1 Einleitung

Der Gedanke, dass Wirklichkeit etwas Relatives sei, ist nicht gerade neu. Bereits 1958 hatte der spätere Literaturnobelpreisträger Harold Pinter geschrieben:

Es gibt keine klaren Unterschiede zwischen dem, was wirklich und dem was unwirklich ist, genau so wenig wie zwischen dem, was wahr und dem was unwahr ist (Pinter 2005, S. 1).

Mit dem Verständnis der Wirklichkeit als einer Konstruktion eröffnen sich jedoch neue Perspektiven, die über bloßen Relativismus hinausgehen und die auch eine tragfähige Antwort auf das Dilemma erlauben, in dem sich Pinter noch fast 50 Jahre später gefangen sieht, als er in seiner Nobelpreisrede bekennt:

Ich halte diese Behauptungen immer noch für plausibel und weiterhin gültig für die Erforschung der Wirklichkeit durch Kunst. Als Autor halte ich mich daran, aber als Bürger kann ich das nicht. Als Bürger muss ich fragen: Was ist wahr? Was ist unwahr? (2005)

Heute, da populistische Politiker, Parteien und Bewegungen laut „Lügenpresse“ schreien, während sie gleichzeitig grobe Lügen als „alternative Fakten“ verkaufen, ist diese Frage dringender denn je zuvor. Die Erkenntnis der Wirklichkeit ist ja nicht Selbstzweck, sondern hat ein einleuchtendes praktisches Ziel. Sie dient der Orientierung des Menschen in seiner Umwelt und der Absicherung des Erfolgs seines Handelns. Deshalb besteht ein praktisches Interesse daran, zwischen dem, was wirklich ist, und dem, was unwirklich ist, zu unterscheiden. Und aus demselben Grund besteht auch ein praktisches Interesse daran, zwischen dem zu unterscheiden, was wahr, und dem, was unwahr ist.

Kambartel (1968) hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Aussagen dazu dient, die gesellschaftliche Institution des Behauptens funktionsfähig zu erhalten. Nur wenn wir uns auf die Wahrheit des Behaupteten verlassen können, sind wir in der Lage, Möglichkeiten und Grenzen des Handelns, deren sich andere versichert haben, für unser eigenes Handeln in Rechnung zu stellen. Da wir hiervon jederzeit Gebrauch machen, ist der Verlass auf die Behauptungen anderer ein unverzichtbares Element unserer eigenen (gesellschaftlichen) Lebenspraxis.

Unter dem Einfluss des von Berger und Luckmann (1969) begründeten sozialen Konstruktivismus vertreten heute jedoch selbst Medienwissenschaftler die Auffassung, dass alle Tatsachen stets aus einem universellen Zusammenhang ausgewählte – und daher immer schon interpretierte Tatsachen – sind (Schütz 1971), was dann z. B. von Schudson (2003) oder Hanitzsch (2004) dahingehend zugespitzt wird, dass jede Repräsentation der Wirklichkeit notwendigerweise selektiv sei und daher nur ein verzerrtes Abbild der Realität biete, weshalb keine Repräsentation der Wirklichkeit gegenüber den anderen ausgezeichnet werden könne. Diese Auffassung gilt es geradezurücken.

Keine Forschung ist der Frage enthoben, wie sie sich als menschliches Handeln zu verstehen und zu rechtfertigen vermag. Sie bedarf daher einer widerspruchsfreien Grundlegung durch Logik und Epistemologie und auch der Konstruktivismus muss sich folglich befragen lassen, ob er seine epistemologische Grundposition auf das eigene Handeln anwenden kann.

Wenn aber jede beliebige Wirklichkeitskonstruktion gleichrangig neben allen anderen steht (s. oben), dann steht auch der soziale Konstruktivismus als eine beliebige Konstruktion unter vielen und negiert somit seinen eigenen Geltungsanspruch.

2 Wahrheit und Wirklichkeit

Um eine wie auch immer geartete Wirklichkeit mit ihren Repräsentationen (den Bildern von der Wirklichkeit) vergleichen zu können, muss vorher geklärt sein, was mit dem Begriff der Wirklichkeit gemeint ist, und wie zwischen dieser Wirklichkeit einerseits und ihren Repräsentationen andererseits zu unterscheiden ist.

