1 Einleitung

Die Tugendethik von Erich Fromm ist bislang kaum in die Diskussion systematischer Fragestellungen innerhalb der Ethik als philosophischer Disziplin einbezogen worden. Dies mag sicherlich auch damit zu tun haben, dass das ethische Hauptwerk von Fromm, Psychoanalyse und Ethik (1947a), zu einem philosophiegeschichtlich äußerst ungünstigen Zeitpunkt veröffentlicht wurde. Mit dem Beginn des Zeitalters der Aufklärung vollzog sich innerhalb der Ethik ein Paradigmenwechsel, in dessen Zuge die Tugendethik zunehmend ihre seit der Antike dominierende Stellung verlieren sollte, bis sie schließlich nahezu bedeutungslos wurde. Dies änderte sich erst mit dem Erscheinen des Artikels Modern Moral Philosophy (1958) von G. E. M. Anscombe, der eine Renaissance der Tugendethik vorbereitete, die jedoch erst nach dem Tode Fromms, nämlich in den 1980er und 1990er Jahren, zur Blüte kam. Trotz der in diesem Zuge nachträglich einsetzenden, durchaus anerkennenden Rezeption des Frommschen AnsatzesFootnote 1 ist der mögliche Beitrag seiner Überlegungen zur Lösung bestimmter systematischer Probleme der modernen Tugendethik kaum evaluiert worden. Dabei weist die Struktur der Frommschen Tugendethik offensichtlich verschiedene attraktive und besondere Elemente auf – etwa dass Fromm bereits seit der Mitte der 1960er Jahre die ‚Biophilie‘ als eine Art Schlüsseltugend in das Zentrum seines ethischen Ansatzes gerückt hat –, die sich beispielsweise für die Fähigkeit der modernen Tugendethik zur Berücksichtigung der Umwelt fruchtbar machen ließen.Footnote 2 Angesichts des drohenden Klimawandels und der geradezu standardmäßig erhobenen Vorwürfe des EgoismusFootnote 3 und AnthropozentrismusFootnote 4 gegen das Paradigma der Tugendethik erweist sich die Berücksichtigung dieser theoretischen Ressourcen im Werk von Fromm als von hoher systematischer Relevanz und Aktualität für die Etablierung einer ökologischen TugendethikFootnote 5.

Ich will in diesem Artikel ausgehend von Fromm eine neue Perspektive auf die Frage nach der Beziehung von selbst- und umweltbezogenen Tugenden entwickeln, die andere Antwortmöglichkeiten auf die Standardvorwürfe des Egoismus und Anthropozentrismus erschließen soll und dabei gleichzeitig den Rückfall in bestimmte Probleme einer konsequentialistischen oder deontologischen Prinzipienethik vermeidet. Bevor unsere Diskussion jedoch diese systematische Ausrichtung nehmen kann, bietet es sich an, zunächst mit einem exegetischen Problem zu beginnen. Es gibt im Denken von Fromm nämlich eine interessante werkinterne Entwicklung, in der bereits der Kern des systematischen Problems, mit dem wir uns hier beschäftigen wollen, enthalten ist. In der Ethik von Fromm finden wir an zwei Stellen die Formulierung ethischer Prinzipien:

Das Prinzip der humanistischen Ethik: „Die humanistische Ethik [...] basiert [...] auf dem Prinzip: ‚Gut‘ ist das, was für den Menschen gut ist, ‚böse‘ ist das, was ihm schadet. Das Wohl des Menschen ist das einzige Kriterium für ein ethisches Werturteil [the sole criterion of ethical value being man’s welfare].“ (EFGA II, 1947a, S. 13)Footnote 6

Das Prinzip der biophilen Ethik: „Die biophile Ethik besitzt ihr eigenes Prinzip des Guten und Bösen. Gut ist alles, was dem Leben dient; böse ist alles, was dem Tod dient. Gut ist die Ehrfurcht vor dem Leben, alles, was dem Leben, dem Wachstum, der Entfaltung förderlich ist. Böse ist alles, was das Leben erstickt, einengt und alles, was es zerstückelt.“ (EFGA VII, 1973a, S. 331; s. a. EFGA II, 1964a, S. 186)

Wenn man diese Prinzipien wörtlich nimmt und ohne ihren Kontext direkt einander gegenüberstellt, zeigt sich schnell ein möglicher Konflikt, der durch das folgende Beispiel verdeutlicht werden soll. Wenn es in der Ethik einzig und allein um das Wohl des Menschen ginge, dann könnten wir sagen, dass eine reichhaltige und vielseitige omnivore Ernährung, die beispielsweise auch den maßvollen Konsum von Fleisch und Fisch umfasst, sicherlich optimal wäre (vgl. Walker 2007, S. 188). Umgekehrt könnten wir von einem unter- oder mangelernährten Menschen, der unter den negativen Folgen dieses Zustands zu leiden hat, wohl kaum sagen, dass er in einem vollumfänglichen Sinne gedeihe oder es ihm wohlergehe, sondern sein Leben wäre, zumindest in dieser Hinsicht, bedauernswert und verbesserungsfähig. Wenn wir uns aber fragen, welche Form der Ernährung am ehesten eine Ehrfurcht vor allem Leben ausdrückt, dann wäre wohl eine besonders strenge Form der frutarischen Ernährung vorzuziehen, die völlig auf das Töten anderer Lebewesen verzichtet und stattdessen auf Produkte von Lebewesen zurückgreift, die ihnen nicht wie Milch oder Honig abgerungen werden müssen, sondern die sie von sich aus ihrer Umwelt zur Verfügung stellen. Man kann hier an Fallobst denken – etwa Äpfel, Birnen, Kirschen, Pflaumen usw. –, von dem nur das Fruchtfleisch, nicht aber die Kerne bzw. die Samen verzehrt werden. Schließlich stellt ein Same, auch wenn er sich in einer Art Ruhezustand befindet, dennoch ein voll funktionsfähiges, eigenständiges Lebewesen dar, das dementsprechend Gegenstand der Ehrfurcht vor dem Leben sein kann. Aber selbst wenn sich eine solche Form der Ernährung wahrscheinlich für eine lange Zeit durchhalten lässt, wenn sie gut geplant wird, wäre sie doch wohl auf Dauer gesehen nicht nur unbequem, sondern auch ziemlich einseitig und damit suboptimal für die Erhaltung der menschlichen Gesundheit, also dem Wohl des Menschen abträglich. Wir können im Folgenden also davon ausgehen, dass sich beide Prinzipien prima facie miteinander im Konflikt befinden.

Beide Prinzipien sind im Übrigen keinesfalls spezifisch frommianisch. Das Prinzip der humanistischen Ethik formuliert einfach den Grundgedanken einer eudaimonistischen Ethik, die die Eudaimonie – wie man das ‚menschliche Wohl‘ vor dem Hintergrund der aristotelischen Tradition auch bezeichnen kann – als das finale Telos des Menschen ausweist, was ganz typisch für tugendethische Ansätze ist. Das Prinzip der biophilen Ethik ist unabhängig von Fromm im Rahmen biozentrischer Ansätze der Ethik aufgestellt worden, wie man sie etwa mit Albert Schweitzer (1966) oder Paul W. Taylor (2011) in Verbindung bringen kann.Footnote 7 Tatsächlich gibt Fromm sogar explizit an, dass er das Prinzip der biophilen Ethik von Schweitzer übernommen hat, den er darüber hinaus an verschiedenen Stellen als ethisches Vorbild auszeichnet (vgl. EFGA II, 1964a, S. 186, Fn. 3; EFGA VII, 1973a, S. 331, Fn. 36). Allerdings sind die biozentrischen Ansätze herkömmlicherweise deontologisch und nicht tugendethisch verfasst, stellen also die Rechte oder den intrinsischen Wert anderer Lebewesen und unsere Pflichten ihnen gegenüber in den Vordergrund. Gerade diese Integration eines derartigen biozentrischen Prinzips in einen Ansatz innerhalb der Strömung der Tugendethik, die sich standardmäßig mit dem Vorwurf des Egoismus und Anthropozentrismus konfrontiert sieht, scheint mir jedoch in systematischer Hinsicht eine äußerst interessante Verbindung zu sein, die wir im Folgenden genauer untersuchen wollen.

2 Die werkinterne Relation von humanistischer und biophiler Ethik bei Erich Fromm

Wenn wir uns über die werkinterne Relation von humanistischer und biophiler Ethik bei Erich Fromm Gedanken machen, dann scheinen uns drei Wege der Interpretation offenzustehen:

  1. 1.

    Das Prinzip der biophilen Ethik wird ungültig, sobald es ethische Forderungen generiert, die sich im Konflikt mit der humanistischen Ethik befinden.

