Bei der amyotrophen Lateralsklerose (ALS) hat die Hilfsmittelversorgung (HMV) eine zentrale Bedeutung. Seit 2011 wird die HMV von 4 ALS-Zentren in einem internetunterstützten Versorgungsnetzwerk koordiniert. Die Digitalisierung der HMV-Prozesse ermöglicht eine Auswertung der Versorgungsrealität im Vergleich unterschiedlicher ALS-Zentren, Hilfsmittelgruppen und Kostenträger. Die Analyse der HMV ist ein wesentlicher Schritt, um Behandlungsstandards der HMV zu definieren. Die Ergebnisse haben praktische Implikationen für die HMV bei der ALS und eine gesundheitspolitische Dimension.

Hintergrund und Fragestellung

Die HMV ist ein zentrales Element der symptomatischen und palliativen Behandlung bei der ALS. Trotz ihrer sozialmedizinischen Relevanz wurde die HMV bei der ALS bisher nicht systematisch untersucht [1]. In der vorliegenden Studie wird die HMV an 4 ALS-Zentren in einem Zeitraum von 3,5 Jahren ausgewertet. Diese Daten erlauben erstmalig einen Direktvergleich („Benchmarking“) der Versorgungspraktiken unterschiedlicher ALS-Spezialambulanzen sowie der Kostenträger (Kranken- und Ersatzkassen sowie private Krankenversicherungen) im Hinblick auf Ablehnungsraten und Versorgungslatenzen bei definierten Hilfsmitteln (HM).

In der vorliegenden Untersuchung werden folgende Fragen für 4 ausgewählte ALS-typische HM-Gruppen bearbeitet:

  • Wie ist die Versorgungsrate, d. h. der Anteil der tatsächlich gelieferten HM im Vergleich zu den ärztlich indizierten HM?

  • Wie hoch ist die Ablehnungsrate der verschiedenen HM durch Patienten selbst und die Kostenträger?

  • Wie lang ist die Versorgungslatenz von der ärztlichen Indikationsstellung bis zur Lieferung eines HM durch den Versorger?

Methoden

Die HMV an den ALS-Ambulanzen der Berufsgenossenschaftlichen Universitätsklinik Bergmannsheil (BGB) in Bochum, der Charité – Universitätsmedizin Berlin (Charité), der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) sowie des Universitätsklinikums Jena (UKJ) wurde für den Zeitraum von Juni 2011 bis Oktober 2014 ausgewertet (Tab. 1). Die Datenerfassung erfolgte auf Basis eines informierten Einverständnisses der Patienten.

Tab. 1 Hilfsmittelversorgung an 4 ALS-Zentren im Vergleich

Bei Ambulanzpartner (AP) handelt es sich um ein Konzept des ambulanten Versorgungsmanagements, das ein Fallmanagement mit einem internetbasierten Managementportal (http://www.ambulanzpartner.de) kombiniert. Der HM-Bedarf wurde im direkten Arzt-Patienten-Kontakt ermittelt. Er wurde auf einem Formblatt des AP-Netzwerkes markiert, das ein Auswahlmenü von ALS-typischen HM-Gruppen beinhaltet (Mobilitäts-, Transfer-, Pflege- und Kommunikationshilfen, Orthesen u. a.). In Freitextfeldern können zusätzliche HM und Konkretisierungen sowie Präferenzen der Patienten zu HM und Versorgern dokumentiert werden. Das Formular wird per Fax oder Scan an das „Datenmanagement“ versendet. Dabei handelt es sich um speziell geschulte Personen, die für die Digitalisierung des Formblattes verantwortlich sind.

