1 Coaching aktuell: Seine Praxis, seine Forschung und das ambivalente Verhältnis beider Systeme

Coaching verzeichnet auch im Jahr 2020 einen anhaltenden Boom. So ergibt eine Google Suche des Begriffs „Coaching“ im Mail innerhalb von 0,52 s 669.000.000 Ergebnisse. Im Unterschied dazu hat Supervision in 0,55 s 234.000.000 Ergebnisse und Psychotherapie 23.500.000 Ergebnisse in 0,57 s. Obwohl die bloße Häufigkeit eines Beratungsformats keine weiterreichenden Schlüsse über den Grad der Fundiertheit oder Professionalität erlaubt, zeigt die kontinuierliche Steigerung der Häufigkeit (vgl. Graf 2015, 2019) doch eine zunehmende Etablierung und Akzeptanz. Coaching kommt – im Unterschied zu anderen helfenden Interaktionen wie eben die ältere und wissenschaftlich wie professionell etabliertere Psychotherapie – aus der Praxis und ist fest in dieser verankert (vgl. Drath 2012; Schreyögg und Schmidt-Lellek 2015; Graf 2019). Dieser Umstand hat weitreichende Folgen für die Coaching-Praxis, die Coaching-Forschung sowie für das Verhältnis und die Zusammenarbeit der beiden SystemeFootnote 1.

Die Coaching-Praxis bzw. der Coaching-Markt zeichnet sich durch eine schwer zu überblickende Anzahl und Vielfalt an Coaching-Angeboten, Anwendungsfeldern, Ansätzen, Konzepten und Spezialsierungen aus, die (immer noch) nicht durch allgemein gültige und gesetzlich verankerte Bestimmungen, Definitionen und Qualitätsstandards für Ausbildung und Praxis gefiltert werden, da diese im Sinne einer klassischen Profession (noch) nicht existieren. Obwohl es sich in den letzten Jahren sichtbar professionalisiert hat, entspricht Coaching nicht dem klassischen Professionsmodell; Coaching verfügt nicht oder nicht in ausreichendem Maße über die in der professionssoziologischen Diskussion etablierten Professionsmerkmale wie Entwicklung einer professionellen Expertise mit Rückgriff auf wissenschaftliche Erkenntnisse, eindeutige Definition des Tätigkeitsfelds, Durchsetzung einer exklusiven Zuständigkeit für das definierte Tätigkeitsfeld im Sinne eines Monopols und meist formalrechtlich abgesichert durch einen geschützten Titel sowie Herausbildung von Berufsverbänden und einer korporatistischen Selbstverwaltung ihrer Wissensbestände, ethischen-normativen Orientierung sowie berufsspezifischen Praktiken (vgl. Fietze 2015, S. 6 ff.). Allerdings bleibt es aufgrund der sich verändernden gesellschaftlichen Strukturen und Rahmenbedingungen fraglich, ob Coaching den Status einer klassischen Profession im Sinne einer staatlich lizensierten Monopolstellung erreichen wird. Doch auch wenn dies nicht passieren wird, müssen die mit dem klassischen Bild einer Profession verbundenen Ansprüche wie etwa Klärung der professionellen Zuständigkeit und Professionalität der Beratenden für Coaching prägend sein (vgl. Fietze 2015, S. 17 f.). In diesem Sinne ermöglichen vor allem Wissenschaft und Forschung Qualitätssicherung und -entwicklung von Coaching und seiner Legitimation gegenüber den Klient*innen (vgl. Fietze 2017, S. 3). Dies wird es Coaches, Klient*innen, Unternehmen und Organisationen erlauben das zuweilen unübersichtliche Angebot im Sinne von Seriosität und professioneller Substanz bzw. Professionalität zu filtern.

Die Coaching-Forschung gewinnt vor allem seit den 2000er Jahren sowohl nominell als auch substantiell an Bedeutung und Veröffentlichungen in der wissenschaftlichen Coaching-Literatur steigen laut einer aktuellen Übersicht von Grant und O’Connor (2019, S. 4) seit dieser Zeit exponentiell an. Die Coaching-ForschungFootnote 2 hinkt aber immer noch der Coaching-Praxis bzw. der Praxis-Literatur hinterher. Das Verhältnis bzw. die Zusammenarbeit von Coaching-Forschung und Coaching-Praxis ist herausfordernd, mühsam und bis dato nur bedingt von Erfolg gekrönt und dies, obwohl sich die beiden „Beteiligten“ häufig gegenseitig ihrer wechselseitigen Bedeutung versichern (Möller und Kotte 2011; Greif 2014; Kotte et al. 2015; Scholl et al. 2018). Bevor aber genauer auf das Verhältnis und die Zusammenarbeit eingegangen werden soll, soll zunächst die Morphologie der Coaching-Forschung kurz aufgezeigt werden.

Im Unterschied zu anderen Beratungsformaten wie etwa die bereits angesprochene Psychotherapie, ist die Forschung zu Coaching keiner einzelnen Wissenschaftsdisziplin zuzuordnen, sondern multidisziplinär und global in den Humanwissenschaften verankert; gleichwohl war und ist die Psychologie die Disziplin, aus deren Bereich die meisten Coaching-Studien stammen. Mittlerweile erforschen auch andere Disziplinen wie etwa Erziehungs- und Bildungswissenschaften, Betriebswirtschaft oder die (angewandte) Linguistik Coaching und es etabliert sich eine multidisziplinäre Beratungswissenschaft (Fietze 2017). Neben dem wissenschaftlichen Ursprung der Coaching-Forschung in der Psychologie und insbesondere in der Psychotherapie-Forschung, sind auch ihre Ausrichtung in Outcome- und Prozess-Forschung bzw. Prozess-Ergebnis-Forschung sowie die damit verbundenen Fragestellungen und Forschungsmethoden stark geprägt von dieser Forschungstradition. Beispielhaft sei hierfür die Erforschung der Wirkfaktoren genannt, wo – obwohl ursprünglich für die Therapie entwickelt – heute davon ausgegangen wird, dass die von Grawe et al. (1994) vorgeschlagenen Wirkfaktoren allgemeine Gültigkeit für helfende Gespräche haben und somit auch auf den nicht-klinischen Bereich wie der des Coaching übertragen werden können (vgl. z. B. Greif 2008; Künzli 2009). Während die allgemeine Wirksamkeit von Coaching durch mittlerweile 5 Meta-Studien eindeutig belegt ist (Burt und Talati 2017; De Meuse et al. 2009; Jones et al. 2016; Sonesh et al. 2015; Theeboom et al. 2014), wird die Forderung nach Erkenntnisse, wie diese Wirksamkeit bzw. die Ergebnisse erzielt werden bzw. zustande kommen, immer lauter: „(…) to understand the impact and contribution of executive coaching … it is not enough to just understand general effectiveness or outcome. One also has to inquire into and create an understanding of the underlying coaching processes themselves, from the perspectives of both clients and coaches“ (De Haan et al. 2010, S. 110; vgl. auch Theeboom et al. 2014, S. 14). Diesen Fragenstellungen wird im Kontext des sogenannten change-process research paradigm (Elliott 2010, 2012) nachgegangen, das seinen Ursprung und seine Ausprägungen (in „process-outcome design“, „helpful factors design“, „microanalytic sequential process design“ und „significant event research design“)Footnote 3 ebenfalls in der Psychotherapie-Prozessforschung findet (vgl. Watson und McMullen 2016; sowie für Coaching aktuell Wegener 2017; Wegener et al. 2018).

Das übergeordnete Ziel der Coaching-Prozessforschung ist, durch vertiefte Einsichten in den Prozess Erkenntnisse darüber zu generieren, wie die Ergebnisse im Coaching entstehen, d. h. wie Veränderung im Denken, Fühlen und Handeln der Klient*innen entsteht. Letztendlich soll es, aufbauend auf diesen Erkenntnissen, möglich werden, Beratungsprozesse wirkungsvoller und effizienter zu gestalten. Bis dato existieren – in einer für den Zweck des Beitrags notwendigen Vereinfachung – zwei unterschiedliche empirische Perspektiven auf den Coachingprozess, bzw. auf das Geschehen im Coaching, das die Veränderung bei Klient*innen hervorbringt: Die psychologische Prozessforschung untersucht, aufbauend auf einem normativ-theoretischen Verständnis psychologischer Prozesse, welche Wirkvariablen dem Coaching zugrunde liegen; der Fokus liegt auf dem „Was“ und dem „Wie oft“ (z. B. Greif 2008; Graßmann et al. 2019). Die linguistische Coaching-Prozessforschung, aufbauend auf einem deskriptiv-phänomenologischen Verständnis, zeigt den sequentiellen Verlauf der sozialen Interaktionen im Coaching auf und beschriebt diesen detailliert; der Fokus liegt auf dem „Wie“ und dem „Wann“ im Kontext der lokalen Wirksamkeit kommunikativer Praktiken (z. B. Graf 2015, 2019; Graf und Jautz 2019, in Vorbereitung). Erkenntnisse zu helfenden Interaktionen im Allgemeinen (Graf et al. 2014, 2019; Pick 2017) und zu Psychotherapie im Besonderen (Pawelczyk 2011; Voutilainen et al. 2018; Peräkylä 2019) informieren dabei die linguistische Prozessforschung zu Coaching: Als gemeinsamer Nenner fungiert in all diesen helfenden Interaktionen das Gespräch bzw. die Interaktion zwischen einer professionell handelnden und einer nicht-professionell handelnden Person, die bezüglich des Anliegens der Klient*innen über unterschiedliches Wissen und eine unterschiedliche Problemlöse-Kapazität verfügen. Das Gespräch wird dabei als der beobachtbare und unmittelbare Teil des Veränderungsprozesses angesehen (vgl. auch Pick und Scarvaglieri 2019).

