Zusammenfassung
Unter welchen Voraussetzungen entstehen neue Märkte? Diese Frage wird in der wirtschaftssoziologischen Forschung in erster Linie mit dem Verweis auf technologische Innovationen, Preisveränderungen und politische Regulierung beantwortet. Wir zeigen am Beispiel der historischen Entwicklung der Totenfürsorge in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert, dass kultureller Wandel jedoch eine ebenso wichtige Voraussetzung für Marktentstehung ist. Wir unterscheiden dabei drei Entwicklungsstufen des Bestattungsmarktes, die jeweils mit einschneidenden kulturellen, demografischen und institutionellen Veränderungen einhergingen und damit die Grundlagen für einen Markt für Bestattungsdienstleistungen schufen. Deutlich wird, dass Marktentstehung sich nicht allein technologisch, ökonomisch oder politisch erklären lässt, sondern wesentlich von sich historisch entwickelnden kulturellen Voraussetzungen abhängt.
Abstract
Under what conditions do new markets emerge? This question is usually answered by referring to technological innovations, price changes, and political interventions. We take the historical development of the funeral market since the seventeenth century as an example to show that cultural changes are an equally important prerequisite for market formation. We distinguish three stages of market development, each coming about with far-reaching cultural, demographic, and institutional changes that created the precondition for the emergence of a market for funeral services. Market formation cannot be explained solely by technological, economic, or political changes, but relies on cultural preconditions that evolve historically.
Notes
Der Begriff der „Entzauberung des Todes“ wird ebenso von Fischer (1996) zur Bezeichnung eines langfristigen Rationalisierungstrends im Bereich des Bestattungs- und Friedhofswesens verwendet. Im Gegensatz dazu bezieht sich der Ausdruck in diesem Artikel auf eine zeitlich fest umrissene Phase der Marktentstehung im Bereich der Totenfürsorge.
Ein weiterer bedeutsamer Unterschied zwischen dem ost- und dem westdeutschen Markt lag im Stellenwert der Kremation. Während die Zahl der Einäscherungen in den alten Bundesländern nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nur sehr langsam anstieg und in den 1980er-Jahren immer noch weniger als ein Viertel ausmachte, wurde die Kremation in der ehemaligen DDR aus ideologischen Gründen stark gefördert. Folglich waren dort bereits in den 1970er-Jahren Kremationsraten von fast 50 % zu verzeichnen. Dennoch waren beide Bestattungsmärkte bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum innovative und dynamische Handlungsräume (Fischer 2002, S. 58–61, 70–72; Schiller 1991, S. 181; Sörries 2002, S. 181).
Etwa der Import von vorgefertigten Grabmälern aus Asien, von Särgen aus Südosteuropa und der Export von Leichen zur Einäscherung und Beisetzung ins angrenzende Ausland („Bestattungstourismus“), wie die Niederlande, Tschechien und die Schweiz.
Literatur
Akyel, Dominic. 2013a. Qualification under moral constraints: The funeral purchase as a problem of valuation. In Constructing quality: The classification of goods in markets, Hrsg. Jens Beckert und Christine Musselin, 223–244. Oxford: Oxford University Press.
Akyel, Dominic. 2013b. Die Ökonomisierung der Pietät. Der Wandel des Bestattungsmarkts in Deutschland. Frankfurt a. M.: Campus.
Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e. V., und Zentralinstitut und Museum für Sepulkralkultur Kassel, Hrsg. 2003. Raum für Tote. Die Geschichte der Friedhöfe von den Gräberstraßen der Römerzeit bis zur anonymen Bestattung. Braunschweig: Thalacker Medien.
Ariès, Phillipe. 2005. Geschichte des Todes. 1978. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
Ariès, Phillipe. 2007. Geschichte der Kindheit. 1975. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
Bechtel, Heinrich. 1967. Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands. Wirtschaftsstile und Lebensformen von der Vorzeit bis zur Gegenwart. München: Verlag Georg D. W. Callwey.
Beckert, Jens, und Christine Musselin. Hrsg. 2013. Constructing quality. The classification of goods in markets. Oxford: Oxford University Press.
Beltz, Walter. Hrsg. 1993. Lexikon der letzten Dinge. Augsburg: Pattloch.
Bocock, Robert. 1993. Consumption. London: Routledge.
Braudel, Fernand. 1985. Civilization and capitalism, 15th–18th century. London: Fontana.
Callon, Michel. Hrsg. 1998. The laws of the markets. Oxford: Blackwell.
Cox, Heinrich L. 2003. Gestalt und Wandel der Nachbarschaftshilfe bei Sterben und Tod. Beobachtungen im Rheinland im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. In Totenfürsorge – Berufsgruppen zwischen Tabu und Faszination, Hrsg. Markwart Herzog und Norbert Fischer, 37–54. Stuttgart: W. Kohlhammer.
Dioun, Cyrus. 2011. Money, morals, and medical marijuana markets. Turning a black market gray. Unpublished manuscript. Berkeley: University of California–Berkeley.
Dobbin, Frank. 1994. Forging industrial policy. The United States, Britain and France in the railway age. Cambridge: Cambridge University Press.
