Der hier als Sonderheft vorliegende Corpus ausgewählter Texte hat während des Edierens seinen Charakter geändert. Zunächst als Festschrift konzipiert, um das akademische Wirken Hans Werbiks (1941–2021) aus Anlass seines 80sten Geburtstags zu würdigen, ist er durch dessen plötzlichen Tod im Dezember 2021 zu einer Denkschrift transformiert.

Eine der wichtigen Erkenntnisse, die Werbiks Forschung wie ein roter Faden durchzieht, könnte man den Pluralismus der Perspektiven nennen. Wenn Werbik in der zusammen mit Stephan Straßmaier verfassten Abhandlung Aggression und Gewalt: Theorien, Analysen und Befunde schreibt, dass die „menschliche Psyche als Ganzes […] unerkennbar“ (Straßmaier und Werbik 2018, S. 196) sei, dann sollte dies nicht als ein ignoramus et ignorabimus im Sinne Emil du Bois-Reymonds verstanden werden, sondern vielmehr als Erinnerung daran, dass sich das Ganze der Psychologie immer aus verschiedenen Perspektiven zusammensetzt. Denn, so Werbik weiter, psychologische Aussagen seien stets perspektivenabhängig und beschreiben „vermutlich immer nur einen Ausschnitt aus der Wirklichkeit“ (Straßmaier und Werbik 2018, S. 195). Diese Bemerkung soll hier als Rahmen dienen, durch den deutlich wird, dass sich das akademische Schaffen Hans Werbiks in einer Vielzahl von Perspektiven präsentiert.

Die Frage der Perspektive wird für Werbik buchstäblich in der psychologischen Theoriebildung relevant. Die infrage kommenden Perspektiven – 1. die Perspektive des erlebenden Subjekts, 2. die intersubjektive Perspektive des Dialogpartners und 3. die Perspektive des Beobachters – sollten in ihrer Geltung nicht gegeneinander ausgespielt, sondern im Gegenteil stets aufeinander bezogen bleiben. Uwe Wolfradt und Lars Allolio-Näcke zeigen in ihrem Beitrag Auf dem Weg zu einer Kulturpsychologie, dass sich für Werbik das Beharren auf der theoretischen Gleichberechtigung der Perspektiven aus einem grundlegenden erkenntnistheoretischen Problem herleitet, wonach „die konstruierte objektive Welt“ gerade nicht „die subjektive Welt“ erklären kann. Die Verabsolutierung einer Erklärungsperspektive muss also unweigerlich zu einer „Blicks- und Zugangsbeschränkung“ auf den Untersuchungsgegenstand Mensch führen.

Hans Werbik führte eben diese grundlegende Erkenntnis zur Entwicklung einer Handlungs- und Kulturpsychologie. Handlungen sind nicht nur komplex und in die soziale, kulturelle wie auch natürliche Umwelt des Menschen eingebunden, sie lassen sich auch nach normativen Standards bewerten. Das bedeutet, will man Handlungen erklären, muss man sowohl die Gründe und Motive des handelnden Subjekts in die Erklärung mit einbeziehen wie auch das Normensystem, welches dem Handeln einen subjektiven Sinnzusammenhang gibt und das auch für den Beobachter als sinnhafter Grund des Verhaltens erscheint. Ein so konzipierter Handlungsbegriff ist naturgemäß auf eine Vielzahl von Erklärungsperspektiven angewiesen. Wie instruktiv die Verbindung der Erklärungsperspektiven sein kann, zeigt Ulrike Popp-Baier in ihrem Beitrag Individueller religiöser Pluralismus, in dem sie dafür argumentiert, auch die Religionspsychologie „noch stärker als bisher an einer […] Handlungs- und Kulturpsychologie zu orientieren“.

Der Pluralismus der Perspektiven umfasst allerdings nicht nur die möglichen Perspektiven psychologischer Aussagen, er betrifft auch die Perspektive auf die Fundamente der Wissenschaft selbst. Und so wird an Hans Werbik neben anderen von Carlos Kölbl in seinem Beitrag Was war die Erlanger Handlungspsychologie? Eine dreiteilige Skizze als ein Psychologe erinnert, der sich grundlegenden wissenschaftstheoretischen und methodologischen Fragen gewissenhaft widmete. Damit einher ging für Werbik auch die Bereitschaft, paradigmatische Selbstverständlichkeiten der psychologischen Theoriebildung in Zweifel zu ziehen und etwa darauf hinzuweisen, dass, wenn Handlungen kulturell imprägniert sind, „Handlungspsychologie und Kulturpsychologie als unauflösliches Junktim“ zu betrachten seien.

