1 Motivation und Zielsetzung

Die digitale Transformation stellt viele Unternehmen vor große Herausforderungen, zumal zeitgleich weitere große Herausforderungen wie Dekarbonisierung, resiliente und nachhaltige Lieferketten, Versorgungssicherheit mit Rohstoffen und Energie sowie rasant steigende Beschaffungspreise zu bewältigen sind. Viele traditionelle Industrieunternehmen tun sich insbesondere mit der marktseitigen digitalen Transformation, also neue digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln und erfolgreich in den Markt einzuführen, sehr schwer (Müller et al. 2018). Die digitale Vernetzung ihrer internen Wertschöpfungsprozesse fällt ihnen leichter. Verschiedene Studien zum Reifegrad und Umsetzungsstand der Digitalisierung haben gezeigt, dass die Transformation der Geschäftsmodelle zumeist noch deutlich hinter der Vernetzung der internen Prozesse zurückbleibt (Horváth und Szabó 2019; Kinkel et al. 2016; Lichtblau et al. 2015; Stentoft et al. 2021). Gerade auch deutsche Industrieunternehmen verharren vorrangig in ihrem auf den Verkauf hochqualitativer technischer Produkte spezialisierten Geschäft, dass viele Jahre gute Gewinne abgeworfen hat. Dabei unterschätzen sie möglicherweise aber die Dynamik der digitalen Transformation, die durch konsequente Vernetzung und Serviceorientierung das traditionelle Sachgutgeschäft sehr schnell unter Druck setzen oder gar ablösen kann.

Für die Entwicklung und das Design neuer Geschäftsmodelle wurden verschiedene Methoden entwickelt, die Unternehmen helfen können, diesen komplexen Prozess durch geeignete Vorgehensweisen zu unterstützen. Agile Methoden und Arbeitsweisen zielen insbesondere darauf ab, das Feedback des Kunden durch kurzzyklische Interaktionen systematisch in den Entwicklungsprozess mit einzubeziehen (Bocken und Snihur 2020; Fernandez-Vidal et al. 2022; Frederiksen und Brem 2017; Ghezzi und Cavallo 2020; Leatherbee und Katila 2020; Maurya 2012; Ries 2011). Dadurch kann vermieden werden, dass Konzepte oder Lösungen entwickelt werden, die den Bedarf des jeweiligen Kunden nicht wirklich treffen (Teece 2018). Voraussetzung hierfür ist aber, dass die jeweiligen Entwicklungsteams über sämtliche notwendige Kompetenzen verfügen oder flexiblen Zugriff auf die kritischen Ressourcen bekommen, die für die Lösungserarbeitung benötigt werden (Fernandez-Vidal et al. 2022). Wenn die agilen Teams aber mit klassischen Produktentwicklungsprojekten um diese knappen Ressourcen konkurrieren, dann ist diese Prämisse nicht immer gegeben.

Auch für die konzeptionelle Erarbeitung und das Design neuer Geschäftsmodelle liegen mit dem Business Model Navigator (Gassmann et al. 2013) oder dem Business Model Canvas (Osterwalder und Pigneur 2010) eingeführte Methoden vor. Beide Methoden machen das Nutzenversprechen und die Generierung von Mehrwert für den Kunden zum Ausgangspunkt des Designprozesses. Davon ausgehend werden die Kundenkanäle ausgestaltet, die Wertschöpfungsarchitektur inklusive Partnerkonstellationen definiert und das Ertragsmodell konzipiert. Diese Methoden wirken zunächst recht einfach. In der Praxis ist aber die konkrete Evaluierung einzelner Aspekte, etwa das vertiefte Verständnis des prozessabhängigen Problems eines anderen Akteurs, durchaus nicht trivial (Teece 2018).

Der Beitrag untersucht vor diesem Hintergrund, welche Hürden Industrieunternehmen daran hindern, konsequenter neue digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln und in den Markt einzuführen. Es gibt bereits verschiedene Untersuchungen zu den Barrieren, warum Unternehmen bei der Einführung digitaler Prozesse der Industrie 4.0 in ihrer Organisation nicht wie geplant voranschreiten (Horváth und Szabó 2019; Stentoft et al. 2021). Spezifische Untersuchungen, was die zentralen Hürden bei der Entwicklung und Umsetzung digitaler Geschäftsmodelle in der digitalen Transformation sind, sind bislang aber eher selten (Vatankhah et al. 2023).