Durkheim, Emile. 1986. Einführung in die Moral. In Gesellschaftlicher Zwang und moralische Autonomie, Hrsg. Hans Bertram, 33–53. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.
Durkheim, Emile. 1994. Die elementaren Formen des religiösen Lebens. 1912. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.
Durkheim, Emile, und Marcel Mauss. 1993. Über einige primitive Formen von Klassifikation. Ein Beitrag zur Erforschung der kollektiven Vorstellungen. 1901/1902. In Schriften zur Soziologie der Erkenntnis, Hrsg. Emile Durkheim, 169–256. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag.
Engels, Anita. 2006. Market creation and transnational rule-making. The case of CO2 emissions trading. In Transnational governance. Institutional dynamics of regulation, Hrsg. Marie-Laure Djelic und Kerstin Sahlin-Andersson, 329–348. Cambridge: Cambridge University Press.
Feldmann, Klaus. 2004. Tod und Gesellschaft. Sozialwissenschaftliche Thanatologie im Überblick. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Fischer, Norbert. 1996. Vom Gottesacker zum Krematorium. Eine Sozialgeschichte der Friedhöfe in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert. Hamburg: Universität Hamburg.
Fischer, Norbert. 1997. Wie wir unter die Erde kommen. Sterben und Tod zwischen Trauer und Technik. Frankfurt a. M.: Fischer.
Fischer, Norbert. 2001. Geschichte des Todes in der Neuzeit. Erfurt: Sutton.
Fischer, Norbert. 2002. Zwischen Trauer und Technik. Feuerbestattung – Krematorium – Flamarium. Eine Kulturgeschichte. Berlin: NORA Verlagsgemeinschaft Dyck & Westerheide.
Fiss, Peer, und Mark Kennedy. 2008. Of porkbellies and professions. Market framing and the creation of online advertising exchange. Unpublished manuscript. Los Angeles: Marshall School of Business, University of Southern California.
Fligstein, Neil. 2001. The architecture of markets. An economic sociology of twenty-first-century capitalist societies. Princeton: Princeton University Press.
Fligstein, Neil, und Doug McAdam. 2012. A theory of fields. Oxford: Oxford University Press.
Gaedke, Jürgen, und Joachim Diefenbach. 2004. Handbuch des Friedhofs- und Bestattungsrechts. Köln: C. Heymanns.
Hänel, Dagmar. 2003. Bestatter im 20. Jahrhundert. Zur kulturellen Bedeutung eines tabuisierten Berufs. Berlin: Waxmann.
Hayek, Friedrich A. von. 1969. Wettbewerb als Entdeckungsverfahren. In Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze, Hrsg. Friedrich A. von Hayek, 249–265. Tübingen: Mohr Siebeck.
Healy, Kieran. 2006. Last best gifts. Altruism and the market for human blood and organs. Chicago: University of Chicago Press.
Jobst, Andreas. 1996. Kirchhöfe im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. In Tod und Gesellschaft – Tod im Wandel. Begleitband zur Ausstellung im Diözesanmuseum Obermünster Regensburg, 8. November 1996 bis 22. Dezember 1996. Kunstsammlungen des Bistums Regensburg, Kataloge und Schriften 18, Hrsg. Christoph Daxelmüller, 33–37, Regensburg: Diözesanmuseum Regensburg.
Kirch, Katja. 1996. „Ich habe meinen Sterbekittel und Haube mir schon zur Hand gelegt“. Anmerkungen zur Geschichte der Sterbefürsorge. In Tod und Gesellschaft – Tod im Wandel. Begleitband zur Ausstellung im Diözesanmuseum Obermünster Regensburg, 8. November 1996 bis 22. Dezember 1996. Kunstsammlungen des Bistums Regensburg, Kataloge und Schriften 18, Hrsg. Christoph Daxelmüller, 89–92. Regensburg: Diözesanmuseum Regensburg.
Knorr-Cetina, Karin, und Alex Preda. Hrsg. 2005. The sociology of financial markets. Oxford: Oxford University Press.
Landes, David S. 1969. The unbound Prometheus. Technological change and industrial Development in Western Europe from 1750 to the present. Cambridge: Cambridge University Press.
Lichtner, Rolf, und Christoph Bläsius. 2007. Bestattung in Deutschland – Lehrbuch. Düsseldorf: Fachverlag des deutschen Bestattungsgewerbes.
MacKenzie, Donald. 2006. An engine, not a camera. How financial models shape markets. Cambridge: MIT Press.
MacKenzie, Donald. 2012. Visible, tradeable carbon. How emissions markets are constructed. Imagining organizations. Performative imagery in business and beyond, Hrsg. François-Régis Puyou, Paolo Quattrone, Chris McLean und Nigel Thrift, 53–79. New York: Routledge.
MacKenzie, Donald, und Yuval Millo. 2003. Constructing a market, performing theory. The historical sociology of a financial derivatives exchange. American Journal of Sociology 109:107–145.
Marx, Karl. 1966. Das Kapital. Kritik der politische Ökonomie. 1890. Berlin: Dietz.