Gemeinsam ist den verschiedenen Ansätzen in der Coaching-Prozessforschung somit ein Interesse am Prozess selbst, während das Ergebnis nicht isoliert betrachtet, sondern als Ergebnis eben eines Prozesses angesehen und beforscht wird. Einblicke, wie die Ergebnisse im Coaching im Sinne einer angestrebten Veränderung in den Klient*innen, generiert werden, erlauben auch die Ableitung konkreter Handlungsempfehlungen und das Entwickeln von Praxis-nahen Feedback-Tools. Solche Entwicklungen kommen dem weit verbreiteten Wunsch vieler Praktiker*innen nach, relevante wissenschaftliche Erkenntnisse für ihre Arbeit gut aufbereitet und praktisch umsetzbar zu erhalten (Scholl et al. 2018):

What if coaches had a tool where they could listen to, or look at transcripts of, their conversations with clients and be able to name what they were doing in every sentence or phrase that they said? What if the same tool could help coaches be conscious of the choices that they make at each moment of a coach-client conversation? Such a tool would allow coaches to be more self-reflective as practitioners; it would allow them to analyze their own conversations, in the moment and afterwards, and make judgments about what worked and what didn’t work. In short, such a tool could provide the information to help individual coaches pursue mastery of their coaching process (Stein 2009, S. 163).

Stein spricht hier den konkreten Nutzen für die eigene Arbeit als Coach an, Einsichten in das „Was“ (Erkenntnisse über ihre eigenen Entscheidungen (bezüglich des Einsatzes bestimmter Interventionen wie einer bestimmten Frage-Praktik)), das „Wie“ (Erkenntnisse über den sequentiellen Verlauf der Gespräche und die Einbettung der Interventionen in diesen Gesprächsverlauf) und eben auch das „Wann“ (Erkenntnisse über die Verwendung von Interventionen – über den sequentiellen Gesprächsverlauf hinaus – im Kontext von Phasen bzw. kommunikativen Basis-Aktivitäten des Coaching-Prozesses (Graf 2015, 2016, 2019)) zu gewinnen und auf dieser Basis sowohl die lokale als auch die globale Wirksamkeit ihres professionellen Handelns als Coach zu reflektieren und gegebenenfalls zu verbessern.

Grundsätzlich gehen u. a. de Haan et al. (2010), Deplazes et al. (2018) oder Wegener et al. (2018) davon aus, dass die Coaching-Prozessforschung sich als Forschungsparadigma etabliert, u. a. weil die Frage, ob Coaching wirkt, mittlerweile hinreichend geklärt ist und somit eine Verschiebung des Fokus vom Ergebnis hin zum Ergebnis generierenden Prozess eine logische und praktische Konsequenz ist. Doch nicht nur scheint diese Verschiebung eine logische und wichtige Weiterentwicklung, die es auch erlaubt differenziertere und genuin auf Coaching zugeschnittene Konzepte und Perspektiven im Sinne einer Coaching-Wissenschaft zu entwickeln. Auch ihr Anspruch, einen konkreten Nutzen für die Praxis zu generieren indem empirisch fundierte Schlussfolgerungen über eine erfolgreiche bzw. wirksame Gestaltung von Coaching-Interventionen wie z. B. Frage-Praktiken gezogen werden, scheint „haltbar und realistisch“ (Loebbert et al. 2018, S. 13). Und schließlich führen Loebbert et al. (2018, S. 13) als weiteren Punkt, der für ein Erstarken bzw. für die Attraktivität der Coaching-Prozessforschung spricht, an, dass „(d)as Paradigma der Prozessforschung […] die klassischen und oft diversen Perspektiven von qualitativer und quantitativer Forschung, von subjektiver und objektiver Beobachtung, von Ergebnis- und Ereignisforschung, von Prozessmerkmalen und subjektivem Erleben verbindet“. Diese Integration verschiedenster Vorgehensweisen und Fokusse, vereint unter dem Aspekt dass es um das Geschehen im Coaching selbst geht, erlaubt es auch, Skeptiker*innen an der Relevanz von Coaching-Forschung anzusprechen. Gerade das „subjektivitätstheoretische Dilemma der objektiven Uneinholbarkeit subjektiven Bedeutungserlebens“ (Loebbert et al. 2018, S. 12) scheint im Kontext prozess-orientierter Forschung teilweise auflösbar zu sein.

Grundsätzlich sind Verhältnis und Zusammenarbeit der beiden Systeme Coaching-Forschung und Coaching-Praxis auch geprägt von der eingangs erwähnten Tatsache, dass Coaching sich aus der Praxis entwickelt hat. Die „Eigenlogik der beiden Systeme ‚Wissenschaft‘ und ‚Praxis‘“ (Kotte et al. 2015, S. 24 ff.) ist dadurch möglicherweise im Kontext von Coaching besonders stark ausgeprägt; die Skepsis gegenüber dem Nutzen wissenschaftlicher Erkenntnisse für die Praxis ist erheblich (Kotte et al. 2015; Loebbert et al. 2018; Scholl et al. 2018). Vielfach sind Praktiker*innen nicht daran interessiert, ob ihr Wissen „wahr“ oder „falsch“ ist, sondern es geht pragmatisch darum, „ob es funktioniert“ (vgl. Scholl et al. 2018, S. 11)Footnote 4. Der kommerzielle Erfolg von Coaching, aber auch die Ergebnisse der Outcome-Forschung geben ihnen diesbezüglich Recht. Gleichzeitig erfordert das Streben der Praxis nach Professionalisierung von Coaching und die damit mögliche Unterscheidung zwischen professionellem Coaching und Scharlatanerie (vgl. Schreyögg und Schmidt-Lellek 2015, S. xi) eine wissenschaftliche Untermauerung und eine theoretisch-konzeptionelle Einordnung dessen, was Coaches tun. Dieses Wissen erlaubt Klient*innen und Organisationen die Wahl des richtigen Beratungsformats und des „richtigen“ Coaches, erlaubt die Evaluierung von Coaching, fundiert und verbessert Aus- und Weiterbildungen und erhöht somit letztlich die Sensibilität von Coaches für ihre eigene Arbeit, wodurch sich ihre eigene, aber auch die Zufriedenheit von Klient*innen erhöht (vgl. Loebbert 2018, S. 13; Graf und Fleischhacker 2020). Um ein „tragfähiges Arbeitsverhältnis“ (Kotte et al. 2015) zwischen und für beide Systeme zu etablieren, müssen Forschung und Praxis ihre jeweiligen Wissensbereiche (im Sinne von methodischem und theoretischem Wissen sowie praktischem Erfahrungswissen) gegenseitig anerkennen und sich darin als Expert*innen für unterschiedliche Fragestellungen und Zugänge sehen. Zum anderen bedarf es eines echten Dialogs, der aus Sicht der Forschung u. a. bedeutet, Wissensbedarfe der Praxis zu identifizieren, Forschungsfragen aus diesen zu generieren und das Forschungs-Design im Sinne einer partizipativen Forschung zusammen mit Praktiker*innen zu entwickeln und durchzuführen, anstatt diese als bloße Datenlieferant*innen anzusehen. Desweitern bedeutet Dialog, dem weit verbreiteten Wunsch vieler Praktiker*innen nachzukommen, relevante wissenschaftliche Erkenntnisse für ihre Arbeit gut aufbereitet zu erhalten, d. h. ihnen den tatsächlichen und inhaltlichen Zugang zu wissenschaftlicher Literatur zu erleichternFootnote 5. Auf Seiten der Praxis bedeutet Dialog zum einen ihre Coaching-Prozesse der Forschung bzw. den Forscher*innen zur Verfügung zu stellen, das Argument, Klient*innen und die Sensibilität der Coaching-Sitzung schützen zu wollen, kritisch zu hinterfragen und sich stattdessen den konstruktiven Möglichkeiten der Integration der Aufnahmen von Coaching-Sitzungen in den eigenen Prozess zu öffnen (siehe Hutchby et al. 2012; Graf 2019) und schließlich mit kritischen Fragen zum eigenen Tun reflektiert umzugehen. Zum anderen bedeutet Dialog auch, den Austausch mit der Forschung zu suchen, eigene Ideen, Perspektiven und Erwartungen zu liefern und so aktiv mögliche eigene Interessen einzubringen (vgl. Kotte et al. 2015, S. 38 ff.). Und Grant und O’Connor (2019) fordern von Praktiker*innen, dass sie im Sinne einer Evidenz-basierten professionellen Coachingarbeit stets über aktuelle Erkenntnisse der good-quality current research informiert sein sollten: Recognise that research and evidence-based coaching are the foundations of professional and ethical coaching practice (ibid, S. 10). Für diese herausfordernde Aufgabe geben sie in ihrem Beitrag zum einen konkrete Tipps wie etwa das personalisierte Verwenden von Google Scholar, und zum anderen liefern sie bzw. lieferte Grant mit dem Research Relevance-to-Coaching Practice Model (2016) eine Hilfestellung, um sich in der unübersichtlichen Forschungslandschaft orientieren zu können. Und sie appellieren an Praktiker*innen, (s)ee research as another personal and professional development tool; enjoy! (Grant und O’Connor 2019, S. 11). Die im Folgenden vorgeschlagenen transdisziplinären Forschungsarrangements adressieren nicht nur den Transfer von wissenschaftlichen Erkenntnissen, sie setzen schon früher an, indem sie Praxisakteur*innen in das Generieren neuen Wissens einbeziehen und damit einen guten Ausgangspunkt für gelingenden Transfer bieten.