Der entstandene Datensatz (sozialmedizinische Daten und HM-Bedarfe des Patienten) wird in einer digitalen Versorgungskette des Portals an einen Fallmanager (w/m) weitergeleitet. Dieser erfasst den Versorgungsbedarf und ordnet das HM einem geeigneten Versorger zu. Die Kriterien der Zuordnung sind die Wohnortnähe, Subspezialisierung und Vertragsverhältnisse des HM-Versorgers in Bezug auf den Versicherten und das HM. Dieses Fallmanagement erfolgt im Auftrag des Patienten. Der Patient hat jederzeit die Möglichkeit, von der Versorgung durch Netzwerkpartner zurückzutreten oder Versorger der eigenen Wahl zu beauftragen. Mit der Zuordnung eines HM-Bedarfs zu einem Leistungserbringer erhält der Versorger einen Zugang zu den versorgungsrelevanten Daten auf dem AP-Portal. Der Leistungserbringer kontaktiert den Patienten und vereinbart eine Beratung und Erprobung. Auf dieser Basis wird eine ärztliche Verordnung erstellt und an den Leistungserbringer versendet. Das Dokument wird beim Kostenträger zur Prüfung der medizinischen Indikation und Wirtschaftlichkeit eingereicht. Durch den Kostenträger erfolgt eine Genehmigung oder Ablehnung der HMV. Bei einer Genehmigung wird das HM beim Patienten ausgeliefert und in Betrieb gesetzt. Die genannten Versorgungsschritte werden auf dem Portal digital dokumentiert und prozessiert (Tab. 2) sowie durch den Fallmanager inhaltlich und zeitlich koordiniert. Durch die Nutzung von AP werden die Daten und Prozesse in standardisierter Weise digitalisiert und den beteiligter Personenrollen (Patient, Arzt, Koordinator, Leistungserbringer) bereitgestellt. Die Organisationsform, Datenschutzkonzeption, technische Umsetzung und Finanzierung von AP wurde an anderer Stelle beschrieben [2, 3].

Tab. 2 Datensätze zur Analyse der Hilfsmittelversorgung

Stichprobe

Einschlusskriterien waren eine schriftliche Einwilligung des Patienten und die Diagnose einer ALS (ICD-10: G12.2) einschließlich der klinischen Varianten [4, 5, 6]. Erfasst wurden sämtliche HM, die innerhalb des AP-Netzwerkes versorgt wurden. Die Analyse der HMV wurde dabei auf 4 ausgewählte HM-Gruppen beschränkt: Orthesen (die Gesamtheit von Arm-, Bein- und Zervikalorthesen), therapeutische Bewegungsgeräte („Bewegungstrainer“ der unteren und oberen Extremitäten mit Elektroantrieb zur passiven Bewegung paretischer Extremitäten), HM der unterstützten Kommunikation (einschließlich „Tablet-Computern“ sowie hand-, kopf- und augengesteuerten Kommunikationshilfen) und Elektrorollstühle (einschließlich Leichtgewicht- und Multifunktionsrollstühlen mit elektrischer Schiebehilfe). Die Auswahl der analysierten HM-Gruppen orientierte sich an ihrer Relevanz, Häufigkeit und Kostenintensität [7, 8, 9, 10, 11]. Orthesen und therapeutische Bewegungsgeräte werden mit einer supportiven Zielstellung zum Erhalt oder zur Stärkung motorischer Funktionen eingesetzt. Die HMV mit unterstützter Kommunikation und Elektrorollstühlen dient der Kompensation motorischer Defizite in den Dimensionen der Kommunikation und Mobilität. Mit dieser HM-Auswahl wurden unterschiedliche Dimensionen der ALS-HMV abgebildet.

Untersuchungsmethoden und Analysekriterien

Eine Übersicht der analysierten Daten im Prozess der HMV findet sich in Tab. 2. Aus der Zeitdifferenz zwischen der Indikationsstellung der HMV und dem Lieferdatum wurde die Versorgungslatenz in Tagen ermittelt. Der Anteil der gelieferten HM zur Gesamtheit der ärztlich indizierten HM wurde als Versorgungsrate definiert. Die Ablehnung einer HMV wurde in einem gesonderten Statusschritt dokumentiert (Datum; Ablehnung durch Patient oder Kostenträger; Gründe der Ablehnung). Berücksichtigt wurden ausschließlich endgültige Ablehnungen. Initiale Ablehnungen, die durch Widerspruchsverfahren revidiert wurden, sind nicht als Ablehnung gewertet worden. Der Anteil der abgelehnten HM im Vergleich zur Gesamtheit der ärztlich indizierten HM wurde als Ablehnungsrate bezeichnet. In der Analyse der Krankenkassen wurden die fünf häufigsten Kostenträger der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) berücksichtigt: AOK – Die Gesundheitskasse (AOK); Techniker Krankenkasse (TK); BARMER GEK (BEK) und DAK – Gesundheit (DAK). Aufgrund der geringen Patientenzahlen der einzelnen Betriebs- (BKK) und Innungskrankenkassen (IKK) wurden diese Versicherten in der Gruppe der BKK (mit IKK) zusammengefasst. Analog wurde mit Versicherten der Privaten Krankenversicherungen (PKV) verfahren (Gruppe der PKV).