  2. 2.

    Das Prinzip der humanistischen Ethik wird ungültig, sobald es ethische Forderungen generiert, die sich im Konflikt mit der biophilen Ethik befinden.

  3. 3.

    Das Prinzip der biophilen Ethik und das Prinzip der humanistischen Ethik formulieren zwar miteinander konfligierende ethische Forderungen, beide können jedoch legitimerweise einen Einfluss auf die Entscheidungen eines tugendhaften Akteurs haben und in diesem Sinne gültig sein.

Der praktische Unterschied dieser Interpretationen lässt sich am bereits diskutierten Beispiel der Ernährung verdeutlichen. Im Rahmen der ersten Interpretation ließe sich zwar durchaus anerkennen, dass es menschliche Tugenden gibt, wie die Ehrfurcht oder die Liebe, die sich prinzipiell auf alles Leben beziehen, allerdings gälte im Konfliktfall ein Primat des Prinzips der humanistischen Ethik. So besehen könnte es zwar verfehlt sein, beim Sitzen mit Freunden auf einer Wiese aus Gedankenlosigkeit oder Langeweile Gräser mitsamt ihrer Wurzel herauszureißen, weil dies einen Mangel an Ehrfurcht vor dem Leben ausdrücken würde (auch wenn die betreffende Handlung an sich vielleicht keine Auswirkung auf das Wohl des Menschen haben mag). Ist das Wohl des Menschen allerdings in Gefahr, wäre es hingegen ethisch legitim, Handlungen zu vollziehen, die der Tugend der Ehrfurcht vor dem Leben auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen, also beispielsweise nicht-menschliche Lebewesen zu töten, bloß um sich selbst ausgewogen und gesund ernähren zu können.

Aus der zweiten Interpretation würde folgen, dass ein Handeln zugunsten des menschlichen Wohls nur solange ethisch legitim wäre, wie dies mit dem Prinzip der biophilen Ethik vereinbar wäre, dem folglich ein Primat zukäme. Im Falle eines Konflikts zwischen dem menschlichen Wohl und der Tugend der Ehrfurcht vor dem Leben wäre also der Ehrfurcht der Vorzug zu geben. Die Tötung anderer Lebewesen scheint jedoch eine Handlung zu sein, die an sich, also intrinsisch, der Ehrfurcht vor dem Leben widerspricht. Es gäbe also Pro-tanto-Gründe gegen die Tötung von Lebewesen, auch wenn eine solche Tötungshandlung all things considered erlaubt sein könnte (etwa wenn man das Leben einer unschuldigen Person nur dann erfolgreich verteidigen könnte, wenn man das Risiko der Tötung eines Angreifers in Kauf nähme). Da eine Mangel- oder Unterernährung einen Menschen aber nicht direkt umbringt – die Rechtfertigung der omnivoren Ernährung also nicht ihrerseits auf die Tugend der Ehrfurcht, in diesem Fall vor dem eigenen Leben, verweisen kann –, müsste der Mensch wohl gewisse Einschränkungen seines Wohls bzw. seiner Gesundheit zugunsten der Ehrfurcht vor anderem Leben hinnehmen, bis er sich tatsächlich in einen lebensbedrohlichen Bereich bewegt. Die frühere eudaimonistische und anthropozentrische Tugendethik von Fromm würde in diesem Fall aufgeweicht und durch eine stärker deontologisch ausgerichtete, biozentrische Prinzipienethik abgelöst werden.

Was aus der dritten Interpretation praktisch folgen könnte, ist an dieser Stelle noch nicht klar, sondern hinge davon ab, wie man diesen Konflikt zwischen den beiden Prinzipien und ihre Dynamik interpretiert, womit wir uns später in der systematischen Diskussion beschäftigen müssen. Bevor wir aber weiter fortfahren, scheint es mir sinnvoll zu sein, uns an dieser Stelle doch genauer den Kontext dieser Prinzipien im Ansatz von Fromm anzuschauen.

Das Prinzip der humanistischen Ethik begegnet uns direkt am Anfang des ethischen Hauptwerks von Fromm. Die humanistische Ethik wird dort mit einer autoritären Ethik kontrastiert, die sich dadurch auszeichnet, dass sie den ethischen Wertmaßstab aus einer Instanz generiert, die dem ethischen Akteur extern gegenübersteht. Es lässt sich sicherlich bezweifeln, dass diese Unterscheidung geeignet ist, um als zentrales Ordnungskriterium ethischer Ansätze im Allgemeinen zu fungieren, weshalb ich hier auch nicht von ihr ausgehe. Wenn wir demgegenüber einer modernen Systematisierung folgen, lässt sich die eudaimonistische Tugendethik von Fromm im Lager des ethischen Naturalismus verorten. Sie leitet also aus der Natur des Menschen ein objektiv feststehendes ethisches Telos ab: einen der menschlichen Natur angemessenen, optimalen Zustand, der einen für das Erleben echten Glücks qualifiziert und den wir als Eudaimonie bezeichnen können, auch wenn Fromm den etwas weniger technischen Begriff des menschlichen Wohls (welfare) bzw. des Wohlergehens (well-being) vorzieht (vgl. EFGA II, 1947a, S. 9; EFGA II, 1976a, S. 275). Die Ausbildung eines tugendhaften Charakters wird dabei als der einzige verlässliche Weg zur Realisierung dieses Telos angesehen.

Allerdings vertritt Fromm eine besondere Variante des ethischen Naturalismus, die wir genauer als dialektischen Naturalismus charakterisieren könnten. Für Fromm zeichnet sich das Menschsein seiner Natur nach nämlich durch die Konfrontation mit einer Reihe existentieller, an sich unlösbarer Widersprüche aus, die aus seiner Grundsituation in der Welt emergieren, sodass im Menschen eine teleologische Ausrichtung entsteht, die sich darum dreht, eine möglichst gute Antwort auf dieses Problem zu finden. Der Witz dieser Variante des Naturalismus scheint mir darin zu liegen, dass auf diese Weise der Inhalt, den die Ethik normativ auszeichnet – also das, was als produktive, funktionale Antwort auf die existentiellen Widersprüche in Frage kommt –, im Verlauf der Geschichte variieren kann. Gleichzeitig versucht Fromm jedoch auch zu zeigen, dass die Antworten auf die existentiellen Widersprüche nicht unendlich variabel sind und dass es bessere und schlechtere Antworten gibt, deren Verfügbarkeit mit dem Entwicklungsstand der jeweiligen Gesellschaften zu tun hat.

Es bietet sich an dieser Stelle an, dieses allgemeine Modell von Fromm zumindest in einer Hinsicht etwas zu konkretisieren. Da der Mensch sich ab einer bestimmten Reife seiner kognitiven Entwicklung seiner selbst bewusst wird und er sich aufgrund seiner Instinktlosigkeit nicht einfach auf eine vorherbestimmte Weise zu seiner Umwelt und seinen Mitmenschen in Beziehung setzen kann, wird er schließlich mit der Gefahr der eigenen Isoliertheit konfrontiert – eine Situation, die Fromm zufolge an sich unerträglich für den Menschen ist. Diese Trennung zu überwinden und eine neue, nicht-instinktive Form der Beziehung zu seiner Umwelt und seinen Mitmenschen herzustellen, wird ihm in diesem Zuge zu einem existentiellen Bedürfnis, das er irgendwie befriedigen muss, um nicht verrückt zu werden. Gleichzeitig zeichnet sich die Grundsituation des Menschen aber auch dadurch aus, dass er sein Leben selbst leben muss, sodass sich das menschliche Leben insbesondere in dieser Dichotomie von Allein- und In-Beziehung-Sein abspielt. Der Mensch kann in dem Versuch, einen Umgang mit dieser Dichotomie zu finden und die Konfrontation mit ihr irgendwie erträglicher zu machen, den Fokus auf das Suchen von Nähe oder auf die Wahrung von Distanz legen.

Die Suche nach einer Antwort auf die existentiellen Dichotomien vollzieht sich in aller Regel nicht bewusst. Vielmehr werden bereits im Kindesalter – bevor eine rationale Reflexion über die Lösung der existentiellen Dichotomien stattfinden kann – erste Grundlagen einer Antwort gelegt, die auch die spätere Suche im Erwachsenenalter nach besseren Lösungen strukturiert. In Auseinandersetzung mit seiner Umwelt sucht das Kind intuitiv nach einer für es selbst möglichst erträglichen Interaktionsform, die sich zunehmend in einer Charakterorientierung verfestigt.