Gerade eine solche Klärung bleiben radikaler und sozialer Konstruktivismus aber schuldig. So wird zwar von Glasersfeld (1992, S. 30, Hervorhebung im Original) beteuert:

Der Radikale Konstruktivismus leugnet keineswegs eine äußere Realität,

und auch der soziale Konstruktivismus (z. B. Gergen, 2002, S. 276) bekennt, diese nicht leugnen zu wollen. Worin jedoch diese äußere Realität bestehen soll bzw. was darunter zu verstehen ist, wird aber nicht ausgeführt. Lediglich in dem Glauben daran, dass sie der menschlichen Erkenntnis grundsätzlich nicht zugänglich sei, sind sich die Autoren einig.

Um diese Ungereimtheiten aufzulösen, bedarf es erstens einer Klärung des Verhältnisses von Wahrheit und Wirklichkeit, zweitens der Differenzierung zwischen verschiedenen Formen der Wirklichkeit, drittens einer Unterscheidung zwischen Tatsachen und Bedeutungen und viertens der Einsicht, dass Wahrheit vs. Falschheit nicht das einzige Kriterium ist, an dem die Tragfähigkeit einer Behauptung gemessen werden kann.

Der Weg, der dorthin führt, wurde von Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen vorgezeichnet, deren 1967 erschienenes Buch Logische Propädeutik gleichsam die Keimzelle des methodischen Konstruktivismus bildete.

Ähnlich wie Gergen gehen auch Kamlah und Lorenzen (1967) davon aus, dass die Erkenntnis der Wirklichkeit eine sprachlich verfasste Praxis ist, was so viel bedeutet wie eine sprachlich vermittelte Form der tätigen Auseinandersetzung des Menschen mit der ihn umgebenden Wirklichkeit (Demmerling 1995). Als solche ist sie sowohl kritisierbar als auch begründbar und begründungsbedürftig und die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Aussagen wird im methodischen Konstruktivismus daher als Unterscheidung zwischen solchen Aussagen rekonstruiert, die wir für unser Handeln benutzen wollen, und solchen, die wir für unser Handeln ausdrücklich nicht benutzen wollen.

Die Metaprädikation einer Aussage als „wahr“ bedeutet entsprechend nichts anderes als das ausdrückliche Versprechen, die mit der Behauptung der Aussage verbundenen Verteidigungspflichten auf Verlangen einzulösen (Kambartel 1968). Ob eine Aussage wahr oder falsch ist, hängt somit nicht nur von der Aussage selbst, sondern auch noch von etwas anderem ab, nämlich davon, ob auch jeder andere sachkundige und unvoreingenommene Angehörige der Sprachgemeinschaft nach geeigneter Nachprüfung zu demselben Ergebnis kommen würde (Kamlah und Lorenzen 1967).

Eben dies ist es, was wir versprechen, wenn wir eine Aussage als wahr bezeichnen. Und indem wir dies tun, behaupten wir zugleich, dass der in der Aussage dargestellte Sachverhalt wirklich ist: Aussagen stellen Sachverhalte dar, wahre Aussagen stellen wirkliche Sachverhalte dar.

Indem Wirklichkeit derart als eine Qualität definiert wird, die jenen Sachverhalten zukommt, die in wahren Aussagen dargestellt werden, ergibt sich sowohl die Konsequenz, dass die Wirklichkeit eine Konstruktion darstellt, als auch, dass die Erfahrung der Wirklichkeit von jenen Typisierungen geleitet wird, welche die Sprache bereitstellt (Schütz 1970). Nicht von ungefähr steht am Anfang des methodischen Konstruktivismus daher der systematische und schrittweise begründete Aufbau einer wissenschaftlichen Terminologie.

Mit der oben skizzierten Einführung der Termini Wahrheit und Wirklichkeit wird die Abhängigkeit unseres Sprechens über „die Wirklichkeit“ (über das, was tatsächlich der Fall ist), von unserer Fähigkeit, vorab die Wahrheit von Aussagen feststellen zu können, offenkundig.