Eine dritte Weise, in der sich der Pluralismus der Perspektiven als treffendes Bild für Werbiks wissenschaftliches Wirken zeigt, ist die ausgeprägte und gewinnbringende interdisziplinäre Zusammenarbeit. Das gilt zunächst für die Erlanger Schule des Konstruktivismus um Paul Lorenzen, Wilhelm Kamlah und Oswald Schwemmer – hier erneut erhellend Kölbls Beitrag ebenso wie Wilhelm Kempfs Beitrag „Lügenpresse“, „alternative Fakten“ und die epistemologische Naivität des sozialen Konstruktivismus –, die Werbik in der Entwicklung seiner Handlungstheorie maßgeblich beeinflusst hat. Der angestrebte Austausch zwischen den Fachdisziplinen – und hier vor allem der Austausch zwischen der Philosophie und der Psychologie –, die von der methodischen Ausrichtung vielleicht verschieden sind, aber dennoch ein gemeinsames Erkenntnisinteresse haben, ist für Werbiks akademische Tätigkeit prägend. Es ist diese, die Fachperspektiven überschreitende Haltung gegenüber dem Forschungsgegenstand, die Hans Werbik auch zu einem Forscher der Zukunft macht, und zwar ganz im Sinne Gerhard Benetkas, der in seinem Beitrag zu diesem Sonderheft Freud als Neurowissenschaftler oder Ein Text, den mein Freund Hans Werbik gemocht hat, schreibt: „Weiter aber lebt, was weiter gedacht wird“.

Werbiks Vermächtnis ist nicht nur in der Disziplin der Psychologie und ihren Grundlagen groß, vor deren Kritik er nicht zurückgeschreckt ist (bspw. Werbik und Benetka 2016), sondern auch im sozialen Gefüge der Wissenschaft. Als Gründer der Gesellschaft für Kulturpsychologie 1986 und zuletzt 2018 der Arbeitsgemeinschaft Philosophie & Psychologie hat er gezeigt, dass ihm das Zusammenleben und -arbeiten der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Herzen lag. Diese Forscherverbände haben es sich zum Ziel genommen, Werbiks konstruktive und innovative Arbeit fortzusetzen.

Hervorzuheben ist zudem eine vierte Perspektive auf die Psychologie als Wissenschaft, die Hans Werbik verkörperte und die in diesen krisendurchwirkten Zeiten Vorbild sein kann: Für ihn war Forschung immer auch ein politisch-ethisches Anliegen. In dem mit Heinz Jürgen Kaiser gemeinsam geschriebenen Band Handlungspsychologie heißt es: „Wir denken, dass eine solche Psychologie Mittel bereitstellt, dass Menschen lernen, sich selbst als Akteure in dieser Welt besser zu verstehen. […] Das setzt aber voraus, dass die Akteure Einblicke gewinnen in die psychischen Grundlagen ihrer eigenen individuellen Entscheidungen“ (Kaiser und Werbik 2012, S. 197). In diesem Sinn untersucht Stephan Straßmaier in seinem Aufsatz Die Tragik der Machtsysteme aus spieltheoretisch-psychologischer Sicht psychologische Aspekte des kollektiven, kooperativen und politischen Handelns: „Das Innehaben von Machtfülle kann ein Individuum daneben langfristig nachteilig psychisch verändern: sie vermag insbesondere die Fähigkeit zur Empathie zu mindern, Respektlosigkeit und eigennützige impulsive Selbstsüchtigkeit zu steigern und damit eine Person zu korrumpieren.“

Besonders der letzte Satz lässt aufhorchen und veranschaulicht abermals, was als ein Vermächtnis Hans Werbiks begriffen werden kann: Die Untersuchung der psychologischen Grundlagen politischer Akteure ist und bleibt eine Zukunftsaufgabe, vor allem aber ist dies eine Aufgabe, zu deren Lösung es aller möglichen Perspektiven, mithin einen Pluralismus der Perspektiven bedarf.

Verse

Verse 27. Februar 2021: Prof. Dr. Hans Werbiks 80. Geburtstag! Jetzt 80 Jahre auf der Welt, auf unserer Welt. Und nun: Was zählt? Dass diese Jahre ein Gewinn, und sicherlich nicht nur für ihn, nein, gerade auch für so, so viele, die lernten für bestimmte Ziele. Die unsre Welt verstehen wollten und als Studierende auch sollten. Sie kamen gern in’s Institut, und fanden einiges besonders gut, vor allem aber jene Stunden, in denen sie dann das gefunden, was Wissen übers Handeln war, spezielles Tun der Menschen, klar … Uns oft jedoch gar nicht bewusst, deshalb verbunden mit viel Frust, wenn’s man nicht kontrollieren kann. Doch wer Hans Werbik hörte, der gewann viel neues Wissen zur Kontrolle menschlichen Handelns und auch volle Erkenntnisse, wie man es schafft, gut umzugehen mit der Kraft, die Mensch vom Tiere unterscheidet und auch verhindert, dass man leidet an dem Gedanken, dass das Leben, uns gar nicht wirklich ganz gegeben. Das zu bekommen und zu nützen, vor dem Objektsein uns zu schützen, das zeigt uns ganz klar und auch wie Hans Werbiks Handlungstheorie!

Hans Werbiks Leben: Sehr erfüllt, sehr kreativ und für viele andere Menschen in sehr positiver Weise führend.

Für diese Lebensleistung sei ihm ganz herzlich gedankt, und dafür wird er auch bewundert!

Ein Bewunderer: Heinz Jürgen Kaiser, dessen Dr. phil und apl. Prof. auch auf der Förderung von Prof. Hans Werbik beruhen.