Die hier vorgestellten Erkenntnisse wurden im Rahmen des dreijährigen, vom BMBF geförderten Forschungsprojekts AgilHybrid (Agile Kompetenzentwicklung für vernetzte Arbeit in hybriden Geschäftsmodellen des Mittelstands) im Zusammenspiel von fünf Praxispartnern und drei Hochschulpartnern erarbeitet (www.agilhybrid.de). Dabei werden die Erkenntnisse in Hürden bei der Nutzung agiler Arbeitsweisen, Hürden bei der Identifizierung und Entwicklung der notwendigen Kompetenzen sowie organisationale Hürden in der Kernorganisation strukturiert. Zudem werden geeignete Methoden und Ansätze vorgestellt, die im Rahmen des Forschungsprojekts konzipiert und von den beteiligten Praxispartnern erprobt wurden. Diese können interessierten Wissenschafts‑, Praxis- und Transferpartnern wertvolle Hinweise liefern, worin möglicherweise nicht klar erkannte Hürden bestehen und wie sie für die Entwicklung und Umsetzung neuartiger digitaler Geschäftsmodelle überwunden werden können.

2 Theoretischer Hintergrund

2.1 Agile Arbeitsweisen

Agile Arbeitsweisen sind in der Industrie zunehmend auf dem Vormarsch. Sie haben ihren Ursprung in der Softwareentwicklung, werden aber zunehmend auch in der Produkt- und Geschäftsmodellentwicklung eingesetzt (Fleisch et al. 2015; Gassmann et al. 2006). In einer wachsenden Anzahl von Unternehmen ergänzen sie klassische Produktentwicklungsprozesse mit standardisierten Phasen, Meilensteinen und Freigaben oder lösen diese ab. Sie basieren im Wesentlichen auf selbstorganisierten Teams und der konsequenten Integration des Kunden durch kurzzyklische Interaktionen in das Projekt (Leatherbee und Katila 2020). Dadurch ermöglichen sie ein schnelles Anpassen des Geschäftsmodells an sich ändernde Marktbedingungen.

Das Anwenden agiler Methoden ermöglicht es Organisationen, schneller auf sich ändernde Rahmenbedingungen zu reagieren (Ghezzi und Cavallo 2020). Vor allem die frühe Interaktion mit dem Kunden zur Identifikation der wirklichen Kundenbedürfnisse, Probleme und Schmerzpunkte – also das „Verlassen des Gebäudes“ (Leatherbee und Katila 2020) – sowie das frühzeitige Validieren erster Konzepte und Prototypen der Lösung mit dem damit einhergehenden, ständigen Kundenfeedback ermöglicht eine schnelle Konzeption und Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle und verspricht Wettbewerbsvorteile (Ries 2011; Şimşek et al. 2022). In besonderem Maße erfordern wissensintensive und komplexe Geschäftsmodelle die Anwendung agiler Methoden, da diese die regelmäßige Interaktion und Vernetzung mit dem bzw. den Kunden in den Mittelpunkt stellen (Fernandez-Vidal et al. 2022). So kann das Risiko teurer Fehlentwicklungen begrenzt werden, die gerade bei komplexen Projekten immens hohe Folgekosten nach sich ziehen können (Wang et al. 2022).

In Kontext von wissensintensiven und komplexen digitalen Geschäftsmodellen spielen auch die Offenheit und kluge Vernetzung von Entwicklungsteams eine wichtige Rolle. Die Einbindung der richtigen internen und externen Partner ist ein wichtiger Erfolgsfaktor bei der Entwicklung neuer und digitaler Geschäftsmodelle (Chesbrough et al. 2006; Fernandez-Vidal et al. 2022; Gassmann et al. 2006; Osterwalder und Pigneur 2010; Osterwalder et al. 2014). Offenheit und Transparenz erleichtern eine vertrauensvolle, zielgerichtete und lösungsorientierte Zusammenarbeit und sind üblicherweise für alle beteiligten Partner ein wertvoller Zugewinn. Offene Innovationsprozesse und agile Zusammenarbeitsbeziehungen gehen daher Hand in Hand und ermöglichen schnellere und bessere Kundenlösungen durch zielgerichtete Kombination interner und externer Kompetenzen und Ressourcen (Chesbrough 2010; Kinkel et al. 2020; Leatherbee und Katila 2020). Immer mehr Unternehmen setzen dazu auch auf interne oder offene Innovationsplattformen, um über Ideen und Konzepte von internen oder auch externen „Experten“ geeignete Lösungsvorschläge für Problemstellungen, Produktinnovationen oder Geschäftsmodellentwicklungen zu generieren (Chesbrough 2010). Offene Innovationsprozesse bedingen eine Adaption der Innovationsprozesse wie auch der Geschäftsmodelle, denn von Externen eingehende Informations- und Ideenströme sind in der Organisation zu verarbeiten und beeinflussen Produkte, Kundenbeziehungen sowie weitere Elemente des Geschäftsmodells. Neben einem externen Netzwerk für offene Innovation wird auch eine interne Vernetzung zur Anwendung der gewonnenen Erkenntnisse notwendig (Fernandez-Vidal et al. 2022).

