Lorraine Daston und Elizabeth Lunbeck (Hg.) 2011: Histories of Scientific Observation. Chicago/London: The University of Chicago Press, brosch., 460 S., 22,99 €, ISBN-13: 978-0-22613-678-3.

David Aubin, Charlotte Bigg und H. Otto Sibum (Hg.) 2010: The Heavens on Earth. Observatories and Astronomy in Nineteenth-Century Science and Culture. Durham: Duke University Press, brosch., 384 S., 21,99 €, ISBN-13: 978-0-82234-640-1.

Kann die Lektüre eines Buchs zu Beobachtungen führen? Wohl kaum, möchte man antworten. Gehört es doch gerade zur Tiefenschicht des Beobachtungsbegriffs, sich ostentativ von der vermeintlich windigen Welt der Buchstaben abzusetzen. Aber manchmal lassen sich auch dort Erfahrungen machen. In Bruno Latours und Steve Woolgars Klassiker Laboratory Life stößt man gleich zu Anfang auf einen Abschnitt mit der Überschrift „The Observer and the Scientist“. Die Gegenüberstellung irritiert: Sind die Naturwissenschaften zur beobachtungsfreien Zone geworden? Sicher ist, dass diese Überschrift aufs Allerkürzeste davon zeugt, wo das Banner der Beobachtung heutzutage besonders hoch gehalten wird, nämlich in den Sozialwissenschaften. So ist von der Tätigkeit des Beobachtens in den Laborstudien bevorzugt dann die Rede, wenn ihre Verfasser über sich selbst sprechen.

Traut man dieser Lesefrucht, dann gehört das Beobachten inzwischen nicht mehr ohne Weiteres zu den gemeinsamen Grundlagen der sogenannten empirischen Wissenschaften. Lorraine Daston und Elizabeth Lunbeck gehen in dem von ihnen herausgegebenen Band Histories of Scientific Observation vom Gegenteil aus. Für sie ist Beobachtung weiterhin „the most pervasive and fundamental practice of all the modern sciences, both natural and human.“ Mit der Sammlung von Aufsätzen verbindet sich der Anspruch, Konzept und Praxis des Beobachtens über eineinhalb Jahrtausende als eigenes Forschungsfeld zu umreißen. Hervorragend lösen dies die ersten drei Beiträge ein, die sich mit der langen Geschichte von Beobachtungen vor den modernen Wissenschaften und der allmählichen Herausbildung eines empiriezentrierten Beobachtungskonzepts in der frühen Neuzeit beschäftigen. Passgenau folgen Katharine Park, Gianna Pomata und Lorraine Daston den einzelnen Elementen, die in ‚Beobachtung‘ als epistemischer Kategorie moderner Wissenschaft teils verschlungen, teils hervorgekehrt werden. Um nur einige Punkte zu nennen: Die Bindung an das Beachten von Regeln und das Interesse für das Regellose, die Verknüpfung mit der Produktion von observationes, die das Singuläre versammelnd auf das Allgemeine vorausdeuten, die Abtrennung von der Schlussfolgerung, die Betonung der Eigenhändigkeit, die Paarung von Virtuosentum und Routine, das kollektive Anhäufen von Material und nicht zuletzt die Unterwerfung alltäglicher Formen des Beobachtens; der Blick zum Himmel weicht dem Blick auf das Barometer.

Weniger überzeugt das Publikationskonzept für die folgenden Abschnitte zu evidence, techniques, objects und communities. Dies liegt weder am Übergang zu einer thematischen Ordnung, noch an den einzelnen Beiträgen, von denen jeder für sich Laune auf mehr macht. Aber dies ist zugleich auch das Problem: Der bündige Eindruck des ersten Abschnitts weicht nun einem Kaleidoskop von Geschichten, das den Plural im Titel des Bandes – Histories of Scientific Observation – voll und ganz rechtfertigt. Zwar betonen die Herausgeberinnen zurecht, dass es ihnen bei der Zusammenstellung der Beiträge darum ging, die Fülle der Erscheinungsformen und Fraglichkeiten hervorzukehren, die unter Beobachtung im Singular lauern. Aber eine Präsentation mit scharfen Kanten liefert mehr Stoff für eine Diskussion. Statt dessen seien einige idiosynkratische Akzente gestattet. An den Darstellungen der Brown’schen Bewegung in Zeichnungen und Fotografien (Charlotte Bigg) lässt sich verstehen, wie Beobachtungen im Doppelsinn von Akt und fixiertem Ergebnis immer zugleich für eine beobachtete Sache einstehen und dafür, dass eine Beobachtung stattgefunden hat. Dass Beobachtungen unter Umständen gar nicht so sehr mit der sinnlichen Wahrnehmung, sondern mit der schriftlichen Verarbeitung ihrer fixierten Spuren verknüpft sind, zeigen die Erhebungen der Pariser Société royale de médecine gegen Ende des 18. Jahrhunderts (Andrew Mendelsohn). Von Beobachtungen an Zahlen und dem Problem, ein geeignetes Zahlenmaterial zu erzeugen, erfährt man bei der Betrachtung der ersten Versuche in den 1930er und 1940er Jahren, eine Ökonomie „im Ganzen“ zu analysieren (Mary Morgan). Nimmt man die Ausführungen über die Datenerhebungsstrategien von Soziologen und politischen Ökonomen im 19. Jahrhundert hinzu (Theodore Porter, Harro Maas), hat man schon eine erste Handreichung zur Wandelbarkeit des Beobachtens in der Geschichte der Sozialwissenschaften.

So wie hier gehört es zu den großen Stärken des Bandes, dass man in Winkel vorstößt, die beim Nachdenken über Beobachtung selten eine Rolle gespielt haben. In den Blick rücken damit die Ausfransungen des Beobachtungskonzepts jenseits des üblichen Bezugs auf das Experiment: die Wurstelei von Beobachten und Zählen in den Sozialwissenschaften, die zarte Allianz des Beobachtens mit Fühlen und Mitfühlen in Emotionsforschung und Psychoanalyse (Otniel Dror, Elizabeth Lunbeck) oder auch der kurze Schritt vom Beobachten zur nicht nur wissenschaftlichen Wachsamkeit (Anne Secord). Die größte Lücke besteht hingegen darin, dass nur der Beitrag zur psychologischen Flickerforschung Ende der 1950er Jahre (Jimena Canales) annähernd an die Gegenwart heranreicht.