Datenanalyse

Für die Analyse der indizierten HM wurde eine Grundgesamtheit von 3313 HMV untersucht. Bei der Ermittlung der Ablehnungsraten (durch Patienten und Kostenträger) wurden alle HMV, bei denen andere Gründe zu einer Nichtversorgung führten (Patient verstorben; HM medizinisch ungeeignet etc.) aus der Stichprobe ausgeschlossen (resultierende Stichprobe: 3192 HM). Bei den Ablehnungsraten durch die Kostenträger wurden alle HMV, die vom Patienten abgelehnt wurden, nicht in der Stichprobe berücksichtigt (resultierende Stichprobe: 2880 HM). In der Berechnung der Versorgungslatenz wurden gelieferte HMV ausgeschlossen, deren Lieferdatum nicht dokumentiert war (resultierende Stichprobe: 1545 HM).

Die statistische Untersuchung erfolgte mit IBM SPSS Statistics 22.0 (IBM Corporation, Armonk, USA). Für die Berechnungen der Latenzen wurden Mediane sowie Mittelwerte mit Standardfehlern des Mittelwerts ermittelt. Unterschiede zwischen den Versorgungslatenzen wurden mithilfe des Kruskal-Wallis-Tests untersucht. Für den Vergleich der Ablehnungsraten wurden die Kostenträger paarweise mit dem χ2-Test nach Pearson verglichen.

Ergebnisse

Charakteristika der Stichprobe

Im AP-Netzwerk wurden im Untersuchungszeitraum 1479 ALS-Patienten versorgt. Dabei wurden insgesamt 12.478 HM koordiniert und systematisch erfasst. Die Datenanalyse wurde auf die indizierten HM der Orthesen (n = 1264), unterstützten Kommunikation (n = 912), therapeutischen Bewegungsgeräte (n = 403) und Elektrorollstühle (n = 734) beschränkt (gesamt: 3313 HM; Tab. 1). Die teilnehmenden ALS-Zentren haben in unterschiedlichem Umfang die Indikation zur HMV gestellt und innerhalb des Netzwerks koordiniert. Dabei ergab sich die folgende Häufigkeitsverteilung (prozentualer Anteil an der Gesamtheit der analysierten HM): Charité = 2472 HM (74,6 %); BGB = 374 HM (11,3 %); MHH = 100 HM (3 %); UKJ = 367 HM (11,1 %; Tab. 1). In den 5 häufigsten GKV und der Gesamtheit der PKV-Versicherten zeigte sich folgende Häufigkeitsverteilung der indizierten HM (prozentualer Anteil an der Gesamtheit der analysierten HM): BKK = 792 HM (23,9 %); AOK = 687 HM (20,7 %); TK = 594 HM (17,9 %); BEK = 574 HM (17,3 %); PKV = 364 HM (11,0 %) und DAK = 302 HM (9,1 %).

Versorgungsrate

Die Versorgungsrate der untersuchten HM-Gruppen betrug für alle Zentren 64,3 %. Die Differenzierung der ALS-Zentren zeigte deutliche Unterschiede zwischen den Versorgungsraten: BGB = 70,6 %; Charité = 64,5 %; MHH = 51,0 % und UKJ = 59,7 %. Zwischen den HM-Gruppen ergaben sich erhebliche Unterschiede der mittleren Versorgungsrate: Orthesen 76,6 %, unterstützte Kommunikation 60,0 %, therapeutische Bewegungsgeräte 57,3 % und Elektrorollstühle 52,2 % (Tab. 1).

Ablehnung der HMV durch Patienten

In Abb. 1 ist die Ablehnungsrate der HMV durch Patienten dargestellt (insgesamt 9,8 %). Zwischen den HM-Gruppen ergaben sich deutliche Unterschiede der Ablehnungsrate. Die Versorgung mit Orthesen hatte eine sehr hohe Akzeptanz (Ablehnungsrate 5,4 %). Die HMV mit Elektrorollstühlen war mit einer hohen Ablehnungsrate durch Patienten verbunden (15,6 %). Die HMV mit unterstützter Kommunikation (9,8 %) und therapeutischen Bewegungsgeräten (10,2 %) zeigte intermediäre Werte. Die patientenseitige Ablehnung einer HMV betrug bei Versicherten der GKV 8,9–9,9 %. Das Ablehnungsverhalten durch Patienten war innerhalb der GKV damit recht einheitlich. Auffällig war jedoch eine deutlich höhere Ablehnung der HMV bei Versicherten der PKV (16,1 %).