Der Charakter orientiert das Fühlen, Denken und Handeln unbewusst auf einen bestimmten allgemeinen Modus der Interaktion hin, wobei Fromm verschiedene solcher Modi idealtypisch voneinander unterschieden hat, auch wenn in der Realität überwiegend Mischformen auftreten. So kann ein Mensch beispielsweise im Modus der Ausbeutung mit der Natur oder anderen Menschen in Interaktion treten und auf diese Weise eine Nähe herstellen, die allerdings eine offensichtlich problematische, konflikthafte Dynamik aufweisen wird. Oder er kann in einem Modus agieren, der letztlich auf Zerstörung abzielt, und auf diese Weise seine Distanz zu wahren versuchen, aber auch dieser Antwortversuch ist nach Fromm zum Scheitern verurteilt. Die optimale, produktive Antwort auf das Problem der menschlichen Existenz, sich zu anderen Lebewesen in Beziehung setzen zu müssen, sieht Fromm in der Liebe, insofern sie Nähe ermöglicht, ohne dafür die eigene Unabhängigkeit in einer Art von Symbiose aufgeben zu müssen. Eben weil der Charakter die Interaktion eines Menschen mit seiner Umwelt systematisch auf einen bestimmten Modus der Interaktion ausrichtet, liegt der Fokus der Ethik von Fromm auch auf der Ausbildung einer tugendhaften Charakterorientierung, von der aus das Fühlen, Handeln und Denken generiert wird, und nicht auf den einzelnen Handlungen oder Denkakten selbst.

Um die Abgrenzung zu der autoritären Ethik zu verdeutlichen, betont Fromm, dass die humanistische Ethik für den ethischen Akteur formal die eigene Eudaimonie als dessen Telos auszeichnet – und sich also nur um den ethischen Akteur und nicht um eine ihm externe Autorität dreht. So schreibt Fromm, dass die „wichtigste Lebensaufgabe des Menschen [...] darin [besteht], sich selbst zur Geburt zu verhelfen“ (EFGA II, 1947a, S. 149, Hervorh. v. Verf.) oder dass „Tugend heißt, sich der eigenen Existenz gegenüber verantwortlich zu fühlen“ (EFGA II, 1947a, S. 18, Hervorh. v. Verf.). Gleichzeitig scheint diese Position jedoch keinen ethischen Egoismus in einem inhaltlichen oder substantiellen Sinne zu implizieren, weil das gelingende Leben Fromm zufolge die Ausbildung einer produktiven, liebenden Charakterorientierung voraussetzt, die der Haltung des Egoismus doch eigentlich entgegengesetzt zu sein scheint.Footnote 8 Soviel also zum Hintergrund des Prinzips der humanistischen Ethik.

In seinem Werk Die Seele des Menschen (1964a) aktualisierte Fromm sein Verständnis der produktiven bzw. tugendhaften Charakterorientierung dahingehend, dass sie die „volle Entfaltung der Biophilie“ – also der Liebe zum Leben – bedeute (EFGA II, 1964a, S. 186). Fromm hatte die Tugend der Liebe schon früher so verstanden, dass sie eine Fähigkeit des Menschen bezeichnet, sich auf eine bestimmte Weise zur Welt in Beziehung zu setzen, sodass sich in ihr also eine allgemeine Haltung bzw. eine Orientierung ausdrückt, weshalb die Liebe auch ihrem Wesen nach als nicht-exklusiv bestimmt wird (vgl. EFGA IX, 1956a, S. 467). In der echten Liebe, wie sie sich etwa gegenüber einem bestimmten Menschen äußere, zeige sich demnach auch eine Liebe zum Menschlichen an sich und damit zur ganzen Menschheit bzw. – und dies hat Fromm später noch stärker betont – zum Lebendigen in diesem Menschen und damit zu allem Leben. In diese aktualisierte, idealtypische Beschreibung des produktiven Charakters fügt sich dann das oben zitierte Prinzip der biophilen Ethik ein, das in der Folge jedoch nicht noch einmal eigenständig begründet wird.

Wenn in der Tugendethik von Fromm der biophile Charakter das ethische Ideal bezeichnet – also die Art des Charakters eines tugendhaften Menschen –, und wenn der biophile Charakter wiederum so beschrieben werden kann, dass er gemäß dem Prinzip der biophilen Ethik handelt, dann wäre es naheliegend, dass sich in seinem Handeln – etwa seiner Ernährungspraxis – tatsächlich eine besondere Form der Ehrfurcht vor allem Leben widerspiegeln würde, die auch von außen sichtbar wird. Dies gilt umso mehr, als Albert Schweitzer – den Fromm selbst als Beispiel für einen tugendhaften Menschen ausgezeichnet hat und von dem er die Formulierung dieses Prinzips übernahm – dieses Prinzip in einem solchen handlungsanleitenden Sinne verstanden hat. So schreibt Schweitzer:

„Wahrhaft ethisch ist der Mensch nur, wenn er der Nötigung gehorcht, allem Leben, dem er beistehen kann, zu helfen, und sich scheut, irgend etwas Lebendigem Schaden zu tun. Er fragt nicht, inwiefern dieses oder jenes Leben als wertvoll Anteilnahme verdient, und auch nicht, ob und inwieweit es noch empfindungsfähig ist. Das Leben als solches ist ihm heilig. Er reißt kein Blatt vom Baume ab, bricht keine Blume und hat acht, daß er kein Insekt zertritt.“ (Schweitzer 1974b, S. 378 f.)

Die biophile Ethik sensu Schweitzer postuliert dementsprechend tatsächlich eine Art Pro-tanto-Tötungsverbot, das nur punktuell – und auch dann nur mit Verweis auf die Ehrfurcht vor anderem Leben – aufgehoben werden darf. Das Prinzip der biophilen Ethik bleibt bei Fromm jedoch eigenartig folgenlos. Fromm generiert mit diesem Prinzip also keine ethischen Forderungen, die irgendwie über die humanistische Ethik hinauszugehen scheinen. Exemplarisch zeigt sich dies etwa daran, dass Fromm die vegetarische Ernährung auch in seinen späteren Schriften hauptsächlich zur Verdeutlichung des psychologischen Phänomens der Reaktionsbildung – also in diesem Fall der unbewussten Verdrängung destruktiver Impulse – herangezogen hat, ohne dabei jedoch irgendetwas Positives an dieser Form der Ernährung hervorzuheben, etwa dass sich in ihr tatsächlich eine größere Ehrfurcht vor anderem Leben ausdrücken könnte (vgl. EFGA II, 1976a, S. 330; EFGA VII, 1973a, S. 367). Auch die konkrete, unnötige Tötung eines Lebewesens – etwa einer lästigen Fliege – wird von Fromm gegenüber dem Vorwurf der Destruktivität in Schutz genommen, weil die betreffenden Menschen von ihrem Charakter her durch keine besondere Grausamkeit gekennzeichnet seien (vgl. EFGA VII, 1973a, S. 110). Offenbar ging Fromm davon aus, dass die humanistische Ethik und die biophile Ethik praktisch gesehen nicht miteinander konfligieren, sondern genauso in einer Kontinuität stehen wie die Konzeption des produktiven und des biophilen Charakters.Footnote 9

Wenn, wie es sich hier andeutet, die biophile Ethik sensu Fromm innerhalb des ursprünglichen Rahmens der humanistischen Ethik anzusiedeln wäre, dann würden wir damit zur ersten oben genannten Interpretationsmöglichkeit der Relation dieser beiden Prinzipien gelangen. Diese Option lässt sich auch exegetisch gesehen plausibilisieren, wenn wir noch einmal zurück auf Fromms Begründung der humanistischen Ethik schauen. Dort schrieb Fromm, dass „[s]einen Nächsten zu lieben [...] kein Phänomen [ist], das den Menschen transzendiert“ und dass die Liebe „keine Pflicht [ist], die ihm [sc. dem Menschen] auferlegt wird“ (EFGA II, 1947a, S. 14). Die Liebe ist vielmehr etwas, „das ihm innewohnt und von ihm seinen Ausgang nimmt“ bzw. etwas, durch das sich der Mensch „zur Welt in Beziehung setzt und durch die er die Welt zu seiner Welt macht“ (EFGA II, 1947a, S. 14). Fromm will mit diesen Überlegungen offenbar darauf hinaus, dass es keine externe Autorität gibt – also auch nicht das Geliebte selbst –, aus der sich die für den Menschen gültigen ethischen Maßstäbe ableiten (dies wäre ein Strukturmerkmal einer autoritären Ethik). Stattdessen ist es das Streben des Menschen, die eigene existentielle Dichotomie zu lösen, sich zur Welt in Beziehung zu setzen, – also letztlich zum Wohlergehen zu gelangen – aus dem sich dann als Konsequenz ergeben kann, dass der tugendhafte Mensch einen Beitrag zum Wohlergehen des geliebten Anderen leistet.