Komplementär zu Dastons und Lunbecks Histories of Scientific Observation lässt sich der von David Aubin, Charlotte Bigg und Otto Sibum herausgegebene Band The Heavens on Earth lesen. Hier wird genau der entgegengesetzte Weg eingeschlagen: eine Zeitspanne: das 19. Jahrhundert, ein Ort: das Observatorium als Stätte astronomischer Beobachtung und Knotenpunkt zahlreicher damit verbundener wissenschaftlicher Aktivitäten, und ein Komplex von Praktiken und Techniken bestehend aus Präzisionsinstrumenten, mathematischen Werkzeugen, Telegrafie, Fotografie und Organisationsgeist. Um es kurz zu machen, auf dieses Buch hat man lange gewartet: Im Wortsinn, weil sich sein Druck endlos verzögert hat (mit der Folge, dass sich die Literatur weitgehend auf dem Stand des Jahres 2003 befindet), vor allem aber weil es überzeugend zeigt, wie sich die Astronomie des 19. Jahrhunderts in ihrem Kern zugleich als Staatswissenschaft zur Geltung brachte. Dies gilt schon für frühere Zeiten, denkt man an die enge Verbindung von Seefahrt, Kolonisierung und astronomisch gegründeten Navigationsverfahren, aber nun werden aus Sternwarten Latour’sche centers of calculation. Richtet sich der Blick zum Himmel, dann dienen die gesammelten Daten ebenso oft der Fixierung sehr irdischer Dinge: Von der Vermessung des Territoriums über die Produktion von Karten bis zur Angabe und Verteilung der Ortszeit.

In der häufig recht internalistischen Astronomiegeschichtsschreibung erscheinen solche Aspekte eher als Beiwerk, obwohl sie es doch sind, die den Platz des Observatoriums in der Moderne bezeichnen. Es ist darum kein Wunder, dass über einer ganzen Reihe von Beiträgen eine Art „Foucauldian gloss“ (Sven Widmalm) liegt. Man muss nicht erst an das Greenwich Observatory denken (und an die Bombe im Greenwich Park, verewigt in Joseph Conrads The Secret Agent), um in den Sternwarten des 19. Jahrhunderts Symbole und Schauplätze von Disziplinarmacht zu entdecken. So lässt sich die 1839 eröffnete Hauptsternwarte in Pulkowo als Miniatur des Russischen Imperiums unter Zar Nikolaus I. begreifen; hier wie dort „surveillance and spectacle“ (Simon Werrett). Und es sollte auch nicht überraschen, dass in den unruhigen Zeiten des Risorgimento die Sternwarte des Kirchenstaats mit Telegraphenlinien und Beobachternetzwerken die schwindende Souveränität des Papstes zu konsolidieren suchte (Massimo Mazzotti). In die Verwicklung der Astronomie in Kolonialismus, nationale Gesten und die Absichten lokaler Potentaten führen die Beiträge über die französische Expedition nach Siam zur Beobachtung der Sonnenfinsternis von 1868 (David Aubin) und über die klägliche Geschichte des Observatoriums von Paramatta in der Sträflingskolonie Neusüdwales (Simon Schaffer). Kontur gewinnen schließlich auch die engen Verflechtungen zwischen Astronomie und Militär, sei es in der traditionellen Funktion als Lieferant von Know-how für die Seefahrt (Guy Boistel), oder sei es neu mit der topographischen Karte (Sven Widmalm; Martina Schiavon) als „boundary object“.

In der zweiten Hälfte des Bandes begegnet uns die Astronomie dann als Bildungsunternehmen. In Alexander von Humboldts ästhetischen Technologien (John Tresch) ebenso wie in den kosmologischen Inszenierungen an der Berliner Urania gegen Ende des 19. Jahrhunderts (Ole Molvig) verwandelt sich die Beobachtung (bei Humboldt nicht nur) des Himmels in ein Projekt der Menschwerdung. In Paris wird das Observatorium unter Arago zur bürgerlichen Lehranstalt – mit dem Nebengedanken ein Heer von nützlichen Amateurbeobachtern heranzuziehen (Theresa Levitt), während in London die neue Astrophysik ihre Karriere mit populären Vorlesungen des Nature-Gründers J. Norman Lockyer beginnt (Charlotte Bigg). All diese Vorgänge bilden keineswegs nur einen Seitenarm der eigentlichen Wissenschaft. In sie fügt sich nicht zuletzt ein Umbruch in der Astronomie des 19. Jahrhunderts, dessen disziplinäre Seite (Richard Staley) nicht von der imaginären Seite zu trennen ist. Das ‚Uhrwerk‘ Himmel, das die Positionsastronomie alter Schule pflegt, gerät seit den 1860er Jahren mit Bunsens und Kirchhoffs Apparaten zur Spektralanalyse unter Druck. Wo regelmäßiger, vorhersehbarer Lauf herrschte, begegnet einem jetzt, brodelnd und erstarrt, der stoffliche Aufbau; wo eherne Dauer gewiss schien, deutet sich Werden und Vergehen an. Bei so viel erhabener Aussicht kann leicht vergessen werden, wie sehr astronomisches Wissen unseren Alltag gestaltet hat. Diese prosaische Seite des Observatoriums gilt es weiter im Blick zu behalten.

Um den Kreis zu schließen: Die heutige (nicht theoretische) Astronomie misst und rechnet, richtet Antennen aus und kalibriert Detektoren, hat ihre Observatorien teilweise in den Weltraum verlagert und bearbeitet die Datenströme im Büro an Computer und Bildschirm. Man mag das Beobachten nennen, aber mit dem guten alten Blick durch das Fernrohr hat diese armchair-Astronomie nur wenig zu tun. Für das historische Denken liegt hierin eine Chance. Was Beobachtung im Kern ausmacht, lässt sich nicht zuletzt an solchen Situationen studieren, in denen Konzept und Praxis in neuen Begriffen und Vorgehensweisen untergehen.