Abb. 1
figure 1

Ablehnung der Hilfsmittelversorgung durch Patienten im Vergleich der Hilfsmittelgruppen

Ablehnung der HMV durch Kostenträger

Die Ablehnungsrate der HMV durch die Kostenträger zeigt Abb. 2. Dabei wurden die HMV-Prozesse ausgewertet, bei denen eine zustimmende oder ablehnende Entscheidung der Kostenträger dokumentiert und nachvollziehbar war. Von 2880 HM wurden 758 von den Kostenträgern abgelehnt (26,3 %). Zwischen den Kostenträgern ergaben sich deutliche Unterschiede der Ablehnungsraten. Die TK (18,9 %) und DAK (20,8 %) zeigten im Vergleich die geringsten Ablehnungsraten, während die PKV (34,8 %) und BKK (33,0 %) die höchsten Ablehnungsraten aufwiesen.

Vergleich der HM-Gruppen

Zwischen den HM-Gruppen ergaben sich erhebliche Unterschiede der Ablehnungsrate durch die Kostenträger: Orthesen 16,2 %, unterstützte Kommunikation 30,4 %, therapeutische Bewegungsgeräte 34,8 % und Elektrorollstühle 35,6 % (Abb. 2). Für Orthesen zeigte sich damit eine relativ geringe Ablehnung durch Krankenkassen, während die anderen HM-Gruppen hohe Ablehnungsraten aufwiesen.

Abb. 2
figure 2

Ablehnung der Hilfsmittelversorgung durch die Kostenträger im Vergleich der Hilfsmittelgruppen

Vergleich der Kostenträger

Das Bewilligungs- und Ablehnungsverhalten der Kostenträger war different und heterogen (Tab. 3 und Abb. 3). So zeigte die AOK eine 2,5-fach erhöhte Ablehnungsrate der Orthesen (25,4 %) im Vergleich zur DAK (10,6 %). Im Gegensatz dazu fand sich für die unterstützte Kommunikation bei der AOK die geringste Ablehnungsrate (19,2 %), während die DAK einen hohen Ablehnungswert zeigte (32 %). Bei den therapeutischen Bewegungsgeräten ergaben sich insgesamt hohe Ablehnungsraten. Dennoch waren auch hier 2,3-fache Unterschiede zwischen den Kostenträgern nachweisbar (BKK 52,2 % vs. TK 22,1 %). Bei Elektrorollstühlen bestand die höchste Ablehnungsrate. Die Unterschiede zwischen den Kostenträgern waren erheblich (BKK 50,3 % vs. TK 18,3 %).

Tab. 3 Hilfsmittelversorgung im Vergleich der Krankenkassen – die Ablehnungsraten
Abb. 3
figure 3

Ablehnung der Hilfsmittelversorgung durch Krankenkassen im Vergleich der Kostenträger und Hilfsmittelgruppen. AOK AOK – Die Gesundheitskasse, BEK BARMER GEK, BKK Betriebskrankenkassen, DAK DAK – Gesundheit, PKV Private Krankenversicherung, TK Techniker Krankenkasse. Die Signifikanzniveaus für die Ablehnungsunterschiede zwischen Kostenträgern wurden mit einem Balken und den Symbole gekennzeichnet: **: p < 0,001; #: p < 0,01; ##: p < 0,05. Die Effektstärke wurde mit der Odds Ratio (OR) und den 95 %-Konfidenzintervall erfasst und mit laufenden Ziffern (1–21) dem betrachteten statistischen Zusammenhang (Balken) zugeordnet. Für Orthesen: 1: AOK/TK 2,729 (1,625–4,584); 2: AOK/DAK 2,872 (1,472–5,604); 3: AOK/BEK 2,838 (1,665–4,838); 4: BKK/BEK 1,855 (1,08–3,185); 5: BKK/TK 1,786 (1,058–3,014); für unterstützte Kommunikation: 6: TK/AOK 1,852 (1,088–3,155); 7: DAK/AOK 2,188 (1,193–4,016); 8: BKK/AOK 1,941 (1,19–3,165); 9: AOK/BEK 1,855 (1,095–3,145); für therapeutische Bewegungsgeräte: 10: AOK/DAK 3,39 (1,736–6,623); 11: BKK/BEK 2,128 (1,094–4,149); 12: BKK/TK 3,855 (1,906–7,795); für Elektrorollstühle: 13: AOK/TK 3,45 (1,803–6,601); 14: AOK/DAK 2,946 (1,321–6,573); 15: AOK/BEK 2,166 (1,175–3,993); 16: PKV/BEK 2,469 (1,248–4,878); 17: BKK/BEK 2,469 (1,445–4,219); 18: BKK/TK 4,45 (2,48–7,986); 19: BKK/DAK 4,455 (2,145–9,253); 20: PKV/DAK 4,454 (1,916–10,309); 21: PKV/TK 4,45 (2,164–9,151)