Denkt man dies weiter, müsste man vielleicht sogar sagen, dass es für die ethische Bewertung eines tugendhaften Akteurs eigentlich irrelevant wäre, ob das, was von ihm ausgeht – also die Liebe –, tatsächlich auch in der Konsequenz beim Anderen ankommt oder ob das Objekt der eigenen Liebe durch die entsprechende Aktion womöglich sogar einen Schaden genommen hat.Footnote 10 In die gleiche Richtung weist auch ein Zusatz bei der ersten Darstellung des Prinzips der biophilen Ethik, den Fromm in einer späteren Zusammenfassung, die ich oben zitiert habe, weggelassen hat (weshalb ich hier davon ausgegangen bin, dass die obige Passage exegetisch gesehen den eigentlichen Kern des Prinzips der biophilen Ethik darstellt). In dieser früheren Schrift fügte Fromm nämlich noch hinzu, dass für den biophilen Menschen gelte:

„Freude ist Tugend, und Traurigkeit ist Sünde. [...] Der biophile Mensch wird nicht von seinem Gewissen gezwungen, das Böse zu meiden und das Gute zu tun. [...] Das biophile Gewissen wird vom Leben und von der Freude motiviert; Ziel seiner moralischen Bemühungen ist es, die lebensbejahende Seite im Menschen zu stärken [the moral effort consists in strengthening the life-loving side in oneself]. Aus diesem Grunde verweilt der biophile Mensch nicht bei seinen Gewissensbissen und Schuldgefühlen, die letzten Endes nur Aspekte des Selbsthasses und der Traurigkeit sind.“ (EFGA II, 1964a, S. 186 f.)

Auch hier zeigt sich, dass das Ziel der biophilen Ethik sensu Fromm nicht der geliebte Andere ist, sondern der tugendhafte Akteur selbst, also etwa seine eigene Lebensbejahung. Aus dem letzten Satz dieses Zitats könnte man vielleicht sogar ableiten, dass selbst wenn das Prinzip der biophilen Ethik und das Prinzip der humanistischen Ethik doch an bestimmten Stellen miteinander konfligieren sollten – was Fromm nicht wirklich in Erwägung zieht –, der biophile Charakter diese Verfehlungen getrost ignorieren könne, solange sein Handeln zu seinem eigenen Wohlergehen beigetragen habe. Die Ehrfurcht vor anderem Leben – also eine umweltbezogene Tugend – träte in diesem Sinne im Konfliktfall gegenüber einer selbstbezogenen Tugend, also dem Streben nach dem eigenen Wohlergehen, zurück.

In Bezug auf die Ernährung könnte sich Fromm wohl der Position von Rosalind Hursthouse anschließen, dass die vegetarische oder die omnivore Ernährung eben Praktiken seien, die ethische Bewertung der Tugendethik sich jedoch stattdessen auf Charakterorientierungen beziehe, wobei eine Tötungshandlung oder der Akt des Fleischkonsums dabei offenbar nicht ipso facto einer allgemeinen Haltung der Liebe zum Leben widersprechen müssten (vgl. Hursthouse 1999, S. 227). Das Prinzip der biophilen Ethik, so wie es innerhalb der herkömmlichen biozentrischen Ansätze verstanden wird – also ein aktfokussiertes und entweder an den Konsequenzen oder der Pflichterfüllung orientiertes Prinzip, das sich nicht um das Subjekt, sondern das Objekt der Liebe dreht –, wäre damit zurückzuweisen und somit auch der Prima-facie-Konflikt mit dem Prinzip der humanistischen Ethik. Angesichts dieser Hinweise können wir die erste oben genannte Interpretation als exegetisch naheliegende Deutung der Beziehung dieser beiden ethischen Prinzipien ansehen. Ich glaube allerdings, dass diese naheliegende Deutung – ob es exegetisch gesehen noch bessere oder stimmigere Deutungen geben mag, kann hier dahingestellt werden – die innere Dynamik von selbst- und umweltbezogenen Tugenden, wie sie sich im tugendhaften Akteur abspielt, unterschätzt. Die bisherige exegetische Diskussion bietet uns an dieser Stelle jedoch einen guten Ausgangspunkt, um in eine stärker systematisch ausgerichtete Diskussion über diese Dynamik einzusteigen.

3 Die innere Dynamik von selbst- und umweltbezogenen Tugenden im tugendhaften Akteur

Die exegetisch naheliegende Deutung der Relation des Prinzips der humanistischen Ethik und der biophilen Ethik bei Erich Fromm scheint offensichtlich anfällig für die Vorwürfe des Egoismus und Anthropozentrismus zu sein, die ohnehin standardmäßig gegen das Paradigma der Tugendethik vorgebracht werden. Denn man könnte aus dieser Deutung beispielsweise eine Rechtfertigung für den Lebensstil jener ‚Naturliebhaber‘ ableiten, die – vielleicht sogar illegalerweise – die letzten relativ unberührten Naturschutzgebiete der Erde aufsuchen, um dort Campingurlaub zu machen, die aber durch genau diesen Lebensstil zur Zerstörung dieser Naturschutzgebiete beitragen (etwa weil sie dort ihren Müll hinterlassen, seltene Pflanzen zertreten, vom Aussterben bedrohte Tiere beim Brüten stören, aus Versehen einen Waldbrand verursachen oder durch die Langstreckenflüge, mit denen sie zu den betreffenden Gebieten gelangen, übermäßig zur Erderwärmung beitragen). Dabei müssen wir gar nicht unterstellen, die Naturliebhaber müssten in diesem Fall notwendigerweise von einer lasterhaften Konsumhaltung angetrieben sein, sondern es könnte durchaus sein, dass zumindest einige von ihnen von einer echten Lebensfreude und Lebensbejahung getragen sind, die sich positiv auf ihre persönlichen Beziehungen auswirkt, also zu ihrem eigenen Wohl beiträgt. In etwas ironischer Anlehnung an das obige Fromm-Zitat könnte man vielleicht sogar sagen, diese Naturliebhaber seien eben echt spontan und am Sein orientiert, anstatt sich verkopft mit kleinlichen Berechnungen über CO2-Bilanzen aufzuhalten oder sich mit sinnlosen Gewissensbissen und Schuldgefühlen herumzuplagen.

Angesichts der dramatischen Bedrohung der Menschheit durch den Klimawandel – über den die betreffenden Naturliebhaber sehr wohl informiert sind, wie wir hier annehmen können – und der gedankenlosen Ausnutzung ihrer privilegierten Situation lässt es sich jedoch kaum übersehen, wie selbstbezogen und letztlich egoistisch der Lebensstil dieser Naturliebhaber ist. Wenn dieses Verhalten tatsächlich Ausdruck eines tugendhaften Charakters im Sinne Fromms wäre, dann würde die ethische Auszeichnung der Biophilie nur bedeuten, dass man sich subjektiv als liebend erleben solle, um sich selbst wohlfühlen zu können, während einem das Schicksal des geliebten Anderen eigentlich egal sein kann. Eine solche Haltung scheint sich jedoch auch mit Fromms eigenem Verständnis der Liebe im Konflikt zu befinden. So hebt Fromm als Merkmale der Liebe insbesondere Fürsorge, Verantwortungsgefühl, Achtung und Erkenntnis hervor (vgl. EFGA IX, 1956a, S. 455 ff.). Kann es aber wirklich ein Ausdruck von Fürsorge sein, wenn man beispielsweise für eine ‚humanitäre Hilfsorganisation‘ spendet, von der man bereits weiß, dass bei den Hilfsbedürftigen keine echte Hilfe ankommt und sie im Endeffekt sogar mehr Schaden anrichtet als Nutzen?