Christoph Hoffmann, Luzern

Christine Wolters 2011: Tuberkulose und Menschenversuche im Nationalsozialismus. Das Netzwerk hinter den Tbc-Experimenten im Konzentrationslager Sachsenhausen. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, geb., 287 S., 49,00 €, ISBN-13: 978-3-515-09399-6.

Die geschichtswissenschaftliche Erforschung der Humanexperimente in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern hat in der letzten Dekade einen deutlichen Aufschwung erfahren. Dabei ist das jahrzehntelang vorherrschende und vornehmlich der Exkulpation von Ärzteschaft und Wissenschaft dienende Bild von sadistischen Einzeltätern, die in Eigenregie ihre pseudomedizinischen Versuche durchführten, abgelöst worden. Innerhalb der entgrenzten Struktur der Konzentrationslager zeichneten sich die Menschenversuche vielmehr durch eine rationale, durchaus den wissenschaftlichen Ansprüchen der Zeit genügende Herangehensweise aus. Zwar hat dieser Befund mittlerweile eine gewisse empirische Sättigung erreicht, gleichwohl liegen jedoch über die Mehrzahl der durchgeführten Menschenversuche immer noch keine wissenschaftlichen Publikationen vor. Wie wichtig und erhellend diese noch ausstehende (medizin)historische Forschungsarbeit sein kann, beweist die Studie von Christine Wolters über die Tuberkuloseversuche im KZ Sachsenhausen.

Der erste Teil der Publikation von Wolters ist eine kenntnisreiche Darstellung der Tuberkulosebekämpfung in Deutschland zwischen 1920 und 1945. Auch der Umgang mit den Tbc-Patienten im Nationalsozialismus, so eine zentrale These dieses Abschnittes, lässt sich auf die für die NS-Medizin so wichtige interpretatorische Formel vom Heilen und Vernichten bringen. Einerseits wurden große Anstrengungen unternommen, einen Wirkstoff gegen die Tbc-Erkrankung zu entwickeln, andererseits wurden im „Dritten Reich“ nicht nur die Krankheitserreger, sondern auch die Tuberkulosekranken selbst bekämpft. Dies zeigt sich sowohl an den eugenischen Maßnahmen gegen Patienten als auch an den mitunter tödlich verlaufenden Tuberkuloseversuchen in den Konzentrationslagern. Der zweite Teil der Arbeit hat demzufolge die Humanexperimente in Sachsenhausen zum Thema.

Die Tuberkulose war innerhalb der Konzentrationslager weit verbreitet. Dies bedeutete für das dortige medizinische Personal eine latente Ansteckungsgefahr, gleichzeitig jedoch auch ein nahezu unbegrenztes Potential an Versuchspersonen. In den Jahren 1941 bis 1943 wurde im KZ Sachsenhausen eine Versuchsreihe an tuberkulosekranken Häftlingen durchgeführt. Die von der SS beauftragten und finanzierten Experimentatoren, das niederländische Brüderpaar Gualtherus und Herman Zahn, behandelten eine ausgewählte Häftlingsgruppe mit einem von ihnen selbst entwickelten homöopathischen Inhalat. Eine sogenannte Vergleichsgruppe wurde von den dort eingesetzten SS-Ärzten nach dem aktuellen Stand der Schulmedizin therapiert. Die von Christine Wolters lückenlos rekonstruierten Menschenversuche machen eine Kooperation zwischen wissenschaftlicher Tuberkuloseforschung, pharmazeutischer Industrie und SS-Forschungsförderung deutlich. Vor allem Heinrich Himmlers Bedeutung als „Gesundheitspolitiker“ und (finanzieller) Förderer von Humanexperimenten – bisher ein dringliches Forschungsdesiderat – wird von Wolters eingehend konturiert. Darüber hinaus gelingt es der Autorin mit bemerkenswerter Akribie, auch das weitere Netzwerk hinter den Tbc-Versuchen in Sachsenhausen nachzuzeichnen. Alle an der Planung und Durchführung beteiligten Personen und Institutionen bis hin zur Pharmafirma, die das Zahn’sche Medikament bis Kriegsende an die SS veräußerte, werden dabei konsequent und überzeugend in den historischen Kontext der NS-Menschenversuche eingebettet.

Zu monieren an dieser ansonsten vorzüglichen Studie ist allenfalls das Fehlen eines abschließenden Resümees. Es wäre für den Leser sicher hilfreich gewesen, am Ende noch einmal die Forschungsergebnisse komprimiert dargelegt zu bekommen. Dieser Einwand ändert jedoch nichts daran, dass Christine Wolters in ihrer Studie historische Aufklärungsarbeit im besten Sinne betreibt.

Philipp Rauh, Erlangen

Christoph Gradmann und Jonathan Simon (Hg.) 2010: Evaluating and Standardizing Therapeutic Agents, 1890–1950. Basingstoke: Palgrave Macmillan, geb., 288 S., £ 55,00, ISBN-13: 978-0-230-20281-8.

Historische Praktiken der Standardisierung und Evaluierung von therapeutischen Wirkstoffen erfreuen sich in jüngster Zeit in der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte großer Aufmerksamkeit. Dies zeigen das Netzwerk der European Science Foundation http://www.drughistory.eu und der Band Harmonizing Drugs, den Christoph Bonah 2009 herausgab. Die von Christoph Gradmann und Jonathan Simon vorgelegte Aufsatzsammlung leistet mit einem breiten Spektrum empirischer Befunde einen wichtigen Beitrag zur Geschichte dieser modernen Kulturtechnik, die sich als „technology of trust“ (Theodore M. Porter) in einer seit dem Ende des 19. Jahrhunderts industrialisierten und internationalisierten Medikamentenproduktion entwickelte – so einleitend die Herausgeber. Die historiographisch recht heterogenen Beiträge folgen keiner klar formulierten Leitfrage. Sie lassen sich jedoch als ein Itinerar des von Paul Ehrlich in den 1890er Jahren entwickelten Verfahrens zur Wertbestimmung von Diphtherieserum lesen.

