Der Fokus auf wechselseitige Verflechtungen bei der Analyse des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik hat derzeit Konjunktur in der Wissenschaftsgeschichte. Auch das hier zu besprechende Buch von Friedrich Cain – es handelt sich um seine 2018 an der Universität Konstanz verteidigte und überarbeitete Dissertation – ist ein Beitrag zur politischen Epistemologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dem Autor gelingt es, das theoretische Konzept der politischen Epistemologie empirisch umzusetzen; er tut dies am Beispiel der klandestinen Forschungspraxis von polnischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern unter den Bedingungen der deutschen Besatzungsherrschaft von 1939 bis 1945. Hierbei verwendet er eine beeindruckende Fülle unveröffentlichten Materials aus den Universitätsarchiven Polens. Cain beweist aber auch, dass er vor schwierigen, mitunter stark emotional besetzten Themen nicht zurückschreckt. Denn es stellt kein leichtes Unternehmen dar, zu erklären, wie polnische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ohne Zugang zu Laboren, Archiven oder Bibliotheken arbeiten und publizieren konnten (S. 6), ohne von Kollaborationsverhältnissen zu sprechen und dabei gleichzeitig auch keine naive polnische Widerstands- und Heldengeschichte zu schreiben. Stattdessen fokussiert der Autor Räume und Institutionen der Wissenschaft, in denen Polen und Deutsche miteinander interagierten, analysiert die daraus erwachsenen Ambivalenzen und Widersprüche und gewichtet dabei auch das ungleiche Machtverhältnis in Polen unter deutscher Besatzung in angemessener Weise.

Die Studie untersucht drei Beispiele klandestiner Forschungspraxis und von Wissenschaft im Untergrund: Soziologie (Teil I), Medizin (Teil II) und Physik (Teil III). Der Einleitung ist zu entnehmen, dass zwischen 1942 und 1945 etwa 136 Lehrende ungefähr 800 Studierende unterrichteten (S. 2). Cain fragt nach der Lehrpraxis sowie den Entstehungskontexten wissenschaftlicher Texte von Polinnen und Polen und danach, welchen epistemischen Wandlungen sie unter Besatzungsbedingungen unterlagen (S. 8f.). Zentraler Ausgangspunkt seiner Argumentation ist, dass Krieg und Okkupation zu einer existenzbedrohenden Situation führten, „in der wissenschaftliche Identitäten Halt versprachen“ (S. 17). Hierbei rekurriert er auf das Konzept der wissenschaftlichen Persona nach Lorraine Daston und Otto Sibum (2003) und legt ein besonderes Augenmerk auf die narrative Verfasstheit von Erinnerungen an den Untergrund, die polnische Autorinnen und Autoren meist nach 1945 veröffentlichten.

In Teil I zeigt Cain, dass der deutsche Überfall für polnische Sozialwissenschaftler nicht nur ein vollkommen verändertes Alltagsleben brachte, vielmehr veränderten die Besatzer auch deren Gegenstand, denn „Gesellschaft bot sich nun ganz anders dar als zuvor“ (S. 58): Die polnischen Soziologinnen und Soziologen konnten den nach 1939 in Gang gesetzten raschen gesellschaftlichen Wandel gewissermaßen unter Laborbedingungen beobachten und dokumentieren. Cain geht insbesondere auf die Schreib- und Notizpraktiken des Philosophen und Soziologen Stanisław Ossowski ein, der durch diese autotherapeutischen Techniken eine neue wissenschaftliche Persona seiner selbst schuf (S. 74–82). Ossowski arbeitete an der geheimen Universität der polnischen Westgebiete, wenig später unterrichtete er an der klandestinen Warschauer Universität. Ähnlich wie Otto Neurath vom Wiener Kreis vertrat er eine gesellschaftsumfassende Konzeption von Philosophie und Soziologie und engagierte sich in der Volksbildung und der Stadtplanung. In der Zeit der Besatzungsherrschaft entwickelte er die Vorstellung vom ‚Leben als ob‘, mit der er „die Komplexität der doppelt kodierten Lebenswelt im besetzten Polen“ beschrieb (S. 99). Ossowski und seine Frau Maria Ossowska hielten sich nach dem Krieg in Łódź auf, wo sie den Aufbau der dortigen neuen Universität mitgestalteten. 1947 erhielten sie Festanstellungen an der Universität Warschau (S. 180).