Versorgungslatenz

Bei 468 HMV lagen inkomplette Datensätze vor (Lieferung erfolgt, aber Lieferdatum des HM nicht dokumentiert). Diese Datensätze wurden bei der Kalkulation der Versorgungslatenz nicht berücksichtigt. Die Analyse der Versorgungslatenz war auf die gelieferten HM mit kompletten Datensätzen beschränkt (n = 1545). Zwischen den HM-Gruppen ergaben sich erhebliche Unterschiede der mittleren Versorgungslatenz (Abb. 4): Orthesen 67,9 ± 71,5 Tage (n = 734), unterstützte Kommunikation 96,1 ± 60,6 Tage (n = 392), therapeutische Bewegungsgeräte 113,3 ± 70,9 Tage (n = 164) und Elektrorollstühle 129,7 ± 84,6 Tage (n = 259). Zwischen einzelnen Kostenträgern fanden sich bei der unterstützen Kommunikation und Orthetik signifikante Unterschiede in der Versorgungslatenz (Kruskal-Wallis-Test; Signifikanzniveau p < 0,05). Bei Elektrorollstühlen und therapeutischen Bewegungsgeräten bestanden keine signifikante Unterschiede (Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Versorgungslatenz im Vergleich der Hilfsmittelgruppen und Kostenträger (Mittelwerte). AOK AOK – Die Gesundheitskasse, BEK BARMER GEK, BKK Betriebskrankenkassen, DAK DAK – Gesundheit, PKV Private Krankenversicherung, TK Techniker Krankenkasse

Diskussion

Die vorliegende Untersuchung ist die erste systematische Analyse der HMV bei der ALS in Deutschland. Dabei wurden Daten aus 4 ALS-Zentren erfasst, die in einem digital unterstützten Versorgungsnetzwerk zusammenarbeiten. Eine Stärke der Untersuchung liegt in der Erfassung der Versorgungsrealität dieser Zentren. Das Fall-, Dokumenten- und Datenmanagement war standardisiert und digitalisiert. Die Verordnerstruktur war homogen (Fachärzte für Neurologie in spezialisierten ALS-Zentren). Diese Homogenität war zugleich eine Limitation der Untersuchung, da sie mit einer Selektion besonderer Krankheitsverläufe verbunden sein kann. Im Fokus der Analyse standen ausgewählte HM, um eine hohe Vergleichbarkeit zwischen ALS-Zentren und Kostenträgern zu erreichen. Zugleich blieben zahlreiche Fragestellungen noch unbearbeitet (z. B. die Häufigkeitsverteilung aller HM und ihre Differenzierung). Bei 22 % der HMV (468 HM) konnte die Versorgungslatenz nicht analysiert werden, da die Lieferdaten nicht dokumentiert waren. Dabei ist zu spekulieren, dass insbesondere bei HM mit hoher Versorgungslatenz die Lieferdaten nicht erfasst wurden und möglicherweise höhere Versorgungslatenzen vorlagen. Weitgehend unbekannt sind die Häufigkeiten und Ergebnisse sozialrechtlicher Widerspruchs- und Klageverfahren bei einer Ablehnung der HMV. In zukünftigen Studien wird von Interesse sein, ob die Ablehnungsraten und Latenzen der HMV einen Einfluss auf die Lebensqualität und das Überleben bei der ALS haben. Insbesondere die Versorgungsrate von Hilfsmitteln der Beatmungsversorgung ist ein potenzieller, aber noch nicht untersuchter Prognosefaktor bei der ALS.