So beginnt der Band mit einer ausführlichen Vorstellung der Biographie und Evaluierungstechnik Ehrlichs durch Cay-Rüdiger Prüll. Er erläutert das Ehrlich’sche Verfahren, das auf einer standardisierten „letalen Dosis“ des Diphtherieerregers beruhte, gegen die im Tierversuch ein Serum getestet wurde. Von hier aus kann der Weg der Wertbestimmung in andere lokale und funktionale Settings verfolgt werden:

Anne I. Hardy stellt dar, wie es Ehrlich im Rahmen der Debatte um die Evaluierung von Tetanusserum gelang, sein Institut zu einer nationalen Kontrollinstitution für Therapeutika zu machen. Gabriel Gachelin zeigt überzeugend, dass eine „Kultur der Standardisierung“ am Institut Pasteur als Reaktion auf die deutschen Praktiken der Qualitätssicherung beim Diphtherieserum entstand. Jonathan Simon erweitert diese These und weist darauf hin, dass die Evaluierung des Serums in Paris deshalb so zentral wurde, weil die Existenz des durch Spenden finanzierten Instituts von der Wirksamkeit und vor allem der Ungefährlichkeit des Serums abhing. Daher war auch keine unabhängige staatliche Kontrolle notwendig, um das Institut zur Einhaltung von Qualitätsstandards anzuhalten. Auch in der Schweiz kam man bis 1926 ohne eine zentrale nationale Kontrollinstanz für Heilsera aus – so Mariama Kaba in ihrem Beitrag. Am Staatlichen Seruminstitut in Kopenhagen wurde Ehrlichs Methode der Wertbestimmung übernommen. Dies war, wie Anne Hardy zeigt, vor allem seinem Direktor, Thorvald Madsen, zuzuschreiben, der bei Ehrlich ausgebildet wurde und die Frankfurter Evaluierungsmethoden den Pariser vorzog. Madsen und sein Institut sollten in der Zwischenkriegszeit dann zum Motor der Standardisierungskommission des Völkerbundes werden. Die Arbeit dieser Kommission beschreibt Pauline M. H. Mazumdar in ihrem Beitrag. Sie verweist darauf, dass deren Mitglieder die geteilte Ausbildungserfahrung bei Ehrlich in Frankfurt einte und diese eine wichtige Grundlage für die internationale Zusammenarbeit im Bereich der Standardisierung in den 1920er Jahren darstellte.

Eine genaue Analyse des Verfahrens von Standardisierung und Evaluierung bietet Axel Hüntelmann in seinem interessanten Beitrag. Er versteht das Vorgehen zur Wertbestimmung von Diphtherieserum als Verwaltungstechnik und betont die besondere Bedeutung der Einbindung von Kontrollbüchern in das soziotechnische Netzwerk zur Produktion und Kontrolle des Serums. Diese entpersonalisierte und auf absolute Kontrolle ausgerichtete Form der Wertbestimmung Ehrlichs konnte für die von Almroth Wright zu Beginn der 1900er in London entwickelte Vakzintherapie nicht eingehalten werden. Michael Worboys zeigt in seinem Beitrag eindrucksvoll, dass der „Wright Way“ der Qualitätssicherung auf einer nur bei Wright selbst zu erlernenden Technik basierte und von der Moralität eines jeden Wissenschaftlers abhing, also von der strikten Einhaltung individuell festgelegter Standards, kritischer Selbstreflektion und Arbeitsdisziplin.

Der Standardisierung und Evaluierung in der industriellen Medikamentenproduktion widmen sich Christian Bonah (Strophanthin) und Jean-Paul Gaudillière (Sexualhormone) in ihren Aufsätzen. Ulrike Lindner beschreibt in einem stark von linearen Kausalzusammenhängen ausgehenden Beitrag, wie unterschiedliche öffentliche Gesundheitssysteme, Sozialstrukturen und Wissenschaftskulturen in Deutschland und Großbritannien zu einer jeweils anderen Risikoeinschätzung des 1954 in den USA eingeführten inaktivierten Polio-Vakzins führten.

In seinem Nachwort zum Band warnt Albert Cambrosio ausdrücklich vor einer solchen Medizingeschichtsschreibung, die von externen Faktoren ausgeht, die auf ein inneres Feld der Medizin und Wissenschaft wirken. In den dargestellten Formen von Standardisierung erkennt er den Übergang von einer „mechanischen Objektivität“ zu einer „regulativen Objektivität“, die weniger auf tacit knowledge als auf explizite Konventionen baut, und kennzeichnend für die Biomedizin des 20. Jahrhunderts werden sollte. Die Technik der Ehrlich’schen Wertbestimmung war für die Entwicklung dieser „regulativen Objektivität“ maßgeblich – dies geht aus dem Band eindeutig hervor. Darüber hinaus eröffnet er von der Verortung der Wertbestimmung im europäischen Kontext ausgehend eine historische Perspektive auf Praktiken der Standardisierung und Evaluierung, die die soziotechnischen Netzwerke medizinischer Arbeit veränderten und neue Konfigurationen von Medizin, Staat und Industrie schufen.

Katharina Kreuder-Sonnen, Gießen

Klaus Staubermann (Hg.) 2011: Reconstructions. Recreating Science and Technology of the Past. Edinburgh: National Museums Scotland (NMS), 276 S., brosch., £ 25,00, ISBN-13: 978-1-905267-48-4.

Rekonstruktionen (oder Replikationen) gehören seit Jahrzehnten zur gängigen Forschungspraxis der Wissenschafts- und Technikgeschichte. Sie mögen nicht so zentral verhandelt werden, wie es sich manche Vertreter dieser Ansätze wünschen, doch eine Reihe beachtenswerter Fallstudien hat beharrlich und immer wieder das Potential solcher Rekonstruktionen aufgezeigt. Klaus Staubermann, dem Kurator für Technologie an den National Museums in Edinburgh, ist es 2009 gelungen, einen weit gespannten, internationalen Workshop zu diesem Themenkomplex zu organisieren. Der daraus entstandene Sammelband stellt zwölf Rekonstruktionsprojekte näher vor. Das Spektrum reicht von wissenschaftlichen Instrumenten und Experimenten (wie etwa Sonnenmikroskop, Astrophotometer, Elektrizitätslehre des späten 18. und des 19. Jahrhunderts) über technische Artefakte und Verfahren (darunter römische Textilfärberei, Wikingerschiffe, Lokomotiven) bis hin zum Malstudio eines Johannes Vermeer. Diese Bandbreite ist die Stärke des Buches, denn sie lässt die Möglichkeiten solcher Rekonstruktionen aufblitzen und lädt zugleich zum disziplinübergreifenden Gespräch ein. Wer einen Einblick in die Bandbreite existierender Rekonstruktionsprojekte gewinnen möchte, dem kann der Sammelband nur ans Herz gelegt werden.