Bei einem Verhalten, das zwar vermeintlich aus einer Haltung der Liebe zum Leben hervorgeht – also etwa der Akt des Schenkens oder des Spendens für sich genommen –, bei dem jedoch die möglichen Auswirkungen des eigenen Handels völlig ausgeblendet werden, drohen zentrale Merkmale der Liebe entstellt zu werden. Bereits Aristoteles schrieb: „Denen, die man liebt, wünscht man das Gute im ihretwillen“ (Ethica Nicomachea VIII.5, 1157b30 f., Übers. von Franz Dirlmeier in Aristoteles 2003, S. 222).Footnote 11 Dies setzt jedoch voraus, dass man sich bemüht zu erkennen, was für den geliebten Anderen gut ist und was nicht bzw. dass man sich wirklich für das Objekt der eigenen Liebe interessiert. Auch wenn in der Tugendethik die tugendhafte Charakterorientierung im Fokus steht, scheint doch die Tugend der Liebe selbst nicht völlig losgelöst davon verstanden werden zu können, was die Konsequenzen des eigenen Handelns für das Objekt der Liebe sind, zumindest wenn dem tugendhaften Akteur die betreffenden Informationen bereits zur Verfügung stehen oder er sie relativ einfach in Erfahrung bringen könnte, sodass die aktive Ausblendung der betreffenden Informationen als Desinteresse oder Gleichgültigkeit – also als Ausdruck eines Lasters – verstanden werden muss.Footnote 12 Wenn vor diesem Hintergrund das Prinzip der biophilen Ethik für den biophilen Charakter gar keine Auswirkungen auf dessen Verhalten hätte – so wie dies die erste Interpretation der Relation von humanistischer Ethik und biophiler Ethik nahelegen würde –, dann droht das Verständnis der Liebe bei Fromm seine innere Kohärenz zu verlieren.Footnote 13

An dieser Stelle bahnt sich nun in unserer Diskussion eine für das Paradigma der Tugendethik bereits wohlbekannte Problematik an, die mit dem Vorwurf des Egoismus strukturell verknüpft ist, nämlich der Vorwurf einer Art ‚Schizophrenie‘Footnote 14 oder SelbstauslöschungFootnote 15 der Tugendethik. Es scheint nämlich sinnvoll, in dieser Diskussion zwei verschiedene Perspektiven voneinander zu unterscheiden. Von außen – aus der Perspektive des tugendethischen Theoretikers – liegt der Fokus auf dem Beitrag der Tugenden zur Eudaimonie des tugendhaften Akteurs. Aus der Innenperspektive des tugendhaften Akteurs schiene der gleiche Fokus jedoch verfehlt, weil die Tugend der Liebe auf diese Weise korrumpiert werden würde.Footnote 16 Wenn der tugendhafte Mensch wirklich liebt, kann er nicht mehr allein auf sein eigenes Wohlergehen fokussiert sein, sondern er wird sogar Risiken und Unannehmlichkeiten auf sich nehmen, um die zu schützen, die er liebt. Der tugendhafte Akteur kann sich vielleicht auf einer theoretischen Ebene über einen systematischen Zusammenhang zwischen den Tugenden und der eigenen Eudaimonie bewusst sein, aber die Liebe selbst, wenn sie denn wirklich als Haltung in seinem Charakter verwurzelt ist, wird seinen Fokus gezwungenermaßen auch auf das Wohl des Anderen lenken, dem er um seiner selbst willen das Gute wünscht. In diesem Fall wird ein Liebender, der echt am Objekt seiner Liebe interessiert ist und sich um dessen Erkenntnis bemüht, aber sicherlich auch berücksichtigen, ob seine Handlungen der Fürsorge tatsächlich zum Wohl des Objekts seiner Liebe beitragen oder nicht. Wenn wir dieses Verständnis der Liebe als Grundlage voraussetzen und gleichzeitig anerkennen, dass die Biophilie eine echte menschliche Tugend darstellt, dann scheint die Biophilie aus sich heraus tatsächlich das Prinzip der biophilen Ethik als eine dem Akteur nun unabhängig gegenüberstehende ethische Instanz zu generieren, die eher dem Verständnis der stärker deontologisch oder konsequentialistisch geprägten Ansätze der biozentrischen Ethik entspricht, gemäß denen etwa das Töten eines Lebewesens pro tanto eine falsche Handlung ist.

Der Fokus der Tugendethik als Theorie wird also doch, anders als dies unsere erste, naheliegende Interpretation annimmt, aus der Innenperspektive des tugendhaften Akteurs transzendiert. Dies deutete sich ja bereits darin an, dass Fromm – der in unserem Bild als tugendethischer Theoretiker auftritt – Albert Schweitzer als tugendhaften Akteur auszeichnet, der das Prinzip der biophilen Ethik aber selbst ganz anders versteht, als dies unsere naheliegende Deutung der Position von Fromm vorschlägt. Wenn die Tugendethik als ethische Theorie den Fokus auf den Charakter des ethischen Akteurs und nicht auf die einzelnen Akte legt, aber der tugendhafte Akteur sich selbst an einem aktfokussierten Prinzip orientiert, scheint dies tatsächlich dem Vorwurf einer theoretisch unattraktiven ‚Schizophrenie‘ Vorschub zu leisten. Das Paradigma der Tugendethik wird dadurch allerdings trotzdem nicht einfach in einem deontologischen oder konsequentialistischen Paradigma aufgehoben, weil der ‚Biozentrismus‘, wie er innerhalb des Paradigmas der Tugendethik generiert wird, nur unter ganz bestimmten Bedingungen ethische Gültigkeit besitzt, die wiederum von der tugendethischen Theorie selbst festgelegt werden. Für den Fall, dass es eine Spezies gäbe, deren Mitglieder vernunftfähig wären, für die die Biophilie jedoch keine Tugend darstellen würde, gäbe es aus tugendethischer Perspektive keine Grundlage mehr für die Aufstellung des Prinzips der biophilen Ethik, weshalb es auch keine universelle Gültigkeit beanspruchen kann, sondern anthroporelational ist (s. a. Foot 2004, S. 13; M. Thompson 2004, S. 364). Allerdings können wir die möglichen Probleme dieses Verständnisses der Dynamik von selbst- und umweltbezogenen Tugenden – das uns zur zweiten oben genannten Interpretation der Relation des Prinzips der humanistischen Ethik und der biophilen Ethik führen würde – an dieser Stelle außer Acht lassen, weil diese Position immer noch eine Verkürzung zu beinhalten scheint.

Eine Besonderheit, die mit dem Prinzip der biophilen Ethik verbunden ist und die wir bislang noch nicht genügend berücksichtigt haben, liegt darin, dass Menschen diesem Prinzip eigentlich gar nicht vollumfänglich entsprechen können (vgl. Sandler 2007, S. 73). Denn genau genommen erfüllt ja noch nicht einmal die oben erwähnte streng frutarische Form der Ernährung die Anforderungen des Prinzips der biophilen Ethik, weil auch auf der Schale oder im Fruchtfleisch eines Apfels Bakterien leben, die ebenfalls Lebewesen sind und mitunter, nachdem man sie verzehrt hat, von der Magensäure getötet werden. Im Denken von Schweitzer kündigt sich an dieser Stelle ein Dilemma an (vgl. Schweitzer 1966, S. 42 f.). Wenn man versucht, sich aus Ehrfurcht vor allem Leben der Tötung anderer Lebewesen zu enthalten, dann scheint sich dies nur dann konsequent umsetzen zu lassen, wenn man eine Bereitschaft entwickelt, das eigene Leben zu verneinen, sich also aus der Welt zurückzuziehen und im Extremfall durch Fasten aus dem Leben zu scheiden, wofür man jedoch die Ehrfurcht vor dem eigenen Leben negieren müsste. Dies wäre das erste Horn des Dilemmas. Wenn man jedoch der Ehrfurcht vor dem eigenen Leben den Vorrang gibt, es also bejaht, scheint man nun umgekehrt zumindest teilweise den Anspruch negieren zu müssen, der eigentlich aus der Ehrfurcht vor anderem Leben folgen würde, weil man sich in diesem Fall aktiv – und ohne Bedrohung von außen – über das Tötungsverbot hinwegsetzen müsste.

Vor dem Hintergrund seiner protestantischen Deutung der christlichen Religion zieht Schweitzer das zweite Horn des Dilemmas vor, allerdings verbunden mit der Forderung, nur dann zu töten, wenn es wirklich notwendig sei, und ansonsten im Rahmen der eigenen Möglichkeiten allen Lebewesen aktiv zu helfen. Schweitzer ist aber sehr wohl bewusst, dass ein biophiler Mensch, der sich von diesem zweiten Horn des Dilemmas aufspießen lässt, sein eigenes Glück – oder, aristotelisch formuliert, die Bezogenheit auf seine eigene Eudaimonie – aufgeben muss. Er gelangt nämlich dauerhaft in die tragische Situation, dass er – obwohl er von der Tugend der Ehrfurcht vor dem Leben erfüllt ist – die Schuld für die Tötung anderer Lebewesen auf sich nehmen muss und dabei deren Leid schmerzvoll miterlebt (vgl. Schweitzer 1974a, S. 249 f.; Schweitzer 1974b, S. 392; Schweitzer 1974c, S. 35 f.). Ein solcher Mensch, der sich an dem Objekt der eigenen Liebe vergeht, muss jedoch die Freude an seinem eigenen Leben verlieren, sodass er in der Folge vor allem aus Pflicht heraus lebt bzw. im Vertrauen auf eine höhere Macht, die in der Lage sein könnte, ihn von seiner Schuld loszusprechen (vgl. Schweitzer 2017, S. 1255).