Die Studie erlaubt erstmalig eine integrierte Betrachtung aller beteiligten Personenrollen der HMV (Ärzte, Patienten, Versorger, Kostenträger). Die HM-Analyse einzelner Kostenträger, z. B. des „Hilfsmittelreports“ der BEK, beruht überwiegend auf Kostendaten [11, 12]. Patienten- und arztseitige Faktoren sowie Daten zu Prozessen und Zeitabläufen sind den Krankenkassen nur eingeschränkt zugänglich. Diese Limitation wurde in der vorliegenden Studie überwunden. Die kostenträgerübergreifende Datenerfassung ermöglichte eine vergleichende Analyse unterschiedlicher Kranken- und Ersatzkassen.

Die Versorgungsrate in den ALS-Zentren variierte und reichte von 51,0–70,6 % (Tab. 1). Ursächlich kommen methodische Effekte infrage, da das AP-Versorgungsnetzwerk an den ALS-Ambulanzen zu unterschiedlichen Zeitpunkten (zwischen Juni 2011 und August 2013) initiiert wurde. Weiterhin bestanden an den Zentren unterschiedliche Versorgungsschwerpunkte. Dieser Faktor ist relevant, da die HMV eine ausreichende Ressourcenallokation erfordert (Beratung zu HM; Dokumentation, Begründung und Begutachtung von HMV). Neben der arztseitigen Indikationsstellung wird die Versorgungsrate durch Patienten, Leistungserbringer und Kostenträger bestimmt.

Die Ergebnisse zeigen eine Ablehnungsrate durch Patienten (9,8 %), die sich maßgeblich in den einzelnen HM-Gruppen unterscheidet. So ist die Akzeptanz von Orthesen sehr hoch (Ablehnung 5,4 %), während die Rollstuhlversorgung deutlich häufiger von Patienten abgelehnt wird (15,6 %; Abb. 1). Die Ursachen der patientenseitigen Ablehnung wurden bisher nicht im Detail analysiert. Zu diskutieren ist eine subjektiv erlebte Stigmatisierung durch HM (z. B. Rollstuhlnutzung), die fehlende Infrastruktur der HMV (z. B. fehlende Unterstellmöglichkeit für Elektrorollstühle in städtischen Wohnlagen) oder das subjektive Erleben von HM als „Meilenstein“ einer progredienten Erkrankung. Ein weiterer Faktor der Unterversorgung kann die Frustration von Patienten durch die Verzögerung der HMV sein [13], die in der Datenbanksystematik dieser Studie als „Ablehnung durch Patienten“ klassifiziert wurde. In diesem Zusammenhang ist auffällig, dass die PKV die höchste patientenseitige (16,1 %) Ablehnung der HMV zeigte. Dabei sind sozioökonomische Faktoren (z. B. Belastungen durch das Kostenerstattungsprinzip) zu diskutieren. Die Ermittlung der patientenseitigen Ablehnungsgründe, das reale Nutzungsverhalten und die Zufriedenheit mit Versorgungsoptionen sind Gegenstand weiterer Untersuchungen.

In den analysierten HM-Gruppen ergaben sich deutliche Unterschiede in der Ablehnungsrate durch Kostenträger und der Versorgungslatenz. Bei Orthesen fand sich die geringste Ablehnungsrate (16,2 %) und Versorgungslatenz (68 Tage). Die HM-Gruppen der unterstützten Kommunikation und therapeutischen Bewegungsgeräte ergaben etwa doppelt so hohe Ablehnungsraten (34,8 und 30,4 %) und deutlich höhere Versorgungslatenzen (113 und 96 Tage). Die für die ALS besonders relevante HMV mit Elektrorollstühlen zeigte die größte Problematik (Ablehnungsrate: 35,6 %; Versorgungslatenz: 129 Tage; Abb. 3; Abb. 4).

In der Ablehnungsrate der Kostenträger konnten erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Kranken- und Ersatzkassen nachgewiesen werden. Insgesamt bestanden bei der TK und DAK die geringsten Ablehnungsraten. Vor allem in der HMV mit Elektrorollstühlen fand sich eine signifikant geringere Ablehnung bei der TK und DAK (beide 18,3 %) im Vergleich zur AOK (41,5 %), BKK (50,3 %) und PKV (50,0 %).