Aufgrund der Heterogenität der Einzelbeiträge ist jedoch das Ganze leider weniger als die Summe der Teile. Die zusammengetragenen Arbeitsberichte, denn um solche handelt es sich weitgehend, erlauben es, den handgreiflich forschenden Wissenschafts- und Technikhistoriker und Kuratoren einen interessanten Blick über die Schulter zu werfen. Leider gerät jedoch mancher Beitrag zu langatmig oder verliert sich in (persönlichen) Details. Eine stärkere Verknüpfung der Projektberichte mit den leitenden historischen Fragestellungen hätte dem Sammelband gut getan. Der Anspruch, durch Rekonstruktionen könne ein besseres Verständnis historischer Prozesse erzielt werden, wird daher nur in einem Teil der Beiträge eingelöst.

Wie viele andere Tagungsbände leidet auch der vorliegende darunter, dass die Beiträge nicht ausreichend im Lichte des vor Ort Diskutierten überarbeitet wurden. So skizzieren die Autoren durchaus unterschiedliche Grundpositionen und Haltungen, sprechen wechselnd von „reconstructing“, „recreating“ oder „replicating“, ohne dass es – für den Leser erkennbar – zu einer weiterführenden Diskussion, Klärung und Differenzierung der verwendeten Begriffe kommt. Die Vielzahl der Ansätze zu bündeln, stärker aufeinander zu beziehen und grundlegende Positionen in dem behandelten Feld zu explizieren, bleibt so eine Aufgabe für die Zukunft.

Potential und Breite der Replikationsmethode werden in dem vorgelegten Sammelband also sichtbar, neue Impulse für die Zukunft finden sich dagegen weniger. Es bleibt der Eindruck, dass die Diskussion solcher Rekonstruktionen in Teilen der Wissenschafts- und Technikgeschichte weiter ist, als es dieser Sammelband wiederzugeben vermag. Die Verbreiterung des Spektrums der Rekonstruktionsansätze geht zu Lasten der inhaltlichen und methodischen Präzision. Geht es vorrangig um einen Nachweis, dass bestimmte historische Artefakte in einem technischen Sinne funktionieren konnten? Ist die Replikation eher ein exploratives und spekulatives Hilfsmittel des Historikers, bei dem historische Experimente auch unter Zuhilfenahme moderner Hilfsmitteln untersucht werden können? Spielt Quellentreue dabei doch eine wesentliche Rolle, weil Fähigkeiten und Fertigkeiten der historischen Akteure im Zentrum des Interesses stehen? Der Sammelband folgt eher dem Motto anything goes, Grenzen werden zu selten kritisch diskutiert. Nun sollte freilich von einem Workshop und einem daraus entstandenen Sammelband nicht zu viel verlangt werden. Doch es zeigt sich auch die Gefahr, dass der viel versprechende Ansatz wieder zurückfällt in ein Nischendasein, betrieben von zahlreichen Enthusiasten, doch letztlich ohne grundsätzliche Bedeutung für die moderne Wissenschafts- und Technikgeschichte. Aus dieser Perspektive stellt der Sammelband Wissenschafts- und Technikhistorikern nicht nur die Frage, welche Tragweite sie der Rekonstruktionsmethode tatsächlich zubilligen, sondern auch, wie sie mit Beiträgen von nicht akademisch verankerten Forschern umgehen. Wer wagt es schon, mit dem Nachbau eines Wikingerschiffs monatelang durch die raue Nordsee zu segeln? In diesem Sinn ist zu hoffen, dass der in den Beiträgen spürbare Enthusiasmus ansteckend wirkt und neue Rekonstruktionsprojekte ermutigt, dass aber auch die nötige reflexive Schärfe in künftigen Beiträgen stärker zum Tragen kommt.

Christian Sichau, Heilbronn

Helga Satzinger 2009: Differenz und Vererbung. Geschlechterordnungen in der Genetik und Hormonforschung 1890–1950. Köln: Böhlau Verlag, geb., 49,90 €, 484 S., ISBN-13: 978-3-41220-339-9.

Dieses überaus anregende und materialreiche Buch stellt eine gelungene Synthese aus Wissenschaftsgeschichte und Gender Studies dar. Helga Satzinger analysiert die sozialen und symbolischen Geschlechterordnungen in der Geschichte der Biowissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts anhand von drei exemplarischen Konstellationen: der heraufziehenden Genetik um 1900 am Beispiel der Chromosomenforschung des Ehepaars Theodor und Marcella Boveri; der Ausdifferenzierung von Genkonzepten und Theorien zur biologischen Geschlechtlichkeit im Werk von Richard Goldschmidt in den 1920er Jahren sowie der sich in den 1930er Jahren etablierenden Forschung zu sogenannten Geschlechtshormonen in der Arbeitsgruppe des Biochemikers und späteren Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft Adolf Butenandt.

Nur auf den ersten Blick wählt Satzinger damit scheinbar disparate Fallstudien. Bei der Lektüre werden schnell die vielfältigen personellen Verflechtungen deutlich, deren institutionelles Zentrum die Kaiser-Wilhelm-Institute für Biologie und Biochemie in Berlin-Dahlem bildeten. Durch die Fokussierung auf einflussreiche Biowissenschaftler dreier Generationen wirft die Autorin en passant auch ein Licht auf die Genealogie wissenschaftlicher Schülerschaften und sozialen Netzwerke im Feld der Biowissenschaften in Deutschland im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts.