In Teil II geht es um „okkupierte Körper“ und die „Medizin im Untergrund“, wobei Cain das Fleckfieber ins Zentrum stellt. Diese Krankheit war in den ostpolnischen Gebieten stark verbreitet. Die Nationalsozialisten stellten das in der deutschen Medizin seit 1918 kaum mehr erforschte Fleckfieber als „jüdische Seuche“ dar (S. 199), indem sie die Krankheit mit antisemitischen Läuse- und Schmutzmetaphern propagandistisch verknüpften (S. 206). Bei der Impfstoffherstellung waren die deutschen Besatzer auf die Mithilfe polnischer Experten angewiesen. Einer dieser Experten war der Arzt und Bakteriologe Rudolf Weigl, der in den 1920er Jahren den ersten Impfstoff gegen Fleckfieber entwickelt hatte. Ihm war es gelungen, aus den Därmen künstlich infizierter Läuse Fleckfieberimpfstoff herzustellen (die sogenannte „Weigl-Methode“) (S. 237). Auch Ludwik Hirszfeld und Ludwik Fleck waren wichtige Akteure, die in den Ghettos von Lemberg und Warschau und später in den Konzentrationslagern Buchenwald und Auschwitz mit der Produktion von Impfstoff für die Deutschen beschäftigt waren. Für ihre Arbeit wurden Weigl, Hirszfeld und Fleck nach dem Krieg zwar geehrt, sahen sich aber auch Anschuldigungen ausgesetzt, mit den Besatzern kollaboriert zu haben. Zur Charakterisierung dieser aufgezwungenen Kooperationsverhältnisse verwendet Cain treffend Primo Levis Begriff der „Grauzone“ (S. 249, 290). Infolge der deutschen Vernichtungspolitik entstand eine neue Krankheit, die „Hungerkrankheit“, wie sie die Krakauer Pathologin Janina Kowalczykowa, selbst eine ehemalige Gefangene, 1961 beschrieb (S. 295). Bezeichnet war damit der „Muselmann“, jener ausgehungerte KZ-Häftling und Ghetto-Bewohner, der weder lebendig noch tot war.

Im dritten Teil seiner Studie geht Cain auf den „Staat im Untergrund und die Wissenschaften“ ein und nimmt dabei die Physik in den Blick. Unmittelbar nach 1939 versuchten verschiedene polnische Widerstandskämpfer, den geheimen Unterricht in den Aufbau von untergrundstaatlichen Strukturen einzubinden, die mit der Exilregierung in London im Zusammenhang standen. 1941 wurde das Departement für Bildung und Kultur eingerichtet, das die regionalen und lokalen Initiativen bündeln sollte (S. 355f.). Das Ziel war der systematische Aufbau einer geheimen Hochschulausbildung. Der Physiker Stefan Pieńkowski galt als klandestiner Rektor der Untergrund-Universität Warschau (S. 378). Auch Akteure wie er standen mit deutschen Besatzungsbehörden in Kontakt; er war offiziell Direktor der Anstalt für Physikalische Messungen, die für die städtischen Wasserwerke – und damit auch für die Deutschen – Tests durchführte. Solche Institutionen nennt Cain „Schwelleninstitutionen“, die er als eine Art Kontakt- oder Verhandlungszone definiert. Die Trennungs- und Kontaktverbote zwischen Polen und Deutschen wurden hier nicht eingehalten, denn die Deutschen waren auf die Expertise von polnischen Spezialisten angewiesen. Umgekehrt konnten polnische Wissenschaftler die von den Deutschen bereitgestellten Infrastrukturen für ihre Untergrund-Universität nutzen (S. 387–403).

Die Untersuchung von Friedrich Cain stellt nicht nur neue Aspekte von Forschungspraxis unter Besatzungsherrschaft in Polen zur Diskussion, die auch für andere von den Deutschen besetzte Länder richtungsweisend sein dürften. Sie bricht auch mit jeglichen komplexitätsreduzierenden Narrativen, situiert Lehr‑, Forschungs- und Publikationspraxis von Polinnen und Polen und arbeitet die Vielschichtigkeit und Problematik der unter diesen Bedingungen entstandenen Texte detailliert heraus. Dies geht zuweilen zulasten der Lesbarkeit; die teils sehr langen Passagen, die minutiös einzelne Forschungspraktiken beschreiben, hätten etwas gekürzt und argumentativ zugespitzt werden können. Dies schmälert den Ertrag dieser Studie aber kaum, das Buch ist ohne Vorbehalte zur Lektüre zu empfehlen.