Von Fromm aus gelesen scheint es jedoch für den biophilen Menschen kein gangbarer Weg zu sein, dieses Kreuz – das zweite Horn des Dilemmas – tragen zu wollen. Wir erinnern uns, dass am Grunde der Motivation bei Fromm (und damit auch der ethischen Motivation) die Suche nach einer möglichst produktiven Auseinandersetzung mit den existentiellen Dichotomien stand. Wenn der biophile Mensch jedoch mit dem Prinzip der biophilen Ethik eine Art ethische Autorität generiert, die den Bezug zur Eudaimonie des ethischen Akteurs verliert – also die biophile Ethik zu einer Art ‚autoritären Ethik‘ werden würde –, droht der Versuch, diesem Prinzip möglichst umfassend zu entsprechen, seine eigenen motivationalen Quellen zu untergraben (vgl. Baril 2013, S. 530 f.). Will man in der oben angesprochenen tragischen Situation ausharren, ohne verrückt zu werden, sich selbst umzubringen oder an der Trauer zugrunde zu gehen, würde dies wohl auf Dauer die Ausbildung einer Art masochistischen Haltung erfordern, die Lust an der eigenen Selbstaufopferung empfindet bzw. eine Lust, sich der Pflicht zu unterwerfen, die eine externe ethische Autorität generiert. Die ursprünglich biophile Orientierung eines Menschen droht auf diese Weise Schaden zu nehmen und in einen dysfunktionalen Modus der Bewältigung der Widersprüche des menschlichen Lebens umzuschlagen, sodass die motivationalen Quellen, die den biophilen Menschen anfänglich zur Orientierung am Prinzip der biophilen Ethik gebracht haben, nach und nach versiegen müssen bzw. in eine andere Orientierung umschlagen, die zwar noch oberflächlich dem Prinzip der biophilen Ethik folgt – also dem Text des Prinzips –, hinter der aber nicht mehr die charakterlichen Voraussetzungen stehen, die zur Eudaimonie führen. Auch das Prinzip der biophilen Ethik hat in diesem Sinne, wie das Prinzip der humanistischen Ethik, eine eigene Dynamik, die sich aber am Ende selbst untergräbt.

Bei Fromm finden wir jedoch bereits eine Alternative zu diesem Dilemma von Schweitzer angedeutet, die aber wohl nur vor dem Hintergrund der tugendethischen Tradition überzeugen kann. Denn obgleich der biophile Charakter über die Tugend der Biophilie das Prinzip der biophilen Ethik generiert, besteht Fromm zufolge – wie wir bereits gesehen haben – ein zweiter wesentlicher Aspekt der Tugend der Biophilie in der Freude am Leben, aus der heraus es dem biophilen Charakter überhaupt erst möglich wird, sich in tugendhafter Weise am Prinzip der biophilen Ethik auszurichten. Im biophilen Charakter ist dementsprechend also auch eine selbstbezogene Tugend integriert, die wir als eine Art fortbestehendes Element der humanistischen Ethik in der biophilen Ethik betrachten können. Vom modernen tugendethischen Diskurs aus gelesen sollten wir die ‚Prinzipien‘ bei Fromm nicht generalistisch oder universalistisch verstehen – so als hätte das Prinzip der biophilen Ethik den Status der einzig gültigen Handlungsrichtlinie für den ethischen Akteur –, sondern es bietet sich vielmehr an, diese Prinzipien in partikularistischer Weise zu reformulieren, um die Probleme des deontologischen und konsequentialistischen Biozentrismus zu vermeiden, in die zumindest die Position von Schweitzer zu fallen scheint. So wäre es möglich, die beiden ‚Prinzipien‘ von Fromm als zwei besondere ‚Tugendregeln‘ (v‑rules) im Sinne von Rosalind Hursthouse zu verstehen (vgl. Hursthouse 1999, Kap. 1).

Bei Hursthouse finden wir die Idee, dass der ethische Akteur sich über den Verweis auf die einzelnen Tugenden – wie Ehrlichkeit, Mut etc. – in seiner eigenen Lebensführung praktisch orientieren kann, indem man jeder dieser Tugenden eine handlungsanleitende Regel zuordnet. Wenn der ethische Akteur sich also mit einem Problem konfrontiert sieht, könnte er sich fragen, welches Handeln in der spezifischen Situation, in der er sich gerade befindet, ehrlich oder unehrlich, mutig oder feige wäre, wodurch er eine Grundlage für die ethische Evaluierung verschiedener Handlungsoptionen erhalten würde, die weitaus konkreter und aufschlussreicher wäre als die viel abstraktere Frage, welche Handlung in der betreffenden Situation als ‚gut‘ angesehen werden könnte. Fromm geht nun allerdings nicht von einer Liste einzelner Tugenden aus, die sich im Handeln des tugendhaften Menschen widerspiegeln müssen, sondern nimmt eine Art Einheit der Tugenden (bzw. der Laster) in der Charakterorientierung des ethischen Akteurs an (im Unterschied im Übrigen zu anderen Ansätzen der Tugendethik, die das Moment der Einheit der Tugenden eher mit der praktischen Klugheit verbinden, also einer intellektuellen Tugend). Die Liebe zum Leben kann dabei für Fromm als eine Art Schlüsseltugend gelten, insofern sie den ganzen Bereich der Beziehungen des Menschen zu anderen Lebewesen strukturiert. Die damit verbundene Tugendregel ließe sich wohl durchaus mit dem Text des Prinzips der biophilen Ethik beschreiben. Wenn wir dem Partikularismus folgen und die Vorstellung aufgeben, dass sich ein gültiger Ansatz der normativen Ethik auf ein einziges, universales ethisches Prinzip reduzieren lassen müsse, dann könnten wir Fromms Verweis auf einen zweiten Aspekt der Biophilie nun so verstehen, dass in seinem Modell noch mindestens eine zweite Tugendregel eine Rolle spielt – eine Art ‚Metatugend‘ neben der Schlüsseltugend der Biophilie –, die darauf abzielt, den dauerhaften Zugriff auf die motivationalen Ressourcen zur Befolgung der anderen Tugendregeln zu gewährleisten. Insofern sich diese beiden Tugendregeln miteinander im Konflikt befinden, von ihrer inneren Dynamik her aber auch aufeinander verweisen bzw. ineinander umschlagen, erhalten wir auf diese Weise ein Bild vom tugendhaften Charakter, das von anderen klassischen tugendethischen Beschreibungen abweicht.

Anders als Hursthouse den Konflikt verschiedener Tugendregeln interpretiert, kann es in unserem veränderten Bild nicht mehr um eine rein punktuelle, situative Auflösung des Konflikts der betreffenden Tugendregeln gehen. Während bei Fromm angedeutet ist, dass nur der nicht-ideale ethische Akteur durch eine Art inneren Konflikt zwischen lasterhaften (nicht-produktiven) und tugendhaften (produktiven) Anteilen seines Charakters gekennzeichnet ist (vgl. EFGA II, 1964a, S. 253), zeichnet sich in unserem neuen Bild nun auch der ideale, rein tugendhafte Charakter wesentlich durch eine innere, konflikthafte Dynamik aus, anstatt dass wir ihm eine vollkommene innere Harmonie unterstellen. Auf diese Weise hätten wir nicht nur eine Dialektik in der menschlichen Situation (die existentiellen Dichotomien), aus der die biophile Charakterorientierung als Telos hervorgeht, sondern auch noch einmal im biophilen Charakter eine weitere Dialektik (zwischen selbst- und umweltbezogenen Tugenden), die seinem Telos eine konkretere Ausprägung geben würde.