Obwohl Wissenschaftlerinnen in zahlreichen Feldern an der Forschung mitgewirkt haben, war ihre soziale Stellung in diesem weitverzweigten und losen wissenschaftlichen Netzwerk prekär. Hier setzt die Autorin an: Sie geht der Leitfrage nach, wie sich die soziale und hierarchische Geschlechterordnung, die in der Praxis des wissenschaftlichen Arbeitens vorherrschte, auf die erarbeiteten wissenschaftlichen Konzepte auswirkte. Dass jedoch soziale und symbolische Geschlechterordnungen keineswegs parallel verlaufen oder gar zur Deckung kommen, sondern zwei „Handlungs- und Herstellungsbereiche“ darstellen, die in einem „höchst widersprüchlichen Verhältnis zueinander stehen“ (S. 37) können, wird in der Studie deutlich. Die Ambivalenzen zeigen sich insbesondere in der frühen genetischen Forschung, wo sich ein subtiler und oft widersprüchlicher gender bias in biowissenschaftlichen Vorstellungen von Vererbung bemerkbar machte und auf die Konzeption ihrer zentralen Objekte – Chromosomen, Keimzellen, Gene – auswirkte.

Im ersten Kapitel, das die Forschung des deutsch-amerikanischen Ehepaars Theodor Boveri und Marcella O’Grady im liberal-bürgerlichen Milieu der Jahrhundertwende beschreibt, präsentiert Satzinger eine bislang fehlende Analyse der Frühgeschichte der Genetik aus der Perspektive der Geschlechterforschung. Die Autorin zeichnet ein differenziertes Bild der sich formierenden genetischen Forschungslandschaft, deren zentrale Konzepte noch strittig waren, etwa die Theorien zur biologischen Rolle von Sexualität, zur Geschlechterdetermination im Vererbungsgeschehen, zu Befruchtungs- und Reproduktionsvorgängen. Als ein überraschender Befund ergibt sich, dass die Chromosomentheorie der Vererbung in der zeitgenössischen Rezeption eher ambivalente Anschlussstellen zur neuen Mendel-Genetik bereitstellte. Mit ihrer Betonung des gleichbedeutsamen (nämlich chromosomalen) Beitrags von Männern und Frauen zur Fortpflanzung beinhaltete die Chromosomentheorie der Vererbung nur vordergründig ein Modell der Geschlechteregalität. Satzingers facettenreiche Rekonstruktion des Werks der Boveris zwischen 1890 und 1915 führt anschaulich vor Augen, wie die Darstellungen zellulärer Verhältnisse zwischen einem Modell egalitärer Geschlechterkooperation und einem hierarchischen zweigeschlechtlichen Modell mit letztlich doch eindeutigem Primat des Männlichen oszillierten.

Das zweite Kapitel behandelt die Arbeiten Richard Goldschmidts, der von 1913 bis zu seinem durch die Nationalsozialisten erzwungenen Ruhestand im Jahre 1935 am Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie in Berlin-Dahlem zunächst als Abteilungsleiter und später als Direktor tätig war. Sensibel beschreibt die Autorin einen wissenschaftlichen Lebensweg, der früh durch antisemitische Ressentiments geprägt wurde und schließlich durch die erzwungene Emigration in die USA in gänzlich neue Bahnen geriet. Satzinger diskutiert Goldschmidts Genkonzept sowie sein genetisches Modell für das Vorkommen von „sexuellen Zwischenstufen“ und die dem zugrundeliegende nicht-binäre Geschlechterordnung als Ausdruck der Moderne der Weimarer Republik. Die durchaus ambivalente Rezeption von Goldschmidts Arbeiten im eugenischen und medizinischen Feld der 1920er Jahre wird von der Autorin nur skizzenartig angedeutet.

Die Stärke des in der Studie gewählten Zugangs, der soziale Geschlechterordnungen und konzeptionelle Entwicklungen an die Biographie der Akteure rückbindet, verdeutlicht sich vor allem im dritten Kapitel, das die Arbeiten von Adolf Butenandt behandelt. In der Wissenschaftsgeschichte hat es im letzten Jahrzehnt ein großes Interesse an dem Biochemiker und seinen Verflechtungen mit dem nationalsozialistischen System gegeben. Satzinger gelingt es gleichwohl, weitere Aspekte der Forschungsorganisation im Butenandt’schen Labor zu akzentuieren, gerade weil sie erstmals persönliche Dokumente, etwa den Briefwechsel mit seinen Eltern, umfassend auswertet. Satzinger verfolgt die seit den späten 1920er Jahren steil verlaufende Karriere des Biochemikers und beschreibt, wie der Beitrag seiner Ehefrau Erika von Ziegner, die als technische Assistentin maßgeblich beteiligt war an der Forschung zu Sexualhormonen, die Butenandt 1939 den Nobelpreis für Chemie einbrachte, nach ihrer Heirat zunehmend in den Hintergrund geriet. Butenandts völkisch-nationale politische Grundhaltung sah eine strikt binäre Geschlechterordnung vor, die ihren Niederschlag in der sozialen Arbeitsorganisation seines Labors fand und sich nachhaltig auf seine konzeptionelle Arbeit am Begriff des Geschlechtshormons auswirkte.

Es ist das große Verdienst dieses Buches, die vielfältigen und teilweise sehr subtilen Zusammenhänge zwischen sozialer Arbeitsorganisation in den Wissenschaften, naturwissenschaftlichen Konzeptionen und den kulturellen Voraussetzungen ihrer Entstehungen zu verdeutlichen. Die Autorin leistet dies, indem sie eng am historischen Detail argumentiert. Für eine theoretisch orientierte Genderforschung mag es an manchen Stellen Anknüpfungspunkte für weitergehende, in der Studie nicht explizierte theoretische Reflexionen geben. Für die Wissenschaftsgeschichte hat Satzinger mit dieser beeindruckenden Studie einen blinden Fleck der bisherigen Forschung beseitigt.

Christina Brandt, Bochum

Niccolò Guicciardini 2009: Isaac Newton on Mathematical Certainty and Method. Cambridge, MA/London: The MIT Press, geb., 448 S., 43,99 €, ISBN-13: 978-0-262-01317-8.