2 Wissenschaft, Praxis im Coaching und die Relevanz der Vermittlung

Das Bisherige vermittelt, wie hoch die Erwartungen an Coaching-Forschung sowohl vonseiten der Forscher*innen als auch der Coaches und wie vielfältig die Anforderungen an die Ergebnisse und deren Nachhaltigkeit sind. Abgesehen von dem genuin forschungsbezogenen Interesse daran, wie Coaching-Prozesse verlaufen und wie durch und in Coaching-Prozessen Veränderung initiiert wird, stehen – auf der Hinterbühne, aber nicht weniger bedeutend – Legitimation und Positionierung von Coaching in der Beratungslandschaft, Professionalisierung der Coaches und Qualitätssicherung, methodische Weiterentwicklung sowie die Beziehungsklärung zwischen „Praktiker*innen“ und wissenschaftlich tätigen Coaches und Coaching-Forscher*innen auf der Agenda. Professionalisierung und Institutionalisierung scheinen dabei mit einem Trend zu Verwissenschaftlichung einherzugehen (Heintel und Ukowitz 2009). Damit rückt die Frage in den Blick, welche Form von Wissenschaft die Entwicklung adäquat unterstützt. Deutlich wird, dass eine gelingende prozessuale Vermittlung zwischen wissenschaftlicher Forschung und Coaching-Praxis bedeutsam ist, um praxisorientierte und qualitativ hochwertige wissenschaftliche Forschung betreiben zu können und mit den Ergebnissen an die Arbeitsrealität der Coaches anschlussfähig zu sein. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass die Kooperation zwischen Wissenschaft und Praxis noch ausbaufähig ist. Die Forschung stößt an Grenzen, wenn sie nicht Zugang zu Primärdaten hat, ihre Wirkung in die Praxis ist gering, weil zu wenig Interesse seitens der Coaches an Forschung bzw. deren Ergebnissen besteht, möglicherweise produziert Forschung auch Ergebnisse, die die Coaches nicht als unmittelbar nützlich ansehen oder die nicht verständlich genug sind. Nicht selten behindern auch wechselseitige Zuschreibungen die Kooperation: sinnbildlich und zugespitzt stehen dann die realitätsfernen Theoretiker*innen im Elfenbeinturm den desinteressierten, oberflächlichen Praktiker*innen gegenüber. Herausforderungen dieser Art stellen sich nicht nur der Coaching-Forschung. Überall dort, wo Wissenschaft nicht direkt in die gesellschaftliche Praxis interveniert, wie etwa in den Technikwissenschaften, der Medizin oder den Biowissenschaften, braucht die Vermittlung zwischen Wissenschaft und Praxis Aufmerksamkeit. Instrumente und Formate der Wissenschaftskommunikation (Publikationen oder Tagungen), forschungsnahe (universitäre) Lehre oder universitäre Veranstaltungen, die sich an ein interessiertes (Fach‑)Publikum richten, tragen zu einem gelingenden Vermittlungsprozess bei. In der BeratungsforschungFootnote 6, beispielsweise im Feld der systemisch orientierten, prozessorientierten Organisationsentwicklung, erfolgt die Vermittlung recht erfolgreich über Organisationsberater*innen selbst, die entweder an Universitäten tätig sind und/oder in enger Anbindung an Forschungseinrichtungen (beispielsweise über Habilitationen, Lehr- und Publikationstätigkeit) einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Beratung und Beratungsprozessen nachgehen (exemplarisch Wimmer et al. 2009; Simsa 2015); in der Coaching-Forschung gibt es ähnliche Entwicklungen (exemplarisch Looss 2006) Was diese Art von Forschungsarbeiten auszeichnet, ist eine große inhaltliche Tiefe und zugleich eine gute Lesbarkeit. Die reichhaltige Erfahrung aus vielen Beratungsprozessen wird spürbar. Die Darstellungen spiegeln die Dynamiken in den Beratungsprozessen und der wissenschaftlich geschulte Blick nimmt für die Beratungspraxis Wesentliches in den Blick. Die Ausarbeitung erfolgt dabei in einer Detailgenauigkeit, die auch für die Beratungspraxis nützlich ist. Die Arbeiten enthalten gewissermaßen auf eingehender Reflexion basierende kondensierte Praxiserfahrungen, sie basieren nicht immer explizit auf systematisch-empirischen Verfahren und projektförmig eingerichteten Forschungsprozessen. Je näher Berater*innen dem Wissenschaftsbetrieb stehen, desto deutlicher folgt die Beschäftigung naturgemäß einer wissenschaftlichen Logik: Projektorganisation, empirisch-analytische Vorgangsweise, Intersubjektivität, Rückführbarkeit von Aussagen auf Primärdaten, Kontextualisierung der Ergebnisse innerhalb des einschlägigen wissenschaftlichen Diskurses.

Unabhängig davon, ob Beratungsforscher*innen, genauer Coaching-Forscher*innen, beratend tätig sind oder nicht, liegt eine weitere Möglichkeit, die Vermittlung zwischen Praxis und Wissenschaft voranzubringen darin, Forschungsprozesse zu konzipieren, in welchen die Interaktion zwischen den Forscher*innen und den Coaches (und gegebenenfalls den Klient*innen) methodisch in der Forschung aufgehoben ist. Es rückt ein kommunikatives Arrangement in den Blick, innerhalb dessen inter- und transdisziplinäres Arbeiten, möglich ist und das eine Antwort auf die im vorangegangenen Kapitel formulierte Herausforderung in der Coaching-Prozessforschung gibt: Um der Komplexität von Coaching-Prozessen adäquat begegnen zu können, gilt es, disziplinen- und paradigmenübergreifend zu arbeiten und mit der Forschung Anbindung an die Praxissysteme zu gewährleisten.

3 Inter- und Transdisziplinarität – eine interessante Perspektive für die Coaching-Prozessforschung?

Interdisziplinarität ist eine in der Wissenschaft mittlerweile weit verbreitete und gut etablierte ArbeitsweiseFootnote 7. Es handelt sich dabei um eine Form kooperativen wissenschaftlichen Handelns in Bezug auf eine gemeinsam definierte Problemstellung, die darauf ausgerichtet ist, durch das Zusammenwirken von Vertreter*innen unterschiedlicher Disziplinen angemessene Problemlösungen zu entwickeln (Balsiger 2005). Ein zu verhandelndes Thema soll also nicht einer wissenschaftlichen Disziplin (z. B. der Verlauf von Coaching-Prozessen der Psychologie oder der Linguistik) zugeordnet werden, sondern vielmehr durch die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen bearbeitet werden (Balsiger 2005). Forschungspraktisch bringt eine solche Vorgangsweise einige Herausforderungen mit sich, da unterschiedliche Verständnisse von Wissenschaft, unterschiedliche Denkstile (Fleck 1980) und methodische Vorgangsweisen in einen gemeinsamen Forschungsprozess integriert werden wollen. Um das Ansinnen zu verwirklichen, gibt es eine Vielzahl an möglichen Vorgangsweisen. Zumeist entwickeln Forschungsgruppen spezifische Praktiken interdisziplinären Arbeitens.