Agile Arbeitsweisen und offene Entwicklungsmethoden sind insbesondere gefordert, wenn Unternehmen ihr angestammtes Terrain verlassen und durch digitale Geschäftsmodelle ganz neue Geschäftsfelder erschließen wollen (Frederiksen und Brem 2017; Ries 2011). Dies erfordert ein hohes Maß an Fähigkeiten zur Exploration neuartiger Ideen und Konzepte und weniger zur Exploitation und Weiterentwicklung bestehender Produkte (Dixit et al. 2022). Deutsche Industrieunternehmen sind jedoch traditionell stark in der inkrementellen Weiterentwicklung ihrer hochqualitativen technischen Produkte und tun sich schwer, die Transformation hin zu digitalen Geschäftsmodellen zu beschreiten (Kinkel et al. 2020). Vor diesem Hintergrund könnte die konsequente Anwendung agiler Arbeitsweisen und offener Entwicklungsmethoden ein Schlüssel zur erfolgreichen digitalen Transformation ihrer Geschäftsmodelle sein (Şimşek et al. 2022). Dabei ist es nicht unbedingt zielführend, die ganze Organisation auf Exploration auszurichten und in allen Bereichen agil zu agieren. Es ist jedoch überlegenswert, spezifische Teams und Organisationseinheiten möglichst rasch so zu entwickeln, dass sie den Herausforderungen des agilen Arbeitens für den digitalen Wandel gewachsen sind (Fernandez-Vidal et al. 2022; Horváth und Szabó 2019; Trabert et al. 2022; Vatankhah et al. 2023).

2.2 Wesentliche Kompetenzen für die digitale Transformation

Die Festlegung der wesentlichen Kompetenzen für agile Entwicklungsteams sowie die zugehörige Kompetenzentwicklung sind zentrale Voraussetzungen für die organisationale Fähigkeit, digitale Geschäftsmodelle erfolgreich entwickeln und in die Umsetzung bringen zu können (Beiner et al. 2021; Trabert et al. 2022). Ein entsprechendes Kompetenzmanagement leistet daher einen wesentlichen Beitrag für die notwendige Unternehmens- und Personalentwicklung für die digitale Transformation (North 2013, Rost 2020). Nach Erpenbeck werden Kompetenzen definiert als Fähigkeiten, in offenen, unüberschaubaren, komplexen, dynamischen und zuweilen chaotischen Situationen kreativ und selbstorganisiert zu handeln (Erpenbeck 2017). Damit lassen sich individuelle Kompetenzen im Kern als Fähigkeiten zur selbstorganisierten Problemlösung verstehen. Angewandt auf ein Entwicklungsteam umfasst dies alle Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissensbestände, die das Team zur Bewältigung sowohl neuer als auch vertrauter Aufgaben und Herausforderungen handlungsfähig machen (Kauffeld und Paulsen 2018).