Die gute alte Newtonian Industry (R. S. Westfall) hat weiterhin Hochkonjunktur, und angesichts ihrer mittlerweile enormen Produktpalette mag es erstaunen, dass es sich bei dem vorliegenden Werk um die erste Monographie handelt, die den augenfälligen, gleichwohl oft übersehenen oder aber fehl interpretierten Zusammenhang zwischen mathematischer Erkenntnisgewissheit als epistemischem Leitideal Newtonscher Wissenschaft einerseits und der Methodenlehre Newtons sowie der Vielfalt seiner tatsächlich praktizierten mathematischen Methoden andererseits in den Mittelpunkt stellt.

Die Behandlung dieser Thematik behält der Verfasser bei allen, zum Teil technisch recht anspruchsvollen Detailforschungen stets im Auge. Das Buch gliedert sich in sechs Teile mit insgesamt 17 Kapiteln. Im ersten Teil rekonstruiert Guicciardini einführend neben Newtons Weg zur Mathematik auch seine frühe und wirkungsmächtige Opposition zu Descartes. Folglich ist der zweite Teil Newtons kritischer Auseinandersetzung mit Descartes‘ Geometrie und dessen Umdeutung der traditionellen Methoden ‚Analyse‘ und ‚Synthese‘ gewidmet. Im dritten Teil untersucht der Autor, ausgehend von Wallis‘ Behandlung unendlicher Reihen, Newtons eigenen analytischen Zugang, der ihn bald zu seiner Fluxionsrechnung führte und deren synthetische Einkleidung später für so viel Verwirrung sorgen sollte. Im vierten Teil führt Guicciardini aus, wie Newton seine Mathematik in den Principia für die Mechanik fruchtbar macht und zugleich in ihren innovativen Teilen verbirgt. Der fünfte Teil bildet das Zentrum des Buches und ist insofern besonders interessant, als hier gezeigt wird, wie Newton sich auf die Tradition der antiken Geometrie und deren Methodenlehre bezieht, um die Exaktheit und Sicherheit seiner neuen Mechanik zu untermauern. Der sechste Teil ist schließlich dem berüchtigten Streit zwischen Newton und Leibniz über die Priorität der Entdeckung der Infinitesimalrechnung gewidmet, zu dem das Buch – obwohl die Literatur dazu wahrlich Legion ist – durchaus noch Neues beiträgt, nämlich zur Rationalität von Newtons wechselnden Publikationsstrategien.

Guicciardinis Bilanz zu der Frage, wie der Mathematiker und der Philosoph Newton zueinander stehen, fällt ausgewogen und zugleich kritisch aus: Newtons Beiträge zur Mathematik werden fast durchgehend als originell und fruchtbar ausgewiesen, zugleich aber auch als methodisch recht heterogen und unsystematisch. Vor allem aber würden sie oft seinen Philosophemen nicht gerecht: Es gibt eine starke, von Newton letztlich nicht aufgelöste Spannung zwischen seiner Berufung auf die antike Geometrie (insbesondere Euklid) und Methodenlehre (insbesondere Apollonius‘ Ausführungen zur Analyse und Synthese), die einerseits geradezu als Garanten mathematischer Sicherheit in der Naturphilosophie dienen und andererseits seinen innovativen mathematischen Beiträgen zur Algebra und zur Fluxionsrechnung. So bleibt auch Newtons Kritik an Descartes letztlich zweischneidig: In seinen metatheoretischen und historischen Reflexionen beruft er sich häufig gegen Descartes auf das Sicherheits- und Exaktheitsideal der Alten, namentlich deren synthetische Methode in der Geometrie, während er in seiner mathematischen Praxis in der Regel (und oft versteckt) der algebraischen Analyse im Sinne Descartes‘ verpflichtet bleibt. Der Methodologe Newton bleibt ganz offenkundig – wie die Geschichtsschreibung hier nicht zum ersten Mal konstatieren muss – hinter dem Mathematiker Newton deutlich zurück.

Guicciardinis jüngstes Buch belegt einmal mehr seine ausgezeichnete Kennerschaft der veröffentlichten wie auch unveröffentlichten Schriften Newtons sowie der Mathematik dieser Zeit. Es handelt sich hier um eine ebenso akribische wie umsichtige historische Analyse, geradezu um eine mathematikgeschichtliche Meisterleistung. Sicher hätten manche philosophiegeschichtlichen Bezüge noch deutlicher herausgearbeitet werden können, so etwa Newtons axiomatisch-deduktives Wissenschaftsverständnis, die Funktion der Induktion für dieses Verständnis, die bei ihm anzutreffende ‚Prinzipienevidenz‘ oder sein Verhältnis von Axiomatik und Empirie im Allgemeinen. Gleichwohl ist dieses Buch auch aus letzterer Perspektive bedeutsam, denn es untermauert eindrucksvoll, was die neuere Geschichtsschreibung gegen die Legendenbildungen des 19. Jahrhunderts und des Logischen Empirismus aufgezeigt hat: Newton war kein Vertreter einer modernen, hypothetisch-deduktiven Wissenschaftsauffassung, sondern Verfechter eines durchaus klassischen Wissenschaftsbegriffs mit all seinen certistischen Erkenntnisansprüchen und Begründungsaporien. Sowohl der Mathematik- als auch der Philosophiehistoriker kann daher die (allzu zaghafte) Hoffnung des Verfassers im Schlusssatz dieses hervorragenden Buches vollauf bestätigen und bekräftigen: „I hope that this book, by looking at these aspects of Newton’s thought and work, will be of some help to Newtonian scholarship“.

Helmut Pulte, Bochum

Simon Schaffer, Lissa Roberts, Kapil Raj und James Delbourgo (Hg.) 2009: The Brokered World: Go-Betweens and Global Intelligence, 1770–1820. Sagamore Beach: Science History Publications, geb., 522 S., 127,95 €, ISBN-13: 978-0-88135-374-7.

Das Personal der Wissenschaftsgeschichte ist mit diesem Band vermutlich um eine weitere Figur bereichert worden, vielleicht sogar um eine neue Form der Hagiographie. In elf sehr detailreichen, aber doch fesselnd geschriebenen Beiträgen loten Herausgeber und Autoren die Rolle aus, die „Vermittler“ (go-betweens) bei der Akkumulation und Übersetzung von Wissen an der Epochenschwelle um 1800 gespielt haben, als sich zwischen Südamerika, Europa und Südostasien ein ausgeprägtes Welthandelssystem etablierte (S. xi).