Transdisziplinarität ist ein seit den 1970er Jahren gebräuchlicher Begriff zur Bezeichnung eines Forschungszuganges, der im Prinzip genauso wie Interdisziplinarität auf kooperatives Arbeiten zwischen unterschiedlichen Arbeitspraktiken abzielt. Transdisziplinäre Forschung geht dabei noch einen Schritt weiter und bietet ein Prozessarrangement, das es ermöglicht, nicht nur Grenzen zwischen Disziplinen, sondern auch die Grenzen des Wissenschaftssystems zu überschreiten und systematisch die Praxisperspektive in die Forschungsprozesse zu integrieren. Der Ansatz ist methodologisch gut ausgearbeitet (Pohl und Hirsch-Hadorn 2006; Hirsch-Hadorn et al. 2008; Jahn et al. 2012; Ukowitz 2016; Krohn et al. 2017).

Transdisziplinäre Forschung wird in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern und wissenschaftlichen Disziplinen praktiziert. Die Bandbreite reicht von der Nachhaltigkeitsforschung über Gesundheitsforschung, Bildungsforschung, sozial- und integrationspädagogische Forschung, Regionalforschung bis zur Technik(folgen)forschung, um nur einige zu nennen. In der Beratungsforschung, namentlich in der Coaching-Forschung, so die Ausgangshypothese, bietet eine transdisziplinäre Herangehensweise sowohl ein theoretisches Fundament als auch ein geeignetes Methodenrepertoire zur Umsetzung interdisziplinärer und auf die Beratungspraxis bezogener Forschungsvorhaben.

Für transdisziplinäre Forschungszugänge und spezifische dem Zugang zugehörige Methodenarrangements und Settings haben sich im heterogenen Feld transdisziplinärer Forschungs-Praxis und deren theoretischer Reflexion unterschiedliche Begriffe etabliert: „Mode 2 science“ oder „Post-normal science“ sind Begriffe, die aus der Wissenschaftsforschung stammen und die spezifische Charakteristik des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Praxis adressieren (Funtowicz und Ravetz 1993; Nowotny et al. 2008). „Collaborative Science“, „partizipative Forschung“, „Action Research“ oder „Integration and Implementation Science“ vermitteln den Fokus auf die besondere Art der Gestaltung von Forschungsprozessen (Bammer 2017; McNiff und Whitehead 2005). „Reallabor“ (ein Begriff, der auf eine wissenschafts- und förderpolitische Initiative in Deutschland zurückgeht und nicht aus einem wissenschaftlichen Diskurs erwachsen ist) oder „Interventionsforschung“ markieren ein je spezifisches Forschungssetting (Krainer und Lerchster 2016; Ukowitz 2012; Wagner und Grunwald 2015). „Transformationswissenschaft“ verweist schließlich auf die Intention wissenschaftlicher Forschung, in gesellschaftliche Zusammenhänge einzugreifen und Gesellschaft zu verändern (Schneidewind und Singer-Brodowski 2014).

Die Ursache für die Heterogenität des Feldes liegt einerseits darin begründet, dass die methodologischen Überlegungen sich sowohl aus transdisziplinärer Praxis als auch aus einer mehr theoretisch (durchaus aber auch programmatisch) orientierten wissenschaftssoziologischen Betrachtung entwickeln. Andererseits sind es feld- und forschungsgruppenspezifische Motive und Ziele, die hinter transdisziplinärem Engagement stehen und sich in der Forschungspraxis wie auch in methodologischen Arbeiten spiegeln. Darin zeigt sich, dass Forschung nicht „uninteressiert“ ist, dass neutrales Wissen-Wollen oft mit dem Ansinnen einhergeht, etwas in der Gesellschaft bewirken zu wollen. Neben das genuine Forschungsinteresse neues Wissen zu generieren treten Anliegen, die einen weiteren normativen Hintergrund für die Forschungstätigkeit mit sich bringen – eine Normativität, mit der freilich reflektiert umzugehen ist. Für die transdisziplinäre Forschung sind drei Anliegen charakteristisch, welche Bedeutung diese in welcher Ausprägung für die Coaching-Prozessforschung haben, ist im Kreis der Coaching-Forscher*innen zu diskutieren:

  • Ein politisch-emanzipatorisches Anliegen ist in der vor allem im Bildungsbereich verankerten Aktionsforschung, in der sozial- und integrationspädagogischen Forschung oder auch in der thematisch offenen Interventionsforschung zentral.

  • Das Anliegen, Problemlösungen zu erarbeiten und das Bewusstsein dafür, dass wissenschaftliches Wissen allein dafür nicht ausreicht, ist ein starkes Motiv in der Nachhaltigkeitsforschung und allgemein im Feld sozialwissenschaftlicher Forschung. Die Integration von Wissen aus der (außerwissenschaftlichen) Praxis ergänzt wissenschaftliches Wissen und unterstützt so Problemlösung.

  • Ein transformatives Anliegen, also das Anliegen und die Intention mit Forschung gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen oder diese zumindest zu initiieren, findet sich in den meisten Feldern, beispielsweise in der Nachhaltigkeitsforschung, in der Forscher*innen aus der Erfahrung heraus, mit wissenschaftlichen Analysen allein keine Veränderung initiieren zu können, mit transdisziplinären Methoden zu experimentieren begonnen haben. Hier anschließend kann eine transdisziplinäre Herangehensweise also auch lerntheoretisch argumentiert werden: Tendenziell ist Wissen wirksamer und führt zu besserem Transfer, wenn sich Lernende dieses in partizipativen Prozessen, also mit eigener aktiver Beteiligung angeeignet haben.

Gemeinsam ist den verschiedenen Zugängen zu transdisziplinärer Forschung erstens, dass sowohl das Generieren von Wissen (für die Praxis, für die scientific community) als auch Problemlösung und Handlungsfähigkeit von Praxissystemen Ziele der Forschung sind. Forschungsvorhaben können dabei in unterschiedlich hohem Ausmaß an innerwissenschaftlichen Interessen bzw. Praxisanforderungen orientiert sein; zweitens ein Verständnis von Transdisziplinarität, das wesentlich auf dem Überschreiten nicht nur von Disziplinengrenzen (Interdisziplinarität), sondern auch auf dem Hinausgehen über die Grenzen des Wissenschaftssystems beruht. Letzteres wird üblicherweise mit dem Begriff Partizipation assoziiert. Dem steht ein Verständnis von Transdisziplinarität gegenüber, das inner-wissenschaftliche Wirkungskreise adressiert und Disziplinen übergreifende Theoriebildung zum Ziel hat – dies ist die zweite große Linie im Verständnis des Begriffs Transdisziplinarität, die sich seit den 1970er Jahren herauskristallisiert hat (Balsiger 2005; Pohl und Hirsch-Hadorn 2006).

Wenn im Folgenden von transdisziplinärer Forschung die Rede ist, dann ist damit die praxis-orientierte Auslegung des Begriffs angesprochen: Forscher*innen sind im Rahmen der Projekte mit den Menschen aus der Praxis im Gespräch, wissenschaftliches Wissen und Erfahrungswissen (Hörning 2001) fließen gleichermaßen in die Arbeit ein und gemeinsam wird versucht, Mehrwert sowohl für die Wissenschaft wie auch für die Praxis zu schaffen. Es sind damit partizipative Forschungsarrangements gemeint, in welchen Forschung ihren Ausgangspunkt bei sozial-räumlich kontextualisierten Themen nimmt, d. h., die Forschungsfragen sind eng an konkrete Praxiskonstellationen gebunden. Es wird beispielsweise mit einem bestimmten Berater*innen-Netzwerk an gemeinsam identifizierten Themen gearbeitet, die möglicherweise in der Arbeit mit einer anderen Beratungsorganisation etwas andere Bedeutung und Zuspitzung aufweisen würden. Der Forschungsprozess hat den Charakter einer (größeren) Einzelfallstudie, er entfaltet sich genau so, wie es in dem jeweils eingerichteten Forschungssystem möglich ist. Die Akteur*innen aus den Praxisfeldern sind jeweils in unterschiedlicher Intensität beteiligt. Der Prozess folgt einer überwiegend induktiven Vorgangsweise, die Perspektivenvielfalt zu fassen imstande ist, und die Forschung hat einen Gestaltungsanspruch, ist also umsetzungsorientiert angelegt (Berger et al. 2014; Krohn et al. 2017).

Einige Beispiele: In der Gesundheitsforschung begeben sich beispielsweise Pfleger*innen, Ärzt*innen, Gesundheitsdienstleister*innen, Repräsentant*innen aus Verwaltung und Politik und Forscher*innen in gemeinsame Forschungs- und Entwicklungsprojekte, um Gesundheitsförderung und Prävention voranzubringen. In der Nachhaltigkeitsforschung beschäftigen sich Sozialwissenschaftler*innen, Zoolog*innen, Repräsentant*innen von NGOs, Politik und Verwaltung mit Naturschutz-relevanten Entscheidungsprozessen – mit der Intention den Umgang mit widersprüchlichen und konfliktreichen Verhandlungslagen zu verbessern. In der Beratungsforschung erscheint ein transdisziplinäres Vorgehen im Zusammenhang mit Methodenfragen (Forschung zu Prozessdesign und Prozessverläufen), der Wirkung von beraterischen Interventionen und im Zusammenhang mit Kontexten von Beratung (u. a. organisationale oder gesellschaftliche Rahmenbedingungen von Beratungsprozessen) vielversprechend. Forscher*innen aus unterschiedlichen Disziplinen (Linguistik, Psychologie, Sozialwissenschaft) erforschen Beratung in transdisziplinären Settings disziplinenübergreifend und nahe an der Beratungspraxis und entwickeln gemeinsam mit Berater*innen, gegebenenfalls auch mit Klient*innen, für die Gestaltung von Beratungsprozessen nützliches Wissen und reichern zugleich das wissenschaftliche Wissen über Beratung an.