Gehen wir, um diese Dynamik verständlich zu machen, noch einmal zurück zu dem vorhin erwähnten Dilemma, mit dem sich Schweitzer konfrontiert gesehen hat. Um die Lebensfreude zu bewahren und nicht in einen distanzwahrenden bzw. lebensverneinenden oder masochistischen Modus der Weltbeziehung hineinzufallen, wird es ab einem bestimmten Punkt für den biophilen Charakter – der sich aus seiner Liebe heraus auch an den Konsequenzen für das Objekt seiner Liebe orientiert – erforderlich, eine etwas inkonsequentere Haltung zu diesem überfordernden, aktfokussierten Aspekt einzunehmen, der mit dem Prinzip der biophilen Ethik verbunden ist, also dem Pro-tanto-Tötungsverbot. Das heißt, dass in diesem Fall selbstbezogene Gründe dieses Tötungsverbot – zumindest in Bezug auf Pflanzen – überschreiben könnten. Die Stärkung der Lebensfreude, die aus dieser inkonsequenteren Lebensweise resultieren mag – also etwa die Aufgabe bestimmter Speisegebote –, könnte jedoch im Laufe der Zeit wieder zu einer Stärkung des umweltbezogenen Aspekts im biophilen Charakter führen und damit auch die motivationalen Ressourcen zur Befolgung des aktfokussierten Aspekts des Prinzips der biophilen Ethik stärken, sodass sich der eben beschriebene Prozess, der mit der Annahme einer strikter an den Konsequenzen orientierten Lebensweise eingeleitet wird, schließlich auf höherer Stufe wiederholen kann. Der tugendhafte Akteur befindet sich auf diese Weise in einer Art produktivem, sich dynamisch entwickelndem, inneren Konflikt, der zwischen selbst- und umweltbezogenen Tugenden ausgetragen wird. Dieser innere Konflikt ist jedoch anders strukturiert als die oben beschriebene Zweiteilung der Perspektive (bzw. die vermeintliche ‚Schizophrenie‘) der Tugendethik, da er sich nun durchaus ethisch legitim innerhalb einer Person – dem tugendhaften Akteur – abspielen kann. In gewisser Weise haben wir uns an dieser Stelle damit auf die dritte oben genannte Interpretation der Relation des Prinzips der humanistischen Ethik und der biophilen Ethik zubewegt.

Im Rahmen dieser veränderten Deutung der Beziehung von umwelt- und selbstbezogenen Tugenden ergibt sich nun also die Möglichkeit, dass in die Handlungsfindung des tugendhaften Akteurs auch Überlegungen einfließen können, die relativ abstrakt bzw. allgemein aus dem Prinzip der biophilen Ethik abgeleitet werden – also etwa die Entscheidung, aufgrund des höheren CO2-Ausstoßes der Fleischproduktion oder des damit verbundenen Tierleids vegetarisch, vegan oder sogar frutarisch zu leben, auch wenn beispielsweise der bloße Akt des Kaufens oder Konsumierens von Fleisch ja nicht ipso facto ein Element der Grausamkeit oder Destruktivität in der eigenen Charakterorientierung ausdrücken muss. Die Ablehnung, das eigene Handeln auch an dessen Folgen zu bemessen, die aus dem Fokus der Tugendethik auf die Charakterorientierung zu folgen schien, erfährt auf diese Weise zumindest einen einschränkenden Zusatz, weil in die Tugend der Liebe selbst, gemäß unserem neuen Verständnis, eine konsequenzenbezogene Komponente eingebaut ist. Der Unterschied zu den deontologischen bzw. konsequentialistischen Prinzipienethiken liegt jedoch darin, dass aus diesem aktfokussierten Aspekt des Prinzips der biophilen Ethik keine verallgemeinerbaren und absolut gültige normative Vorgaben abgeleitet werden können – also etwa das Gebot, dass alle rationalen Lebewesen ausnahmslos und immer streng frutarisch leben sollten.

In dem hier vorgeschlagenen Modell gelangt der ethische Akteur über seinen eigenen Versuch, eine möglichst produktive Lösung für seine Konflikte zu finden, zu normativen Forderungen, die sich wesentlich auf ihn selbst beziehen. Dabei können wir diesen Prozess von außen – also aus der Perspektive der tugendethischen Theorie – aber durchaus noch in Bezug auf seine Angemessenheit ethisch bewerten, sodass es sich hierbei zwar um eine akteursbezogene – und in diesem Sinne relative –, aber doch nicht um eine irgendwie subjektivistische Bewertung handelt. So ließe sich ein vermeintlich biophiler Mensch, der vom drohenden Klimawandel erfährt, aber faktisch einen umweltschädigenden Lebenswandel beibehält, von außen ethisch kritisieren. In diesem Fall fehlt es ihm nämlich entweder an praktischer Klugheit, weil er nicht in der Lage ist, einfache praktische Schlussfolgerungen zu treffen, oder es bestehen Defizite in seiner Charakterorientierung, weil ihr nämlich der umweltbezogene Aspekt abgeht, der die Konsequenzen des eigenen Handelns für das Objekt der Liebe einbezieht. Diese Defizite zeigen jedoch an, dass die betreffende Person eine suboptimale und in diesem Sinne lasterhafte Lösung für die Probleme der menschlichen Existenz anstrebt. Umgekehrt ließe es sich aber ebenso nachvollziehen, wenn ein tugendhafter Akteur, der sich aus relativ abstrakten Gründen entschieden hat, beispielsweise vegan zu leben, diese Entscheidung zu einem späteren Zeitpunkt revidiert, etwa weil er bemerkt, dass er im Laufe der Zeit in seinem Konsum freudlos und kalt-berechnend geworden ist, dass seine eigene Charakterentwicklung vor dem Hintergrund dieser Entscheidung stagniert, sodass in diesem Fall selbstbezogene Tugenden in ethisch legitimer Weise eine größere praktische Bedeutung für ihn erlangen können. Wenn ein tugendhafter Mensch mit der tugendethischen Theorie vertraut gemacht wird, wäre es ihm sogar möglich, derartige Bewertungen seiner Lebensführung auch aus der Innenperspektive nachzuvollziehen, sodass es hier also nicht zu irgendeiner Art von ‚Schizophrenie‘ kommen muss.

Im Übrigen sieht sich der ethische Akteur auch im Modell von Schweitzer mit einem Konflikt konfrontiert, der – auch bei oberflächlich gleichartigen Situationen – verschiedene ethisch legitime Lösungen zulässt, was auf den ersten Blick gewisse Ähnlichkeiten zu der hier vorgeschlagenen partikularistischen Antwort auf die drohende Überforderung durch das Prinzip der biophilen Ethik aufweist. Eingebettet in einen deontologischen Rahmen scheint mir diese Position jedoch weitaus weniger attraktiv zu sein. Da der Mensch im Modell von Schweitzer auf der Handlungsebene so oder so schuldig werden muss – es für ihn also keinen Ausweg aus seiner tragischen Situation gibt, der ohne Sünde wäre –, verlagert sich der ethische Fokus auf das subjektive Gewissen des ethischen Akteurs, der versuchen muss, der Ehrfurcht vor dem Leben doch noch so gut wie möglich nachzukommen, auch wenn seine Versuche hierzu letztlich willkürlich erscheinen müssen (vgl. Schweitzer 1974b, S. 386 ff., 398; Schweitzer 1986, S. 52 f.). So mag ein vorbildlicher Akteur im Sinne Schweitzers an einem Tag einen Fisch vor einem Seeadler retten, indem er den Adler tötet, während er aber am nächsten Tag einen verletzten Seeadler bei sich aufnimmt und mit einer Vielzahl von Fischen wieder aufpäppelt, die er zu diesem Zwecke fängt (vgl. Schweitzer 1974a, S. 243; Schweitzer 1974d, S. 155). Keine dieser Handlungen lässt sich aber im deontologischen Rahmen als angemessen bewerten, da dies zu einer Legitimierung des Unrechts führen würde. Demgegenüber lässt sich im hier vorgestellten Modell die ethische Legitimierung einer Veränderung des normativ ausgezeichneten Verhaltens durch die Theorie verständlich machen, indem nämlich auf eine reale Verschiebung in der inneren Dynamik von selbst- und umweltbezogenen Tugenden im tugendhaften Akteur referiert wird.

Wenn sich der objektiv gültige ethische Maßstab für einen ethischen Akteur wesentlich aus der inneren Dynamik miteinander konfligierender selbst- und umweltbezogener Tugenden ableitet, dann kann man, wie wir nun zum Ende hin feststellen können, nicht mehr sagen, die Version der Tugendethik, die wir hier im Ausgang von Fromm entwickelt haben, wäre per se anthropozentrisch oder biozentrisch, egoistisch oder altruistisch, akteurs- oder umweltbezogen, sondern sie generiert, wenn man so will, einen Mittelweg. Der tugendhafte Akteur ‚pendelt‘ in gewisser Weise in diesem Spektrum von größerer Selbst- und Umweltbezogenheit hin und her und spezifiziert auf diese Weise die Suche nach dem Mittelpunkt dieser Bewegung als sein ethisches Telos. Aber auch wenn er sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem ethischen Ort ‚eingependelt‘ haben mag – also eine Art ethische Mitte bzw. einen vorübergehenden Idealzustand gefunden hat, den wir mit der Eudaimonie identifizieren könnten –, schwingen die sein Leben bestimmenden Konflikte, also die beiden oben angesprochenen Dialektiken, im Hintergrund immer noch in ihm nach, auch wenn dies vielleicht von außen nicht mehr zu sehen ist. Dementsprechend ist der Zielzustand des tugendhaften Akteurs eine Art dynamische Mitte. Durch die Konfrontation mit neuen Situationen oder Erfahrungen könnte das ‚ethische Pendel‘ im tugendhaften Akteur in der Zukunft aber auch wieder in eine neue Richtung ausschlagen, aus der sich dann ein verschobener Mittelpunkt im Raum des Ethischen als neues Telos des ethischen Akteurs ergibt. Um das gute Leben zu erreichen – also die Bewältigung der Probleme der menschlichen Existenz –, muss der ethische Akteur sich produktiv durch die innere Dynamik von selbst- und umweltbezogenen Tugenden hindurcharbeiten, was wir uns prinzipiell als einen unabschließbaren Prozess vorstellen können. Er realisiert in diesem Zuge zunehmend beide Aspekte der Biophilie, also sowohl die Bezogenheit auf sein eigenes Wohl als auch die Berücksichtigung des Objekts der Liebe um seiner selbst willen, ohne einen dieser Aspekte zu verabsolutieren bzw. ausschließlich zu fixieren. Damit haben wir an dieser Stelle zumindest eine grobe Skizze der inneren Dynamik von selbst- und umweltbezogenen Tugenden im tugendhaften Akteur, wie sie sich im Ausgang von Fromm ableiten lässt.