Meyer-Woeller, und Ulrike Evangelia. 1999. Grabmäler des 19. Jahrhunderts im Rheinland zwischen Identität, Anpassung und Individualität. Bonn: Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Philosophische Fakultät.
Minchinton, Walter E. 1979. Die Veränderungen der Nachfragestruktur von 1500–1700. In Europäische Wirtschaftsgeschichte, Bd. 2: Sechzehntes und siebzehntes Jahrhundert, Hrsg. Carlo M. Cipolla und Knut Borchardt, 51–112. Stuttgart: Gustav Fischer Verlag.
Nölle, Volker. 2003. Vom Umgang mit Verstorbenen. Eine mikrosoziologische Erklärung des Bestattungsverhaltens. Kassel: Arbeitsgemeinschaft Friedhof und Denkmal e. V.
Padgett, John F., und Walter W. Powell. 2012. The emergence of organizations and markets. Princeton: Princeton University Press.
Polanyi, Karl. 1957. The great transformation. Boston: Beacon Press.
Rädlinger, Christine. 1996. Der verwaltete Tod. Eine Entwicklungsgeschichte des Münchener Bestattungswesens. München: Buchendorfer.
Reichsregierung des Deutschen Reiches. 1934. Gesetz über die Feuerbestattung vom 15.05.1934. Reichsgesetzblatt I: 380.
Reichsregierung des Deutschen Reiches. 1938. Verordnung zur Durchführung des Feuerbestattungsgesetzes vom 10.08.1938. Reichsgesetzblatt I: 1000.
Rosa, José Antonio, Joseph F. Porac, Jelena Runser-Spanjol und Michael S. Saxon. 1999. Sociocognitive dynamics in a product market. Journal of Marketing Research 63:64–77.
Satz, Debra. 2010. Why some things should not be for sale. Oxford: Oxford University Press.
Schiller, Gisela. 1991. Der organisierte Tod. Beobachtungen zum modernen Bestattungswesen. Düsseldorf: Heinrich-Heine Universität Düsseldorf.
Schiller, Gisela. 1996. Bestattungsunternehmen. In Tod und Gesellschaft – Tod im Wandel. Begleitband zur Ausstellung im Diözesanmuseum Obermünster Regensburg, 8. November 1996 bis 22. Dezember 1996. Kunstsammlungen des Bistums Regensburg, Kataloge und Schriften 18, Hrsg. Christoph Daxelmüller, 133–140. Regensburg: Diözesanmuseum Regensburg.
Schmied, Gerhard. 2002. Friedhofsgespräche. Untersuchungen zum „Wohnort der Toten“. Opladen: Leske + Budrich.
Schrage, Dominik. 2009. Die Verfügbarkeit der Dinge. Eine historische Soziologie des Konsums. Frankfurt a. M.: Campus.
Schumpeter, Joseph. 2006. Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Berlin: Duncker & Humblot.
Smith, Adam. 1976. The wealth of nations. Chicago: University of Chicago Press.
Sörries, Reiner. 2002. Großes Lexikon der Bestattungs- und Friedhofskultur. Wörterbuch zur Sepulkralkultur, Bd. 1: Volkskunde und Kulturgeschichte. Zentralinstitut für Sepulkralkultur. Kassel: Thalacker Medien.
Stark, David. 2009. The sense of dissonance. Accounts of worth in economic life. Princeton: Princeton University Press.
Steiner, Philippe. 2010. La transplantation d’organes. Un commerce nouveau entre les étres humains. Paris: Gallimard.
Trompette, Pascale. 2007. Customer channeling arrangements in market organization: Competition dynamics in the funeral business in France. Revue française de sociologie 48: 3–33.
Veblen, Thorstein. 1955. Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Walzer, Michael. 1983. Spheres of justice. A defense of pluralism and equality. New York: Basic Books.
Weber, Max. 1984. Wissenschaft als Beruf. Berlin: Duncker & Humblot.
Weber, Max. 1985. Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Tübingen: Mohr Siebeck.
Weber, Max. 2003. General economic history. New Brunswick: Transaction Publishers.
Wilbertz, Gisela. 2003. Der Abdecker – oder: Die Magie des toten Körpers. Ein Beruf im Umgang mit Tier- und Menschenleichnamen. In Totenfürsorge – Berufsgruppen zwischen Tabu und Faszination, Hrsg. Markwart Herzog und Norbert Fischer, 89–120. Stuttgart: W. Kohlhammer.
Zagar, Manfred. 2006. Wirtschaftsraum Friedhof und Bestattung im 21. Jahrhundert. Vortrag auf den 3. Reutlinger Friedhofstagen. Reutlingen.
Zelizer, Viviana. 1979. Morals and markets. The development of life insurance in the United States. New York: Columbia University Press.
Zelizer, Viviana. 1985. Pricing the priceless child. The changing social value of children. Princeton: Princeton University Press.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Rights and permissions
About this article
Cite this article
Akyel, D., Beckert, J. Pietät und Profit. Köln Z Soziol 66, 425–444 (2014). https://doi.org/10.1007/s11577-014-0276-3
Published:
Issue Date:
DOI: https://doi.org/10.1007/s11577-014-0276-3