„Nicht die Wirklichkeit entscheidet über die Wahrheit (etwa physikalischer Theorien oder naturkundlicher Beschreibung), sondern deren Wahrheit entscheidet darüber, was wirklich ist – um die Konsequenz der obigen Vorschläge pointiert zu ziehen“ (Janich et al. 1974, S. 83).

Wahrheitsfähig sind nur jene Aussagen, für die festgelegt ist, wie für oder gegen ihre Geltung zu argumentieren ist. Mit zunehmendem Erkenntnisfortschritt verfeinern und differenzieren sich diese Festlegungen. Was heute als wahr gilt, kann sich morgen als falsch erweisen. Auch die Wirklichkeit befindet sich daher in einem ständigen Fluss. Mitunter kommt es geradezu zu ihrer Revolutionierung. Dann mag es so scheinen, als ob unser bisheriges Wissen an einer äußeren Realität gescheitert sei. Tatsächlich ist diese „äußere Realität“ aber nichts, das außerhalb dessen existiert, was in wahren Aussagen dargestellt werden kann, sondern die Utopie einer Wirklichkeit, wie sie sich darstellen würde, wenn der Prozess der Erkenntnis an sein Ende kommen könnte.

3 Formen der Wirklichkeit

Dass wir durch die sprachlichen Unterscheidungen, welche wir treffen, bestimmte Aspekte unseres Gegenstandes in den Vordergrund rücken, ist unvermeidlich und auch so gewollt. Wenn Sprache keine Unterscheidungen trifft, kann sie auch ihre Orientierungsfunktion nicht erfüllen. Bezüglich der Frage, wie diese Unterscheidungen getroffen werden sollen, ist uns in der Wissenschaft, die wir uns schrittweise begründend aneignen, allerdings mehr Spielraum für methodenkritische Argumentationen gegeben als in der Alltagswelt, in die wir hineinsozialisiert werden (Berger und Luckmann 1969). Auch die Verteidigungspflichten, die wir mit der Behauptung einer Aussage eingehen, sind im Alltagsleben oft nicht so genau festgelegt, weshalb es sinnvoll erscheint, verschiedene Formen von Wirklichkeit zu unterscheiden:

  1. 1.

    Eine Wirklichkeit, welche die Subjektivität transzendiert, indem sie in solchen Aussagen dargestellt wird, deren Wahrheit anhand von explizit vereinbarten und methodisch begründeten Regeln (= transsubjektiv) nachgeprüft werden kann. Diese können wir auch als objektive Wirklichkeit bezeichnen;

  2. 2.

    Eine Wirklichkeit, die in Aussagen dargestellt wird, für die solche Regeln zwar nicht existieren, deren Wahrheit aber in dem Sinne soziale Praxis ist, als der Glaube daran intersubjektiv geteilt wird. Diese können wir auch als soziale Wirklichkeit bezeichnen sowie

  3. 3.

    Die subjektive Wirklichkeit i.e. S., für die auch dies nicht der Fall ist, das erkennende Subjekt aber dennoch von der Wahrheit der sie darstellenden Aussagen überzeugt ist.

Dabei haben die transsubjektiv begründete (objektive) Wirklichkeit einerseits und die bloß intersubjektiv geteilte (soziale) Wirklichkeit sowie die subjektive Wirklichkeit i.e. S. andererseits einen ganz verschiedenen methodologischen Status.

Während die objektive Wirklichkeit ausschließlich jene Tatsachen (= wirkliche Sachverhalte) umfasst, welche in wahren Aussagen dargestellt werden, enthalten die soziale und die subjektive Wirklichkeit i.e. S. auch

  • bloß mögliche Sachverhalte, die zwar in wahrheitsfähigen Aussagen dargestellt werden, deren Wahrheit oder Falschheit aber (noch) unentschieden ist,

  • fingierte Sachverhalte, die in falschen Aussagen dargestellt werden,

  • und solche Sachverhalte, die in dem Sinne bloß simuliert sind, als sie in Aussagen dargestellt werden, von denen noch nicht einmal feststeht, wie für oder gegen ihre Geltung zu argumentieren ist.