Die angesprochene dynamische Entwicklung der transdisziplinären Forschung betrifft die Forschungspraxis, in der immer wieder mit neuen methodischen Arrangements experimentiert wird, wie auch die theoretische Auseinandersetzung. Eine viel diskutierte und noch immer nicht hinreichend geklärte Frage ist jene, ob es sich bei Transdisziplinarität nun um eine Methode, um eine Forschungs-Haltung oder um ein wissenschaftstheoretisch argumentierbares Forschungsparadigma handelt. Es spricht einiges dafür, der transdisziplinären Forschung Eigenständigkeit zuzugestehen (Krohn et al. 2017). Die Diskussion ist allerdings noch im Gange (Pohl 2018).

Aus der Heterogenität der Motivationslagen, Forschungspraktiken, Bezeichnungen, Begrifflichkeiten und der tendenziell sehr community-spezifischen wissenschaftlichen Diskurse ergibt sich insgesamt ein etwas unübersichtliches Gesamtbild der Landschaft transdisziplinärer Forschungsaktivitäten sowie deren methodischer und wissenschaftstheoretischer Fundierung und Positionierung. Um die Forschungsform gut positionieren zu können, erscheint es wichtig, erstens den Diskurs zu methodologischen Fragen über Forschungsfelder hinweg zu pflegen und zweitens feldspezifisch durchdachte Konzepte zu entwickeln, diese praktisch umzusetzen und deren Praktikabilität zu reflektieren. Zu Zweiterem soll hier mit einem spezifischen Blick auf Coaching-Prozessforschung ein Beitrag geleistet werden.

4 Umsetzung inter- und transdisziplinärer Forschung – methodologische Einblicke im Kontext von Beratung

Transdisziplinäre Forschung kann als sozial-kommunikatives Arrangement aufgefasst werden, das sowohl die Gestaltung der Interaktionen innerhalb von Forschungsgruppen und zwischen Forschung und Praxisakteur*innen als auch „traditionelle“ Formen wissenschaftlicher Forschung integriert. Das Beforschen von Beratungsprozessen, sei es mit experimentellen oder explorativen Methoden, einer deduktiven oder induktiven, qualitativen oder quantitativen Vorgangsweise, ist in diesem Rahmen genauso verankert wie die kommunikative Auseinandersetzung mit Zwecken, Zielen und Inhalten von Forschung sowie mit Fragen rund um die Konsequenzen, die sich aus den Forschungsergebnissen ziehen lassen. Forschung agiert in transdisziplinären Projekten auf zwei Ebenen, einmal auf der Ebene der Arbeit an den Inhalten und dann noch auf der Ebene der Gestaltung des Prozesses der Auseinandersetzung mit den Inhalten.

Durch die Integration der Praxisperspektiven in den Forschungsprozess wird das klassische Modell der Phasierung von Forschung in „Entwicklung – Implementierung“ (Krohn et al. 2017) zu einem Prozess, in dem sich zwar unterschiedliche Schwerpunkte ausmachen lassen (Erhebung, Entwicklung in einem früheren Projektstadium, Implementierung, Vermittlung von Ergebnissen in die Praxis in späteren Phasen von Projekten), beide Dimensionen aber den gesamten Prozess über handlungsleitend wirken.

Betrachtet man das sozial-kommunikative Arrangement näher, so erscheint transdisziplinäre Forschung als eine Art Organisationsentwicklungsmaßnahme. Geht es doch darum, eine geeignete Projektstruktur einzurichten und ein Design zu entwerfen, das die jeweilige Problembearbeitung (kommunikativ, aber auch forschungsmethodisch) ermöglicht. Es lassen sich vier methodologische Grundprinzipien formulieren, die in Grundzügen für die meisten Formen von Forschung relevant, für transdisziplinäre Forschung aber im Besonderen von Bedeutung sind:

  • Forschung ist als temporäre Organisation einzurichten: Es ist zu entscheiden, wer mit wem an welchen Themen arbeitet und welche Form dafür geeignet ist.

  • Forschung bedeutet Prozessgestaltung und Kommunikation: Wesentliche Schritte des Organisierens sind die Identifikation der relevanten Akteur*innengruppen, das Einrichten einer Projektstruktur sowie die Designplanung.

  • Forschung erfolgt in einem Wechsel von Aktion und Reflexion: Transdisziplinär zu forschen bedeutet gleichschwebende Aufmerksamkeit sowohl für die inhaltliche als auch die soziale Ebene des Forschungsprozesses zu haben und situationsadäquat auf die Dynamiken im Prozess zu reagieren (im Sinne einer rollierenden Planung und einem ausreichenden Maß an Ergebnisoffenheit)

  • Forschung erfordert das Definieren von Ergebnisräumen: Partizipative Forschungsprozesse führen nicht immer geradewegs zu vorab klar definierten und unmittelbar sichtbaren Ergebnissen. Das Definieren von Ergebnisräumen gibt Orientierung und ermöglicht es, Forschungsergebnisse auf mehreren Ebenen zu generieren und zu nützen.

Die skizzierten Grundprinzipien werden Coaches bzw. Berater*innen nicht fremd sein – die Nähe transdisziplinären Arbeitens zu Ansätzen der Prozessberatung (sei es nun Organisationsentwicklung, Supervision, Mediation oder Coaching) ist deutlich zu erkennen. Dies gilt besonders für den sozial-kommunikativen Bereich der Forschungstätigkeit, der ähnliche Charakteristiken wie Beratungsprozesse aufweist. Der wesentliche Unterschied liegt darin, dass wissenschaftliche Forschung (mitsamt ihren Qualitätsansprüchen) explizit in den Prozess integriert ist und wissenschaftliches Wissen damit eine bedeutsame Rolle spielt. Ziel der Forschung ist es (auch), neues Wissen zu generieren und dieses nicht nur für den gerade verhandelten Einzelfall zu nützen, sondern mit den Erkenntnissen den wissenschaftlichen Diskurs zu bereichern. Den umgekehrten Weg nimmt wissenschaftliches Wissen ebenso: Geht es um Problemlösung, wird in transdisziplinären Projekten wissenschaftliches Wissen, nicht selten aus unterschiedlichen Disziplinen, zumeist expliziter als in Beratungsprozessen in die Forschungsarbeit eingespielt.

Ein anderer bedeutender Unterschied zwischen transdisziplinärer Forschung und Beratung liegt im organisatorisch-institutionellen Rahmen, in dem die Prozesse stehen, und dem daraus resultierenden unterschiedlichen Umgang mit Zeit. Berater*innen, die z. B. Coaching professionell als Dienstleistung anbieten, werden aufgrund zumeist begrenzter Ressourcen weniger tief in empirische Analysen und theoretische Reflexion gehen können als dies Forscher*innen möglich ist (wenngleich auch hier angesichts des Drucks Drittmittel zu akquirieren und dem geltenden Leitsatz von „publish or perish“ nicht immer die nötige Ruhe für vertiefende Ausarbeitungen gefunden werden kann).

Der Umstand, dass transdisziplinäres Arbeiten, zumindest was seinen Prozess-Charakter betrifft, Coaches nicht fremd ist, kann als ein guter Ausgangspunkt für eine weitere Annäherung der Coaching-Forschung an einen transdisziplinären Forschungszugang angesehen werden. Es muss anerkannt werden, dass Forschung und Coaching-Praxis vor dem Hintergrund unterschiedlicher Systemlogiken betrieben werden (unterschiedliche Ziele, Normen, Standards, Arbeitskulturen), zugleich aber kann davon ausgegangen werden, dass in den Prinzipien der Kommunikativität, der Prozesshaftigkeit und der Gestaltung durchaus ein common ground vorzufinden ist. Insofern lässt sich vermuten, dass transdisziplinäre Forschung als eine Form der Vermittlung zwischen wissenschaftlicher Forschung und Coaching-Praxis Potential hat.

