In den letzten 30 Jahren hat sich die neurologische Versorgungs- und Forschungslandschaft im Osten grundlegend gewandelt

Im Frühjahr 1990 – seinerzeit war ich leitender Oberarzt der neurologischen Universitätsklinik in Mannheim – besuchte mich der Vertreter eines der forschenden Pharmazieunternehmen aus dem Bereich der Neuroimmunologie und machte mir einen interessanten Vorschlag. Nachdem im November 1989 die Mauer gefallen war, bestehe in den neurologischen Kliniken der ehemaligen DDR (Deutsche Demokratische Republik) ein großer Wissensrückstand bezüglich Neuroimmunologie und Interesse daran, zu dieser Thematik Vorlesungen zu hören. Ob ich bereit sei, eine Vortragsreise zu den Universitätskliniken im Osten zu unternehmen. Man werde die Termine, die Reise, die Unterkünfte und die Verpflegung organisieren, ich müsse mich diesbezüglich um nichts kümmern. Für mich klang dies nach einer spannenden Aufgabe – und nach einer aufregenden Reise, hatte ich doch die DDR bislang nur beim Blick über die sog. Zonengrenze bei Bad Hersfeld und auf der Transitstrecke nach Berlin kennengelernt. Das Thema Compliance war damals bei Weitem noch nicht so reflektiert und elaboriert wie heute, und, nachdem ich mir völlige inhaltliche Freiheit für meine (seinerzeit noch Dia‑)Präsentationen ausgebeten hatte, sagte ich zu. Innerhalb 1 Woche sollte ich an 5 Universitäten in Ostdeutschland referieren. Ich hatte den Luxus eines Fahrers, der mich in einer schwarzen Limousine von einem Vortragsort zum nächsten brachte. Nach Überfahren der ehemaligen Grenze zwischen den beiden Deutschlands zeigte sich schnell, dass die scheinbar kurzen Distanzen straßentechnisch eine erhebliche Herausforderung darstellten. Es fehlte über weite Strecken nicht nur an Autobahnen, sondern auch an geteerten Straßen. Am Autofenster holperten schöne Landschaften, aber viele Einheitsplattenbauten und viel Verfallendes vorbei. Meine Unterkünfte waren ehemals für Devisenreisende erstellte Hotels mit sog. Weststandard, die noch viel russische Geschichte atmeten. Es gab dort die Möglichkeit, recht ordentlich zu Abend zu essen. Unterwegs war allerdings die Aussicht, einen gemütlichen Platz für einen leichten Lunch oder eine Kaffeepause zu finden, ziemlich begrenzt. Aber ich wollte ja auch vortragen und nicht die ostdeutsche Gastronomie erkunden.

Gut erinnere ich mich an die Hörsäle, in denen ich sprach – oft mit steilem Gefälle, meist mit guter Akustik und immer Geschichte atmend. Meine Gastgeber vor Ort, die Professoren für Neurologie, empfingen mich freundlich, mit einer Mischung aus väterlicher Zuvorkommenheit und beobachtender Vorsicht. Über politische Themen sprachen wir nicht, aber die Tatsache, dass alle Professoren innerhalb weniger Jahre ihren Platz verlassen mussten und die Stellen neu ausgeschrieben wurden, spricht für sich. Die Zuhörer(innen) bei meinen Vorlesungen – Studenten, Assistenten, Oberärzte – waren ausgesprochen interessiert, fragten viel, waren belesen und hatten sich zur Thematik gut vorinformiert. Das kannte ich so aus dem Westen nicht. Ich wurde auch zu einzelnen Patienten um Rat gefragt, und konnte feststellen, dass in Ermangelung apparativer Ausstattung das Handwerk des Neurologen, nämlich die ausführliche Anamneseerhebung und die gründliche klinische Untersuchung, hier absolut den ihr zustehenden hohen Stellenwert hatten.

Den Sekretariaten der Kliniken und den Vorräumen der Hörsäle, wo ich auf meine Auftritte wartete, war der eigenartige Geruch nach Reinigungs- und Desinfektionsmittel gemeinsam, der mich die ganze Woche meiner Reise durch die ehemalige DDR begleiten sollte, etwas scharf-süßlich, nicht angenehm und das olfaktorische Gedächtnis lange belastend. Selten, ganz selten führt dieser Geruch auch heute noch in nichtrenovierten Gebäuden im Osten zu einem Dejà-vu-Erlebnis.

Warum erzähle ich das Alles? Nun, natürlich deswegen, weil in diesem Jahr der Fall der Mauer 30 Jahre zurückliegt und sich in diesen 30 Jahren die neurologische Versorgungs- und Forschungslandschaft im Osten grundlegend gewandelt hat.

Vor allem aber war es die Lektüre des soeben erschienenen Buches des langjährigen Direktors der neurologischen Klinik in Erfurt, Hans Wolfgang Kölmel, das mir meine seinerzeitige Reise wieder sehr lebhaft ins Gedächtnis rief. Kölmel beschreibt in diesem Buch 6 Monate seiner Zeit als Kommissarischer Leiter der neurologischen Klinik der Charité im Jahr 1991 ausgesprochen plastisch und mit vielen spannenden Details. Das Buch Charité 91 – Schritte in eine neue Zeit [1] ist nicht nur ein sehr informativer Lesestoff, ein Zeitdokument im wahrsten Sinne des Wortes, sondern auch mit dem besonderen hintergründigen Humor des Autors und seiner guten Beobachtungsgabe eine äußerst vergnügliche Lektüre. Ein schönes Beispiel dafür, dass gute klinische Neurologen auch sehr lesenswerte Autoren sein können.

Ihr Peter Berlit

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