Dass diese verschiedenen Formen der Wirklichkeit nicht gleichrangig nebeneinanderstehen – und daher auch nicht jede beliebige Wirklichkeitskonstruktion denselben Geltungsanspruch erheben kann –, liegt somit auf der Hand. Gleichwohl sind die Grundlagenprobleme des sozialen Konstruktivismus damit noch nicht gelöst.

4 Tatsachen und Bedeutungen

Soziale und subjektive Wirklichkeit sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich im Medium der Alltagssprache konstituieren, die einen systematischen und methodischen Aufbau vermissen lässt. Daher können wir zwar für die Rede über die soziale und subjektive Wirklichkeit und deren Genese eine geklärte Terminologie einfordern; bezüglich der Worte, mittels derer wir diese Wirklichkeit – gleichsam aus der Innenperspektive der Betroffenen – darstellen, ist eine Sprachnormierung dagegen nicht möglich. Aber auch symbolische Sinnwelten – wozu die Sprache gehört – sind „gesellschaftliche Produkte, die Geschichte haben. Wenn man ihre Sinnhaftigkeit verstehen will, so muss man die Geschichte ihrer Entstehung verfolgen, was umso wichtiger ist, als diese Hervorbringungen des menschlichen Bewusstseins sich ihrem Wesen nach als vollentfaltete, unumstößliche Ganzheiten präsentieren“ (Berger und Luckmann 1969, S. 104).

Um die subjektive Welt eines Menschen, die in der Regel ein Amalgam aus objektiven, sozialen und subjektiven Wirklichkeiten i.e. S. darstellt, aus seiner Innenperspektive heraus zu erfassen, bleibt uns daher nichts anderes übrig, als die von ihm selbst vorgenommenen Unterscheidungen und Bedeutungszuweisungen zu rekonstruieren.

Doch nicht nur das. Menschliches Handeln orientiert sich nicht nur an Tatsachen (oder dem, was wir dafür halten), sondern an deren Bedeutung (Blumer 1973). Ob etwas eine Tatsache ist, kann anhand von allgemein zustimmungsfähigen Regeln (= transsubjektiv) nachgeprüft werden. Für die Konstitution von Bedeutungen gibt es solche Regeln dagegen nicht.

Die Bedeutung eines Sachverhalts resultiert aus seinem Kontext und aus der Perspektive, aus welcher wir auf ihn blicken. Die Zuschreibung von Bedeutungen ist ein interpretativer Prozess, der u. a. auf aktuellen Interessen, biografischen Erfahrungen, sozialen und kulturellen Regeln beruht.

Da verschiedene Menschen, Gruppen und Gesellschaften verschiedene Interessen und Erfahrungen besitzen, und da verschiedene Gruppen, Gesellschaften und Kulturen dieselben Tatsachen aufgrund verschiedener Regeln interpretieren, entbehrt die Welt der Bedeutungen einer transsubjektiven Basis, und es ist deshalb nicht möglich, Bedeutungen per se als wahr oder falsch zu beurteilen. Die Prädikatoren wahr und falsch sind auf Aussagen über die Bedeutung eines Sachverhalts schlichtweg nicht anwendbar. Oder anders ausgedrückt:

  • Sie können nicht gegenüber jedem unvoreingenommenen und sachkundigen Kontrahenten verteidigt werden,

  • sondern nur gegenüber solchen, welche dieselben sozialen und kulturellen Regeln teilen, die Dinge aus derselben Perspektive betrachten und auf ähnliche Erfahrungen zurückblicken.

Wenn aber Aussagen über die Bedeutung eines Sachverhalts weder wahr noch falsch sind, müssen wir dann nicht Hanitzsch (2004) Recht geben, dass – zumindest was die Bedeutungen betrifft – jede beliebige Wirklichkeitskonstruktion denselben Geltungsanspruch erheben kann? Oder müssen wir uns gar von den Sozial- und Kulturwissenschaften abwenden und uns auf die harten Naturwissenschaften beschränken, wo die Dinge viel einfacher liegen?