Im Folgenden soll die Entstehung und Anfangsphase eines aktuellen Vorhabens aus dem Bereich der Coaching-Prozessforschung beschrieben werden, das auf einem interdisziplinären Forschungsdesign basiert und enge Verknüpfungen zur Praxis hat, ohne bereits im eigentlichen Sinne transdisziplinär zu sein. Die Projektplanung erfolgte nicht in Kooperation mit Praxispartner*innen und das Projektdesign sieht keine Kommunikationsgelegenheiten mit Praxispartner*innen vor, wie dies in der transdisziplinären Forschung üblich ist. Sehr wohl kommt die Konzeption als interdisziplinäres Vorhaben den Grundprinzipien transdisziplinärer Forschung sehr nahe und die beteiligten Forscher*innen sind selbst auch als Coaches tätig. Insofern kann das Projekt als ein Beispiel für Coaching-Prozessforschung auf dem Weg zu Transdisziplinarität gesehen werden.

5 Genese und Aufbau eines Forschungsvorhabens zu Frage-Praktiken im Coaching: Ein Beispiel interdisziplinärer Coaching-Prozessforschung

Mitte 2019 wurde nach über dreijähriger intensiver Vorbereitungszeit von einer Gruppe Wissenschaftler*innen bestehend aus zwei Linguist*innen und zwei Psycholog*innen bei den nationalen Forschungsgesellschaften von Österreich, Deutschland und der Schweiz ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zu Frage-Praktiken im Coaching zur Generierung von Drittmitteln eingereicht, über das zum Zeitpunkt des Entstehens dieses Artikels noch nicht final entschieden istFootnote 8. Im Folgenden soll die Genese dieses Forschungsprojektes mit besonderem Blick auf seine inhaltlichen (sowohl thematische als auch methodische), sozialen (sowohl epistemische als auch kommunikativ-interaktive) und praktischen Dimensionen skizziert werden. Ziel ist es, die theoretischen Überlegungen aus dem vorherigen Punkt bzgl. Organisationseinrichtung sowie Prozessgestaltung und Kommunikation zu konkretisieren und gleichzeitig die subjektiven Momente der Entstehung des Forschungsprojektes zu abstrahieren und diese für zukünftige Projekte und deren Forscher*innen auf der Metaebene im Sinne von reflektierter Erfahrung zur Verfügung zu stellen.

Der Ursprung für die konkrete Zusammenarbeit (zunächst (noch) im Rahmen des Skizzierens des Forschungsvorhabens sowie des Schreibens des Forschungsantrags) war eine schon seit längerer Zeit geführte Diskussion der beteiligten Wissenschaftler*innen darüber, dass es wichtig sei zu kooperieren um Erkenntnisse jenseits des momentan innerhalb ihrer eigenen Forschung zu Coaching Möglichem zu gewinnen. Diese Kooperation sollte zunächst interdisziplinär innerhalb der Wissenschaft, aber in weiterer Folge auch mit Coaches und Klient*innen, erfolgen. Der Austausch der Wissenschaftler*innen über die Erforschung von Coaching und die unterschiedlichen Forschungszugänge begann dabei zunächst thematisch unfokussiert im Rahmen des Fachausschusses „Forschung“ beim DBVC (Deutscher Bundesverband Coaching e. V.) und wurde in weiterer Folge in unterschiedlichen Settings, unter Einbeziehung anderer Kolleg*innen intensiviert und weitergeführt. Eine große Rolle spielten dabei die Forschungsprojekte bzw. Vorarbeiten, die die Wissenschaftler*innen unabhängig voneinander bzw. noch ohne konkrete Zusammenarbeit im Blick, im Sinne von Coaching-Prozessforschung durchgeführt hatten und im Rahmen derer es bereits einen kollegialen Austausch gab: Forschung zur Wirksamkeit von Coaching und den Faktoren, die zu dieser Wirksamkeit beitragen im Rahmen von video- oder audio-basierter Beobachtungsstudien, Forschung zu den Interventionen und Tools im Coaching, ebenfalls im Rahmen von video- oder audio-basierter Beobachtungsstudien, sowie Interaktionsforschung zum Coaching-Gespräch bzw. Coaching-Prozess, die sich auf die Ko-Konstruktion von Coaching mit Hilfe linguistischer Analysen transkribierter, d. h. verschrifteter, Coaching-Gespräche fokussierte. Während die markanten Unterschiede zwischen den normativ-theoretischen Forschungsansätzen in der Psychologie und den deskriptiv-phänomenologischen Forschungsansätzen in der Linguistik sowie die damit verbundenen Implikationen für Datenerhebung, Forschungsdesign sowie Bedeutung von z. B. Validität von Ergebnissen hierbei sichtbar wurden, gab es einen grundsätzlichen Konsens über die Limitierung der eigenen intradisziplinären Ansätze. Diese Limitierung betraf zum einen das Auftreten von z. B. den Wirkfaktoren oder bestimmter Interventionen im Coaching-Prozess, das aber nicht in Zusammenhang mit dem sequentiellen und prozessualen Charakter von Coaching und seiner Ko-konstruktion durch die Redebeiträge von Coach und Klient*in gebracht werden konnte. Ebenso einschränkend war der ausschließliche Fokus auf eben diese sequentielle Ebene des professionellen Gesprächs, die zwar in ihrer turn-by-turn Gestaltung Aufschluss über die lokale Wirksamkeit geben konnte, in dem responsives bzw. aligning und/oder affiliative und nicht-responsives bzw. disaligning und/oder disaffiliative Verhalten auf der Ebene der einzelnen Redebeiträge bzw. ihrer Abfolge aufgezeigt werden konnte. Der Zusammenhang zwischen dieser lokalen Wirksamkeit und der Effizienz von Coaching im Sinne einer globalen Wirksamkeit konnte aber nicht hergestellt werden. Als Voraussetzung dafür diese Limitierung überwinden zu wollen und sich nicht mit dem, was innerhalb der eigenen disziplinären scientific community machbar ist, zufrieden zu geben, kann Neugierde und Offenheit der Beteiligten, über den eigenen Forschungstellerrand hinauszuschauen, vorhandene Erfahrung mit interdisziplinären Arbeit und eine Dialog- bzw. Kompromissbereitschaft angefügt werden.

Die Entscheidung, Frage-Praktiken zum inhaltlichen Fokus der interdisziplinären Zusammenarbeit bzw. Forschung zu machen, basierte auf der sich über die verschiedenen Disziplinen, die sich an Coaching-Forschung beteiligen, erstreckende Forschungslücke zum Thema, die im eklatanten Gegensatz zur proklamierten Bedeutung von Fragen in der Praxis-Literatur zu Coaching stand. Zum anderen lagen erste Erkenntnisse bezüglich der Verwendung von geschlossenen Fragen und ihrem Nicht-Beeinflussen der Response-Länge bei den Klient*innen vor. Ein Ergebnis, das gesprächsanalytische Untersuchungen alltäglicher und professioneller Gespräche bestätigte, der replizierten Meinung in der Praxis-Literatur aber widersprach. Darüber hinaus floss auch das eigene praktische Coaching-Wissen ein, da die Forscher*innen jeweils selbst als Coach und Berater*innen arbeiten und somit im Sinne von Sarangis’ (2010) discourse practitioner neben dem wissenschaftlich-theoretischen know how auch über das praktisch-evidenzielle know that verfügen (Sarangi 2002; Ryle 1949). Die eigene Coaching-Tätigkeit sowie die Mitgliedschaft in Coaching-Verbänden wie dem DBVC (Deutscher Bundesverband für Coaching) oder BSO (Berufsverband für Supervision, Organisationsberatung und Coaching) erlauben einen anderen Feldzugang bzw. stellen eine Verankerung in der Praxis dar, die vor allem in Hinblick auf DatengenerierungFootnote 9 und Dissemination der Ergebnisse eine zentrale Rolle für die Durchführung des Projektes spielen werden.