So schillernd die in diesem Band behandelten Personen im Einzelnen sind, so vieldeutig ist auch der leitende Begriff des go-betweens. Wie die Herausgeber in ihrer Einleitung hervorheben, kann go-between Makler, Unterhändler und Botschafter bedeuten, aber auch weniger respektable Personen wie Kuppler, Spione oder Hochstapler bezeichnen (Frauen spielen übrigens interessanterweise so gut wie keine Rolle). Gemeinsam ist diesen Figuren, dass sie auf Grund ihrer Übersetzungsfertigkeiten „Beziehungen zwischen disparaten Welten und Kulturen artikulieren“ (S. xiv). Das wissenschaftshistorische Interesse an dieser sozialen Funktion begründen die Herausgeber mit Georg Simmel. „Weil er nicht von der Wurzel her für die singulären Bestandteile oder die einseitigen Tendenzen der Gruppe festgelegt ist,“ schrieb Simmel 1908 in einer von den Herausgebern zitierten Passage in seinem Exkurs über den Fremden, „steht er allen diesen mit der besonderen Attitüde des ‚Objektiven‘ gegenüber, die nicht etwa einen bloßen Abstand und Unbeteiligtheit bedeutet, sondern ein besonderes Gebilde aus Ferne und Nähe, Gleichgültigkeit und Engagiertheit ist.“ (S. xiv)

Beeindruckend ist die geographische und disziplinäre Breite, mit der die Rolle von go-betweens in der Geschichte der Wissenschaften im Zeitraum von 1770 bis 1820 ausgeleuchtet wird. Viele Beiträge wählen dabei einen biographischen Ansatz. Simon Schaffer etwa zeichnet anhand der Zusammenarbeit zwischen dem Diplomaten Taffazul Ḥusain Khān (1727–1798) und dem englischen Kartographen Reuben Burrow (1747–1792) an einer arabischen Übersetzung von Newton’s Principia nach, wie die dadurch beförderte Renaissance antiker, hinduistischer Astronomie in den Dienst britischer Herrschaftsinteressen gestellt wurde (S. 68). Neil Safier widmet sich den plagiatorischen Aktivitäten des Brasilianers Hipólito da Costa (1774–1823), der 1799 im Auftrag der portugiesischen Krone die USA bereiste, um das gerade in Lissabon gegründete Verlagshaus Arco do Cego mit Informationen über dortige Naturprodukte und deren industrielle Verwertung zu versorgen.

Hat man es hier schon mit Formen staatlich unterstützter „Industriespionage“ (S. 246) zu tun, so handelt James Delbourgos Beitrag von einem tatsächlichen Doppelspion, dem Amerikaner Edward Bancroft (1744–1821), der sein in Guayana erlangtes Wissen über Geheimtinten und Gifte nicht nur praktisch einsetzte, sondern auch dazu nutzte, um sich eine Reputation als „philosophical gentleman“ in den Debatten um Lavoisiers Chemie und Newtons Farbenlehre im London der 1790er Jahre zu verschaffen (S. 273). David Turnbull zeigt in vier biographischen Skizzen aus der Frühgeschichte der Kolonisierung Australiens auf, dass die Ambivalenz zwischen Übersetzung und Verrat geradezu konstitutiv für die Rolle von Kulturvermittlern ist (S. 388). Zwei weitere Beiträge, der von Margaret O. Meredith zu Petrus Camper (1722–1789) und seiner dreißigjährigen Beschäftigung mit dem Mammut, sowie der von Juan Pimentel zur Naturaliensammlung des Peruaners Pedro Franco Dávila (1711–1786), fokussieren den Blick auf Wirbeltierfossilien, deren Seltenheit und Attraktivität besonders lange Translationsketten ins Leben riefen.

Andere Beiträge sind eher prosopographisch oder systematisch orientiert. Lissa Roberts zeigt anhand der Korrespondenz der Niederländischen Gesellschaft für Experimentelle Philosophie, dass Erfindungen wie die Dampfmaschine aus einem dichten und globalen Beziehungsgeflecht von manchmal dubiosen Projektemachern hervorgingen. Robert Liss und Kapil Raj gelingt es in ihren Beiträgen, den sonst üblichen Blick auf außereuropäische Räume umzudrehen: Liss legt überzeugend dar, wie der Isolation Japans unter der Tokugawa-Dynastie eine kameralistische Ideologie (S. 19) und eine sehr bewusste Beschäftigung mit Japans Platz in der Welt (S. 32) entsprach. Raj macht darauf aufmerksam, dass die indopazifischen Wirtschaftsräume, in die sich Europäer seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts einschalteten, bereits über hochspezialisierte, meist in städtischen Zentren angesiedelte Wissenskulturen verfügten, die das für den Fernhandel erforderliche nautische, juristische und linguistische Wissen bereithielten (S. 107 f.). Emma Spary lädt schließlich den Leser zu einem Blick nach innen ein. Brilliant führt sie vor, wie die „Selbsterhaltung“ (self preservation) reisender Europäer nicht zuletzt von den Nahrungsmitteln abhing, die sie mit sich nehmen konnten (S. 360).

Die meisten Beiträge umfassen mehr als vierzig, mit umfangreichen Fußnoten versehene Seiten, auf denen die Figur des go-betweens aus einander ergänzenden Perspektiven und in weltgeschichtlicher Absicht beleuchtet wird. Sajay Subrahmanyam diskutiert in seinen knappen „afterthoughts“ hingegen Versuche, die Rolle des go-betweens zu rationalisieren. Nur wenn Transaktionen zu scheitern drohen, weil die involvierten Parteien nicht ohne weiteres zueinander finden, wird der Vermittler nötig. Ökonomie und Spieltheorie haben bis heute Schwierigkeiten, diese „unproduktive“, ja „parasitäre“ Rolle theoretisch zu fassen, die oft Hass und Verachtung auf sich gezogen hat (S. 430–432). Historiker dagegen, so Subrahmanyam gleich zu Beginn, lieben den „cultural broker“, und gefallen sich auch selbst in dieser Rolle, wie dieser Band beindruckend zeigt.

Staffan Müller-Wille, Exeter