Auch hier erweist es sich als sinnvoll, etwas methodologische Strenge an den Tag zu legen und das Kind nicht gleich mit dem Bade auszuschütten. Wenn Menschen gegenüber den Dingen ihrer Umwelt aufgrund der Bedeutung handeln, welche diese für sie besitzen (Blumer), dann besteht ein praktisches Interesse an den Sozial- und Kulturwissenschaften. Und obwohl Aussagen über die Bedeutung eines Sachverhalts per se weder wahr noch falsch sind, gilt dies nicht gleichermaßen auch für die Theorien der Sozial- und Kulturwissenschaften.

Obwohl Bedeutungen relativ sind, gibt es dennoch Aussagen über Bedeutungen, welche einer Verifikation oder Falsifikation zugänglich sind.

  • Diese sind aber nicht Aussagen über die Bedeutung eines Sachverhalts per se,

  • sondern Aussagen, welche die Bedeutung beschreiben, die ein Sachverhalt für eine gegebene Person, Gruppe, Gesellschaft oder Kultur besitzt,

  • Aussagen, welche die Perspektiven und Erfahrungen und/oder die sozialen und kulturellen Regelsysteme darstellen, aufgrund derer sich diese Bedeutung konstituiert sowie

  • Aussagen, welche beschreiben, wie diese Wirklichkeitskonstruktionen miteinander interagieren und das Handeln bestimmen.

Was also wahr oder falsch sein kann – und damit einer wissenschaftlichen Behandlung zugänglich ist –, sind die Beschreibungen sozialer und/oder subjektiver Bedeutungswelten; die Erklärung, wie sie sich konstituieren, und die Analyse ihrer Interaktionen und Folgen.

5 Angemessenheit von Behauptungen

Ist aber unter solchen Prämissen überhaupt noch eine kritische Sozialforschung möglich, die nicht nur erklärt, wie sich die subjektive Welt des Menschen de facto konstituiert, sondern eine Orientierungshilfe für menschliches Handeln bietet? Oder, um es an einem konkreten Beispiel festzumachen: ist das auf Deutsch (1973) zurückgehende Konzept der Anheizung von Konflikten durch charakteristische Fehlwahrnehmungen und der kognitiv-emotionalen Eskalation der Konfliktwahrnehmung von blinden Flecken hin zu ausgesprochenen Wahrnehmungsverzerrungen (Kempf 1996, 2021), mit einem so verstandenen Konstruktivismus noch vereinbar?

Die Antwort, die sich darauf geben lässt, lautet ja. Denn wenn der Diskurs über Bedeutungen zwar kein Diskurs darüber sein kann, ob sie per se wahr oder falsch sind, so können Bedeutungszuschreibungen dennoch in Hinblick auf ihre Angemessenheit beurteilt werden. Auch dieses Prädikat kommt den Bedeutungszuweisungen freilich nicht per se zu. Angemessenheit ist ein zweistelliger Prädikator, der die zugeschriebenen Bedeutungen mit etwas anderem in Relation setzt, das außerhalb der Bedeutungen selbst liegt: mit der Orientierungsfunktion, welche die Bedeutungszuschreibungen für das menschliche Handeln ausüben.

Im Falle von konfliktbedingten Fehlwahrnehmungen bedeutet dies z. B., dass die Regeln, welchen die Konfliktwahrnehmung folgt, zwar nicht als richtig oder falsch kritisierbar sind, dass sie aber dennoch als eskalations- oder deeskalationsträchtig beurteilt werden können, und je nachdem, worauf wir unser Handeln orientieren – auf Konfliktverschärfung oder Konfliktbewältigung – können sie sich als angemessen oder unangemessen erweisen.

Und wenn wir in Rechnung stellen, dass Konflikte grundsätzlich dafür offen sind, entweder kompetitiv ausgetragen oder kooperativ bewältigt zu werden, können wir all jene Wirklichkeitskonstruktionen als Fehlwahrnehmung bezeichnen, die eine konstruktive Konfliktbewältigung ausschließen oder behindern.