Nach dieser Entscheidung bezüglich der inhaltlichen Ausrichtung auf Fragen im Coaching wurde ein weiterer Forscher für das Projekt gewonnen, dessen gesprächsanalytische Expertise sich u. a. auf Fragehandlungen in medizinischen und therapeutischen Gesprächen erstreckt. Die Akteur*innengruppe, (noch lose) in einem Forschungsverbund vereint, bestand nun aus zwei angewandten Linguist*innen mit den Forschungsfokussen linguistische Coaching-Prozessforschung und gesprächsanalytische Forschung zu Fragehandlungen in professionellen Gesprächen und zwei angewandten Psycholog*innen mit den Forschungsfokussen video- und/oder audio-basierte Beobachtungsstudien im Kontext von Coaching-Prozessforschung bzw. Coaching-Outcome-Prozessforschung. Neben den bereits individuell geleisteten (indirekten oder direkten) Vorarbeiten für die gemeinsame Forschung bzw. das sich nun in der Entstehung befindende Forschungsprojekt, wurde zunächst in unterschiedlichen Konstellationen temporär an zwei Grundlagen gearbeitetFootnote 10: Zum einen wurden Erkenntnisse zu Fragehandlungen aus gesprächsanalytischer und konversationsanalytischer Sicht zusammen getragen, die eine Forschungslücke zu Fragen im Coaching und die Limitierung auf das Ermitteln der lokalen Wirksamkeit – ohne Möglichkeit die globale Wirksamkeit in den Blick zu nehmen – aufzeigten. Das Ziel war Coaching und Fragen im Coaching stärker in den Fokus linguistischer Forschung zu rücken und auch Möglichkeiten und Mehrwert einer interdisziplinären Forschung aufzuzeigen. Zum anderen wurde gemeinsam, also bereits im Sinne einer solchen interdisziplinären Zusammenarbeit, ein Modell entwickelt, das als generelle Strukturierungshilfe zur Erforschung von Coaching-Prozessen Anwendung finden soll. Dieses Modell ermöglicht gleichzeitig die Ebenen der einzelnen Redebeiträge, der Sequenzen, der Phasen sowie des gesamten Prozesses in den analytischen Blick zu nehmen. Das Modell erlaubt Fragen nach dem „Was?“ (erforschtes Phänomen wie etwa Wirkfaktor oder Frage-Handlung), dem „Wie?“ (sequentieller Aufbau des erforschten Phänomens) und dem „Wie oft?“ in Beziehung zum Verlauf des Coachings und somit dem „Wann?“, bzw. „Wo im Prozess?“ zu setzen und dadurch die Erforschung der lokalen und globalen Wirksamkeit von Phänomenen wie Fragehandlungen methodisch möglich zu machen. Während die gesprächs- und konversationsanalytische Zusammenarbeit in der theoretischen und methodischen intradisziplinären Komfortzone passierte, mussten bei der Entwicklung des explorativen Modells mehrere Reflexionsschleifen eingebaut werden um den normativ-theoretischen (psychologischen) und deskriptiv-phänomenologischen (linguistischen) Blick mehrwertorientiert im Modell zu vereinen. Diese Diskussionen leisteten neben der konkreten Modellentwicklung selbst, sowohl inhaltlich als auch im Sinne einer gemeinsamen (Re‑)Sozialisierung, einen zentralen Beitrag für das Forschungsprojekt; sie fanden, wie auch das eigentliche gemeinsame Antragsschreiben, entweder während face-to-face Treffen oder per Skype bzw. teilweise per Email statt. Auf diesen Treffen bzw. während dieses Austausches wurde zunächst eine gemeinsame „Sprache“ entwickelt, d. h. ein Konsens über die zugrundeliegende Bedeutung zentraler Konzepte wie „Wirksamkeit“ oder „Coaching-Gespräch“ wurde iterativ ausgehandelt. Dabei wurden Differenzen überwunden, die laut Krainz und Ukowitz (2014) zwar Konfliktpotential enthalten, aber auch im positiven Sinne „Bewegung“ in die Bearbeitung einer Fragestellung und ein gemeinsames Verständnis schaffen können. Dieses lautete im vorliegenden Fall: Coaching strebt Veränderung für Klient*innen an, d. h. Lernprozesse, Verhaltensveränderungen oder eine Erweiterung ihrer emotionalen Möglichkeiten. Theoretische Veränderungs-Modelle wie in der Psychologie etabliert beschreiben diese als Entwicklungsschritte oder Phasen, die die Klient*innen durchlaufen. Allerdings sind diese Phasen nicht unmittelbar beobachtbar; was hingegen beobachtbar ist, sind die Coaching-Gespräche und wie sich diese entlang einzelner Sitzungen und gesamter Prozesse im Rahmen von aufeinanderfolgenden, sich gegenseitig bedingenden Turns bzw. Redebeiträgen entwickeln. Da das Gespräch im Coaching sowohl das primäre Medium als auch die primäre Methode ist, kann davon ausgegangen werden, dass erfolgreiche Gespräche die Veränderung von Klient*innen initiieren, unterstützen oder ermöglichen.

Ausgehend von dieser gemeinsamen Verstehensbasis wurde in vielen Reflexionsschleifen der Projektantrag verfasst. Die Beteiligten zeichneten dabei jeweils verantwortlich für Textbausteine, die ihrer fachlichen Expertise entsprachen; gleichzeitig lag die Gesamtverantwortung, was das inhaltliche und zeitliche Koordinieren des Antragsschreibens betraf, in den Händen einer Forscherin, die darüber hinaus auch für eigene Textbausteine und die Kohäsion des Gesamttextes verantwortlich war. Schleifenartiges Feedback und dessen Einarbeitung durch die beteiligten Forscher*innen, Kommentierungen durch externe Kolleg*innen und wiederholte Rücksprachen mit den Forschungsräten bzw. Beratungsstellen der drei involvierten Forschungseinrichtungen rahmten den Schreibprozess. Inhaltlich wurde dabei immer weiter geschärft an dem Projektziel, den Forschungsfragen sowie am Forschungsdesign der explorativen Studie: Das Forschungsdesign besteht aus einzelnen Forschungsschritten, die im Antrag zwar chronologisch abgebildet und beschrieben werden, die aber oftmals gleichzeitig oder zirkulär ablaufen. Darüber hinaus werden zwar einige Schritte entweder von den Linguist*innen oder den Psycholog*innen durchgeführt, meistens sind aber alle Beteiligten bei den Analyse- bzw. Arbeitsschritten zumindest beratend oder ergänzend involviert. Die (angedachten) Forschungsschritte sollen in Reflexionsschleifen mit Fokus auf Inhalt, Kommunikation (z. B. Datenaustausch) und Zusammenarbeit überprüft werden.

Neben den bereits ausführlich geschilderten theoretisch-konzeptionellen und theoretisch-methodischen Herausforderungen beim Konzipieren des Forschungsdesigns stellten die unterschiedlichen institutionellen Rahmenbedingungen, in denen sich die Forscher*innen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz bewegen, die größte und am wenigsten erwartete Hürde bei der Projektplanung dar, wobei hier vor allem die Projektkostenplanung zu nennen istFootnote 11. Als Beispiele seien die dramatisch unterschiedlichen Lohnkosten oder die verschiedenen Abrechnungsmodi der zu leistenden bzw. ins Projekt einzubringenden Stunden zu nennen. Auch diesbezüglich bedurfte es eines intensiven Austauschs um zu einem, für den Antrag notwendigen, gemeinsamen Verständnis zu gelangen. Es wurde viel Zeit auf die Planung der „praktischen“ Zusammenarbeit, des Sicherstellens der ausreichenden Informiertheit sowie des nötigen Zugriffs auf Daten und wichtige Dokumente etc. aller Beteiligten zu jedem Zeitpunkt des Projektes verwendet um die grenzüberschreitende Kooperation maximal effizient sowie Kosten und Ressourcen sparend zu gestalten. Neben einem Kick-off Workshop an der Universität der Projektleiterin zu Beginn des Forschungsprojektes, an dem alle Beteiligten (neben den Projektverantwortlichen der drei Länder auch Doktorand*innen und Projektmitarbeiter*innen) teilnehmen werden sowie einem weiteren Treffen aller Projektmitglieder während des ersten Jahres an der Institution, an der das Datenmanagement stattfinden wird, sind rotierend an allen drei Standorten jährliche face-to-face Treffen der nationalen Projektleiter*innen und der Doktorand*innen geplant. Darüber hinaus ist ein mehrtägiges gemeinsames Abschlusstreffen aller, wieder an der Universität der Projektleiterin, geplant. Je nach Bedarf, aber mindestens einmal pro Monat, werden sich die nationalen Projektleiter*innen online via CAI (https://www.cai-world.com/online-collaboration-coaching) besprechen. Es wurde vereinbart, die Daten über einen FTP Server und eine Cloud an der Forschungseinrichtung des Projektleiters aus Deutschland zu managen.

Nach der inhaltlichen (inklusive Kosten- und Zeitplan) und formalen Finalisierung des Projektantrages wurde dieser von der (zukünftigen) Projektleiterin bei der lead agency eingereicht und die beiden anderen Forscher*innen reichten eine jeweils reduzierte Variante bei ihren nationalen Förderanstalten ein.

6 Reflexion und Ausblick

Die Beschreibung der Projektgenese und -entwicklung lässt besondere Herausforderungen bei der Entwicklung inter- und transdisziplinärer Forschungsvorhaben erahnen. Zunächst eine Bemerkung zum Forschungsgegenstand und damit zum Umstand, dass sich Forscher*innen unterschiedlicher Disziplinen für ein gesellschaftliches Phänomen zuständig fühlen. Coaching ist gewissermaßen per se ein „interdisziplinäres Geschehen“. Wir haben es mit sozialen Interaktionen in Form von Gesprächen zu tun, mit sozialen Beziehungen, mit intrapsychischen Prozessen, die sich in den Gesprächen spiegeln, und wir sind mit den in den Coachings besprochenen Themen konfrontiert (zumeist stehen diese mit der Arbeitswelt in Zusammenhang, sie können Ausdruck allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklungen sein, insbesondere spiegelt sich darin die Logik des Wirtschaftssystems). Tritt nun die Wissenschaft an den Forschungsgegenstand Coaching heran, so tut sie dies zumeist mit einer spezifischen disziplinären Perspektive. Soziolog*innen, Philosoph*innen, Betriebswirt*innen, Psycholog*innen, Linguist*innen wählen Forschungsthemen, methodische Zugänge und Ergebnisdarstellungen gemäß ihrer disziplinären Forschungskultur. Die Ganzheitlichkeit des Phänomens Coaching wird letztlich aus Gründen der besseren Bewältigbarkeit in Einzelteile fragmentiert und der Blick auf das große Ganze gerät dabei oftmals aus dem Blick. Im hier beschriebenen Vorhaben begeben sich Forscher*innen dagegen auf einen interdisziplinären Weg der Auseinandersetzung und gewähren dem Forschungsgegenstand gewissermaßen ein Stück Ganzheitlichkeit.