4 Schluss

Die Auseinandersetzung mit bestimmten exegetischen Problemen, die das Werk von Erich Fromm aufwirft, hat uns in diesem Artikel ermöglicht, eine Reihe ansonsten durchaus umstrittener Prämissen voraussetzen zu können, von denen wir auch in der anschließenden systematischen Diskussion ausgegangen sind. Der Nachweis, dass die Biophilie wirklich eine zentrale menschliche Tugend darstellt, ließe sich aber wohl nur mit großem Aufwand führen, und es lässt sich sicherlich bezweifeln, dass mit Fromms eigener Analyse der Liebe hierzu schon das letzte Wort gesprochen wurde. Für die bloße Etablierung einer ökologischen Tugendethik braucht es den über die Tugend der Biophilie generierten Biozentrismus vielleicht nicht unbedingt, auch wenn die Annahme einer derartigen Tugend angesichts der gegenwärtigen umweltpolitischen Herausforderungen durchaus attraktiv erscheinen mag. Die hier vorgestellten Überlegungen zur inneren Dynamik von selbst- und umweltbezogenen Tugenden scheinen mir aber auch unabhängig von der Frage, ob die Biophilie eine Tugend ist oder ob sich mit ihr ein Beitrag zur Etablierung der ökologischen Tugendethik leisten lässt, einen gewissen systematischen Wert aufzuweisen. Die Annahme, dass die Biophilie eine menschliche Tugend ist, hat schließlich ein Szenario eröffnet, in dem der mögliche Konflikt von selbst- und umweltbezogenen Tugenden im Rahmen einer eudaimonistischen Tugendethik offenbar werden konnte.

Das Verständnis der betreffenden inneren Dynamik im tugendhaften Akteur, das wir in diesem Zuge herausarbeiten konnten, ließe sich aber womöglich auch auf eine Tugendethik mit einem alternativen Tugendkatalog anwenden, dem eine derartig biozentrisch ausgerichtete Tugend, wie die Biophilie, fehlt, der aber andere umweltbezogene Tugenden, wie die Freundschaft oder die Barmherzigkeit, beinhaltet. So könnte es auch bei einer Freundschaft, zumindest einer nicht-idealen, unter bestimmten Bedingungen zu einem Konflikt kommen, in dessen Zuge der Versuch, dem Freund um seiner selbst willen zu helfen, zu einer Überforderung des tugendhaften Akteurs führt, sodass er sich unter Bezugnahme auf seine selbstbezogene Tugend in seiner Hilfsbereitschaft zurücknehmen muss, um seine eigene Integrität nicht zu beschädigen. Wenn ein tugendhafter Mensch in einer Großstadt wie Berlin lebt, begegnet ihm dieses Problem der Überforderung sogar alltäglich, angesichts der vielen Obdachlosen, die an seine Barmherzigkeit appellieren, denen er aber nicht allen sinnvoll helfen kann. Mitunter wird ein sehr barmherziger Mensch, der vielleicht vom Land in die Stadt zieht und für den diese Situation dementsprechend neu ist, seinem Gegenüber am Anfang noch echte Hilfe anbieten, anstatt bloß eine kleine Spende zu geben oder wegzuschauen. In diesem Zuge kann es jedoch passieren, dass die barmherzige Person die schlimme Erfahrung macht, schamlos ausgenutzt zu werden – etwa für die Finanzierung des Drogenkonsums –, sodass ihr Herz nach und nach erkaltet. Auch in diesem Fall leistet uns das hier vorgestellte Modell ethische Orientierung: Es wäre für eine solche Person durchaus begründbar, vorübergehend eine größere Distanz zu wahren, um sich selbst zu schützen, aber das tugendhafte Leben würde sich dadurch auszeichnen, dynamisch zu bleiben, also diesen Konflikt zwischen echter Barmherzigkeit und angemessener Distanz am Leben zu erhalten und immer wieder neu auszutragen, anstatt als Reaktion auf diese Erfahrung nachhaltig gleichgültig zu werden, wie so viele andere Großstädter. In diesem Sinne ist der mögliche Anwendungsbereich der hier vorgestellten Überlegungen, selbst wenn sie sich ursprünglich auf den Rahmen der Frommschen Tugendethik bezogen haben, sehr viel größer, als vielleicht am Anfang dieser Untersuchung zu erwarten war, auch wenn die hier herausgearbeitete Dynamik im tugendhaften Akteur unter Voraussetzung anderer Tugendkataloge wahrscheinlich nicht mit Notwendigkeit auftreten muss, sondern sich womöglich nur im Rahmen einer nicht-idealen Gesellschaft nachweisen lassen wird.

Vom Standpunkt der konsequentialistischen und deontologischen Ethikkonzeptionen könnte man der hier entwickelten Position am Ende wohl immer noch vorwerfen, dass der Fokus auf den tugendhaften Akteur und die mit ihm verbundene innere Dynamik vom zentralen Punkt, um den es in der tier- und umweltethischen Debatte eigentlich gehen sollte, ablenkt, nämlich der Frage nach dem moralischen Status bzw. dem intrinsischen Wert nicht-menschlicher Lebewesen. Schließlich habe ich hier ohne Weiteres unterstellt, dass es für den tugendhaften Akteur ethisch legitim wäre, eine stärker selbstbezogene Lebensweise anzunehmen, wenn er den Fokus auf die Umwelt nicht mehr dauerhaft aufrechterhalten kann, ohne seine tugendhafte Charakterorientierung zu beschädigen. Dies setzt jedoch voraus, dass die möglichen Rechte nicht-menschlicher Lebewesen bzw. die mit ihrem Leben verbundenen Werte durch das Streben des tugendhaften Akteurs nach dem eigenen guten Leben übertrumpft werden können bzw. dass die betreffenden rechtstheoretischen oder maximierenden Positionen allgemein eine verfehlte Perspektive auf die Ethik werfen und deshalb in der tugendhaften Lebensführung nicht zu berücksichtigen sind (vgl. Hursthouse 2006, S. 139 f.). Diese Auseinandersetzung zwischen den großen Paradigmen der normativen Ethik – die letztlich um deren erste Prämissen und die dahinterstehenden Intuitionen gehen müsste – lässt sich hier natürlich nicht mehr führen (wenn sie denn überhaupt sinnvoll geführt werden kann). Gerade wenn es jedoch nicht nur um die Einbeziehung der nicht-menschlichen Tiere in die Ethik geht, sondern auch der Pflanzen, deutet sich aber immer mehr an, dass den konsequentialistischen und deontologischen Ansätzen ihre eigene innere Struktur im Wege steht, wenn sie auf das Problem der sich hier andeutenden moralischen Überforderung reagieren sollen, weshalb man von dieser Seite aus auch eher versucht hat, Pflanzen ganz aus der Ethik herauszuhalten. Angesichts der Bedrohung des Lebens auf der Erde durch den Klimawandel scheinen biophile Intuitionen jedoch eine stärkere Bedeutung zu erlangen, weshalb unklar ist, wie lange sich diese Ausgrenzung noch aufrechterhalten lassen wird. Genau für einen solchen Diskurs, der unter der Voraussetzung dieser neuen Intuitionen geführt wird, scheint die Tugendethik eine interessante systematische Option darzustellen, weil sie eine theoretische Grundlage bereitstellt, um auch in einer vermeintlich überfordernden Situation mit den motivationalen Ressourcen des ethischen Akteurs verbunden zu bleiben.