Der methodologische Trick, der es uns ermöglicht, von Fehlwahrnehmungen zu sprechen, besteht darin, dass wir den Konflikt und seine Wahrnehmung erstens nicht bloß aus der Innenperspektive der einen oder der anderen Konfliktpartei betrachten, sondern aus der Außenperspektive des Sozialforschers und dass wir die Konfliktwahrnehmung zweitens auf Grundlage unseres – transsubjektiv begründeten – Wissens über die Eskalationsdynamik von Konflikten interpretieren.

Folglich sollten wir korrekterweise auch nicht davon sprechen, dass die Wirklichkeitskonstruktion der einen oder anderen Konfliktpartei eine Fehlwahrnehmung ist, sondern dass sie im Interesse der Konfliktbewältigung und im Lichte der Konflikttheorie betrachtet, eine Fehlwahrnehmung bedeutet. Die Auffassung, wonach alle beliebigen Repräsentationen der Wirklichkeit gleichrangig nebeneinanderstehen, erweist sich jedoch ihrerseits als naiv.

6 Schluss

Die Rede von einer „äußeren Realität“, die jenseits dessen existiert, was in wahren (oder für wahr gehaltenen) Aussagen dargestellt wird, kann nicht aufrechterhalten werden. Entsprechend ergibt es auch keinen Sinn, davon zu sprechen, dass jede „Repräsentation“ dieser (simulierten) Wirklichkeit ein „verzerrtes Abbild der Realität“ darstelle.

Dass jede Konstruktion der Wirklichkeit selektiv ist und die behaupteten Sachverhalte damit interpretiert, bleibt davon unberührt: Soziale Wirklichkeit ist eine bedeutungshaltige Wirklichkeit. Daraus folgt aber nicht, dass alle Wirklichkeitskonstruktionen gleichrangig nebeneinanderstehen und sich der Kritik entziehen.

Die soziale Wirklichkeit umfasst sowohl Tatsachen, die in wahren Aussagen dargestellt werden, als auch fingierte Sachverhalte, die in falschen Aussagen dargestellt werden, bloß mögliche Sachverhalte, über deren Wahrheit oder Falschheit noch nicht entschieden ist, und simulierte Sachverhalte, die in Aussagen dargestellt werden, von denen noch nicht einmal feststeht, wie über deren Wahrheit zu entscheiden ist.

Dass diese Aussagen nicht gleichrangig nebeneinanderstehen und daher auch nicht jede beliebige Wirklichkeitskonstruktion denselben Geltungsanspruch erheben kann, liegt auf der Hand. Zumindest „alternative Fakten“ sind als solche identifizierbar, und die transsubjektiv nachprüfbare Wahrheit vs. Falschheit behaupteter Sachverhalte ist zudem nicht das einzige Kriterium, an dem eine Wirklichkeitskonstruktion gemessen werden kann.

Menschliches Handeln orientiert sich nicht nur an Tatsachen (oder dem, was wir dafür halten), sondern an deren Bedeutung, die ihrerseits wiederum daraus resultiert, wie sie interpretiert werden. Da die Welt der Bedeutungen einer transsubjektiven Basis entbehrt, können Bedeutungen jedoch nicht per se als wahr oder falsch beurteilt werden. Trotzdem gibt es Aussagen über Bedeutungen, welche einer Verifikation oder Falsifikation zugänglich sind.

Auch wenn der Diskurs über Bedeutungen zwar kein Diskurs darüber sein kann, ob sie wahr oder falsch sind, können Wirklichkeitskonstruktionen dennoch auf ihre Angemessenheit hin befragt werden. Und je nachdem, worauf wir unser Handeln orientieren, können sie sich als angemessen oder unangemessen erweisen.

Dass die Bewältigung von Konflikten Aufgabe der Sozialwissenschaften sein soll, ist keine epistemologische, sondern eine praktische Frage. Epistemologische Naivität, die jegliche Wirklichkeitskonstruktionen gleichrangig nebeneinanderstellt, öffnet jedoch nicht nur Tür und Tor dafür, Unwahrheiten als „alternative Fakten“ zu akzeptieren und unliebsame Tatsachen als „Lügen“ zu diffamieren. Sie verhindert auch eine kritische Sozialforschung, die ihrer Aufgabe gerecht wird.