Eine sorgfältige Projektentwicklung und Projektplanung ist in jedem (auch disziplinären) Forschungsvorhaben nötig. Im Falle inter- und transdisziplinärer Projekte bekommt das Thema allerdings größere Relevanz, weil mehrere Beteiligte zu „orchestrieren“ sind und Forschung nicht nur einen Prozess kognitiv-inhaltlicher Auseinandersetzung, sondern auch ein Kommunikationsarrangement in einer heterogenen Gruppe darstellt. Es schiebt sich eine zweite Aufmerksamkeitsebene in die Planung und Durchführung von Forschungsprojekten, die mehr ist als Projektmanagement. Es geht um das Schaffen der Bedingung der Möglichkeit inter- und transdisziplinärer Wissensintegration.

Die erste Planungsphase eines Projektes ist weichenstellend für den gesamten Forschungsprozess: Das Forschungsteam (der Sozialkörper der Forschung) konstituiert sich in dem oben beschriebenen Vorhaben aufgrund gemeinsamer Kooperationserfahrungen und Interessen. Ganz wesentlich für das Gelingen inter- und transdisziplinärer Forschungsprojekte ist die Haltung der beteiligten Forscher*innen sowie ein gewisses Maß an sozialer Kompetenz. Man muss die Form der Forschung mögen, lässt sich vereinfacht sagen, man muss eine gewisse Offenheit Anderem gegenüber mitbringen, Freude am Kontakt mit Menschen und eine gewisse Robustheit und Frustrationstoleranz. Die Schilderung der Projektgenese verweist auf einen weiteren wichtigen Aspekt, Vertrauen und Vertrautheit zwischen den Beteiligten. Je größer und heterogener die Projektgruppe ist, umso weniger ist vorhersehbar, wie die Beteiligten sich in einem gemeinsamen Forschungsvorhaben einfinden und Vertrauen muss erst entwickelt werden (bzw. muss sich im Prozess erst erweisen, dass der Vertrauensvorschuss, mit dem die Beteiligten in ein Projekt einsteigen, gerechtfertigt ist). Die Frage, welche Personen aus Wissenschaft und/oder Praxis an der Projektentwicklung beteiligt sind, ist entscheidend.

In inhaltlicher Hinsicht sind in dem hier diskutierten Vorhaben das Interesse, die Coaching-Forschung methodisch voranzubringen, experimentierfreudig neue methodische Wege zu beschreiten und Limitierungen zu überwinden zentrale Motive für die Projektentwicklung. Die Erwartungen an eine interdisziplinäre Zusammenarbeit liegen in einer Bereicherung der Forschung durch die Perspektivenvielfalt – letztlich erwartete man sich bessere Ergebnisse. Das Forschungsthema, das sich im gegenständlichen Fall erst später konkretisiert, ist aus der Wissenschaft heraus formuliert (man nimmt eine Forschungslücke wahr), und es ist zugleich hoch praxisrelevant. Die Entwicklung des Forschungsthemas kann insofern als transdisziplinärer Prozess bezeichnet werden, als die beteiligten Forscher*innen auch als Coaches tätig sind und so in einer Doppelrolle in der Forschung agieren.

Auf dem Weg zu einer inter- und transdisziplinären Projektorganisation braucht es strukturierte Kommunikation. Wiederum gilt, je mehr Beteiligte, umso größer ist der Organisationsaufwand. Im oben beschriebenen Vorhaben haben die Forscher*innen in unterschiedlichen Konstellationen an Grundlagen gearbeitet und sich immer wieder über die mögliche Ausrichtung des Projekts verständigt. Es wird deutlich, dass die Verständigung nicht immer einfach ist. Abgesehen von unterschiedlichen inhaltlichen Interessen gilt es auch Brücken zwischen Forschungsparadigmen zu bauen. Die Differenzen zeigen sich u. a. an den Fachsprachen und der Verwendung von Begriffen. Im Umgang mit Differenzen gibt es unterschiedliche Herangehensweisen. Manche Teams verständigen sich in der Planungsphase ausführlich und noch „theoretisch“ über Konzeptionen und Begrifflichkeiten, die im geplanten Projekt relevant sind oder sein könnten. Andere bevorzugen den schnelleren Weg ins Feld und verständigen sich darauf, Zugänge und Begriffe im Detail zu klären, wenn sie im Projekt tatsächlich relevant werden. Dies nicht zuletzt auch aufgrund der Überlegung, dass jede Definition eine Festlegung bedeutet, die anderes ausschließt und somit eine Einschränkung der Perspektiven nach sich zieht, was manchmal nicht wünschenswert ist. Zwischen den Polen Klarheit (und damit Kontrollierbarkeit) und Diffusität (und damit Offenheit für Überraschendes) ist zu vermitteln. Keinesfalls bedeutet Offenheit Beliebigkeit. Jedenfalls ist es in transdisziplinären Konstellationen wichtig, die innerwissenschaftlichen Auseinandersetzungen und Klärungsprozesse nicht überbordend werden zu lassen, da in solchen Fällen die nötige Aufmerksamkeit für die Praxispartner*innen fehlt, die zumeist eine noch viel größere und herausforderndere Differenz in ein Projekt einbringen.

In der Entwicklung und der Umsetzung von inter- und transdisziplinären Projekten, kann zusammenfassend gesagt werden, geht es um eine kontinuierliche Vermittlung zwischen beteiligten Personen und Inhalten/Zielen und eine drauf abgestimmte Planung von adäquaten Projektstrukturen und Prozessen. Es wird laufend auf zwei Ebenen agiert: auf einer inhaltlichen, wo es um das Generieren von Wissen geht, und einer sozial-kommunikativen, wo die Prozesse der Wissensgenerierung, aber auch die Dimension des Praxistransfers im Fokus stehen. Die Forscher*innen haben dabei zwei Adressat*innenkreise im Blick, die gesellschaftlichen Praxisfelder und die scientific communities (Ukowitz 2014).

Die Schilderung der Projektgenese zeigt, wie der Vermittlungsprozess konkret im Rahmen eines Einzelprojektes grundgelegt werden kann. Es spiegelt sich darin zugleich auch die „Großwetterlage“. Es wird nicht weniger als eine neue Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft verhandelt – welches Wissen relevant ist, welche Beschaffenheit Erkenntnisse haben sollen und in welchen Rollen einander Praxis und Wissenschaft begegnen sollen (Nowotny et al. 2008; Ukowitz 2014). Die Verhandlung der Thematik ist keineswegs einfach und kann hier nur knapp angesprochen werden. Die Bedeutung einer gewissen kritischen Distanz und der Unabhängigkeit der Wissenschaft von unmittelbaren gesellschaftlichen Interessen ist genauso wichtig wie eine reflektierte Bezugnahme aufeinander. Es geht darum, das Spannungsfeld zu balancieren und die Differenz im Sinne eines reflektierten „Othering“ (Knorr-Cetina 2002, 2008) produktiv zu gestalten. Wie im einleitenden Kapitel skizziert, ist ein Argument für eine engere Kooperation zwischen Wissenschaft und Praxis die Beobachtung, dass sich eine rein nach einer innerwissenschaftlichen Logik und disziplinär organisierte Wissensproduktion mitunter zu weit von der gesellschaftlichen Praxis entfernt und die Praxis trotz verschiedener Bemühungen um Dissemination der Ergebnisse kaum von wissenschaftlichen Erkenntnissen Notiz nimmt. Für die Coaching-Prozessforschung bieten inter- und transdisziplinäre Forschungsansätze in einem doppelten Sinn interessante Perspektiven: sie befördern Praxiswirksamkeit von Forschung und bieten umgekehrt den Forscher*innen die Möglichkeit, in ihrer empirischen Arbeit unmittelbar Einblick in die Coaching-Praxis zu gewinnen. Der Umstand, dass Forschung als kommunikatives Arrangement und sozialer Prozess verstanden wird, kommt zudem Expert*innen aus Wissenschaft und Coaching-Praxis entgegen – sind doch Kommunikation, Prozesshaftigkeit und gemeinsames Lernen auf Augenhöhe dort wie da grundlegende Charakteristiken.