditionslinien und Parallelen zum Westen als gewachsenes Kontinuum darstellte, das sich aus der Revision seiner Geschichte, der Entdeckung der Universalität seiner Tradition und der Anschlussfähigkeit der professionellen terminologischen Klassifizierung speiste. Gerade die vergleichende Psychiatrie Kraepelins erwuchs nicht einfach aus dem humanistischen Interesse an anderen Kulturen, sondern konstituierte im selben Schritt ein orientalistisches Deutungsregime, das es dem Westen, dem sich Japan ja zur Seite stellte, erlaubte seine Identität qua Andersartigkeit zu konstruieren und auch der modernen Medizin, also einer Wissenschaft vom Menschen, einzuschreiben. Neben diesen globalen Machtverhältnissen, die die koloniale Positionierung der Medizin wiederspiegelt, spannten sich gleichzeitig Machtfelder auf nationaler Ebene auf. Denn die Psychiatrie musste auf der einen Seite nationale und internationale Verbindungslinien freilegen, die die junge fragile nationalstaatliche Identität stützten, auf der anderen Seite aber die medizinische Kompetenz als alleinigen Akteur im sozialen Gefüge behaupten.