Die Daten zu Ablehnungsraten und zur Versorgungslatenz einzelner HM haben unmittelbare praktische Implikationen in der Betreuung von ALS-Patienten. Bereits in der Beratung zu den indizierten HM sollten die Patienten über die zu erwartende Ablehnungswahrscheinlichkeit und die Möglichkeit eines Widerspruchs im Falle einer Ablehnung informiert werden. Vor dem Hintergrund des progredienten Charakters der ALS ist das Konzept der „Vorabberatung“ zu HM mit hoher Versorgungslatenz (z. B. bei Kommunikationshilfsmitteln oder Elektrorollstühlen) anzubieten.

Die Daten zur PKV entstanden durch die gemeinsame Betrachtung und Auswertung aller Kostenträger der PKV. Eine Differenzierung unterschiedlicher privater Krankenversicherungen war methodisch noch nicht möglich, da die Anzahl der Versicherten pro PKV zu gering war. Bei der GKV war die Analyse auf die häufigsten Kostenträger begrenzt. Eine Regionalisierung der Leistungsdaten für die GKV und PKV war ebenfalls noch nicht möglich. Entgegen der medialen Diskussion ergaben sich in unserer Untersuchung keine Hinweise auf eine „Zwei-Klassen-Medizin“ zugunsten der PKV. Vielmehr zeigte die PKV in den untersuchten ALS-HM die höchste Ablehnungsrate. Allerdings fanden sich auch innerhalb der GKV signifikante Leistungsunterschiede, die sich mit divergierenden Ablehnungsraten (bis zu einem Faktor von 2,5) darstellten. Aufgrund der erheblichen Leistungsunterschiede müssen „Klassenunterschiede“ innerhalb der GKV diskutiert werden. Eine Reproduktion und öffentliche Bereitstellung dieser Daten hat das Potenzial für einen breiteren gesundheitspolitischen Diskurs.

Die hochsignifikanten Unterschiede in der Ablehnung von HM zwischen einzelnen GKV deuten auf Differenzen in Bewilligungsprozessen innerhalb der Krankenkassen hin. Die kasseninternen Entscheidungsprozesse der HMV sind weitgehend unbekannt. Die bestehende Diskrepanz in der arzt- und kostenträgerseitigen Einschätzung der HMV-Indikation ist ineffektiv und mit einem hohen Ressourcenverbrauch der beteiligten Personenrollen verbunden (Arzt, Patient, Leistungserbringer und Kostenträger; [14, 15]). Die hohe systematische Ablehnungsrate und Versorgungslatenz in der HMV zeigt die Notwendigkeit einer Konsensbildung zwischen Fachgesellschaften und Kostenträgern [16]. Eine wichtige und ambitionierte Zukunftsaufgabe liegt in der Aufnahme der HMV in Behandlungspfade und neurologische Leitlinien, in denen Versorgungsziele, Indikationskriterien und Qualitätsmerkmale der HMV definiert werden.

Fazit für die Praxis

  • Bei der ALS erreichen lediglich zwei Drittel der ärztlich indizierten Hilfsmittel die Patienten. Dabei bestehen erhebliche Unterschiede in der Versorgung mit Orthesen, Hilfsmitteln der unterstützten Kommunikation und Elektrorollstühlen. Wichtige Faktoren der Nichtversorgung liegen sowohl beim Patienten als auch beim Kostenträger.

  • Die Ablehnungsrate durch Krankenkassen und die Versorgungslatenz sind bei den untersuchten ALS-Hilfsmitteln hoch. Beide Aspekte sollten in der Beratung aktiv thematisiert werden, um eine Demoralisierung der Patienten abzuwenden und die Option eines Widerspruchs gegenüber dem Kostenträger darzustellen.

  • Ein Direktvergleich von fünf häufigen Kostenträgern der GKV zeigte große Unterschiede in der Ablehnungsrate von ALS-Hilfsmitteln. Hinweise auf eine „Zwei-Klassen-Medizin“ zugunsten der PKV ergaben sich nicht.

  • Ablehnungs- und Latenzdaten zur Hilfsmittelversorgung einzelner Kostenträger, die aus digital unterstützten Versorgungsnetzwerken entstehen, können in der Zukunft ein Entscheidungskriterium für Versicherte sein, einen Wechsel innerhalb der GKV vorzunehmen.