Für die Fähigkeit, erfolgreich digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln und in die Umsetzung zu bringen, werden in der Literatur eine Reihe von Kompetenzen genannt, welche für die jeweiligen Teams wichtig seien (Beiner et al. 2021). Will ein traditionelles Unternehmen Neuland betreten und ausgetretene Pfade verlassen, dann braucht es hierfür eine ausgeprägte Wandlungsfähigkeit (Blacke und Schleiermacher 2018; Davies et al. 2011; Hartmann 2017; Kinkel et al. 2018; Kirchherr et al. 2018). Dies beinhaltet eine konsequente Veränderungsbereitschaft der Mitarbeitenden gepaart mit der Fähigkeit, neue Anforderungen selbstständig zu erkennen und sich selbstorganisiert neues Wissen anzueignen (Rost et al. 2014). Dazu wird auch ein umfassender Überblick benötigt, unterschiedlichen Disziplinen und Domänen neben den angestammten für die innovative Lösungsentwicklung wichtig sind (Kinkel et al. 2018). Darüber hinaus bedarf es agiler Fähigkeiten und Arbeitsweisen, um die Ideen für neue Geschäftsmodelle schnell und effizient in geeignete Prototypen überführen, den konkreten Mehrwert für die Zielgruppe überprüfen und das Geschäftskonzept iterativ validieren zu können (acatech 2016; Hartmann 2017; Hirsch-Kreinsen 2015; Ittermann et al. 2015; Kinkel et al. 2016; Kirchherr et al. 2018; Leatherbee und Katila 2020). Mit solchen agilen Fähigkeiten kann es auch gelingen, die Komplexität der Entwicklung eines digitalen Geschäftsmodells kontrollierbar oder zumindest überschaubar zu halten (Füglistaller und Halter 2002). Da diese agilen Vorgehensweisen vorzugsweise in interdisziplinären Teams zur Anwendung kommen, die dazu zielorientiert und vertrauensvoll zusammenarbeiten müssen, ist auch eine ausgeprägte Zusammenarbeitsfähigkeit gefragt (acatech 2016; Blacke und Schleiermacher 2018; Heyse und Erpenbeck 2007; Kinkel et al. 2016; Pfeiffer et al. 2016). Explorativ orientierte Teams und ambidextre Organisationen benötigen Mitarbeitende, die den Wissensaustausch fördern und über ausgeprägte Teamfähigkeit, Bereitschaft zur offenen Kommunikation und Kooperation sowie konstruktive Konfliktfähigkeit verfügen (Rost et al. 2014, 2019; Martin et al. 2019). Zudem ist eine ausgeprägte Integrationskompetenz wichtig, um Informationen, Wissen und Ideen aus unterschiedliche Domänen und Netzwerken zusammen zu bringen, zu rekombinieren und daraus Neuartiges zu schaffen (Kinkel et al. 2019; Teece 2018; Vatankhah et al. 2023). Diese Fähigkeit wird auch als combinative capabilities (Kogut und Zander 1992) oder architectural competence (Henderson und Cockburn 1994) beschrieben.

Darüber hinaus sind für die Entwicklung von digitalen Geschäftsmodellen spezifische unternehmerische Fähigkeit notwendig, um die jeweiligen Ideen auf deren Markttauglichkeit und Ertragsfähigkeit hin abzuprüfen und konsequent in Richtung Realisierung und Wandel des Ertragsmodells hin voranzutreiben (Fernandez-Vidal et al. 2022; Füglistaller und Halter 2002; Kinkel et al. 2016; Pfeiffer et al. 2016). Zudem ist für explorative Innovationsprozesse ein hohes Maß an Eigeninitiative, Risikobereitschaft und Verantwortungsübernahme seitens der Mitarbeitenden notwendig (Gibson und Birkinshaw 2004; Renzl et al. 2012). Da sich digitale Geschäftsmodelle insbesondere auch dadurch auszeichnen, dass sie unternehmensübergreifend aufgesetzt werden, braucht es für das Agieren in einer solchen Netzökonomie auch spezifische Fähigkeiten im Denken in vernetzten Ökosystemen, Wertschöpfungsketten und Geschäftsmodellen (Bieger et al. 2002; Füglistaller und Halter 2002; Teece 2010, 2018; Vatankhah et al. 2023). Schließlich braucht es für die Entwicklung von digitalen Geschäftsmodellen auch digitale Fähigkeiten hinsichtlich digitalen Denkens und Datenverständnis (Carretero et al. 2017; Davies et al. 2011; Depenbusch et al. 2021; Hartmann 2017; Kinkel et al. 2019; Pfeiffer et al. 2016; Sergi et al. 2022). Verfügbarkeit von Informationen ist heute sehr hoch und sehr schnell, sodass zunehmend Fähigkeiten zur automatisierten Beschaffung, Analyse und Mehrwert generierenden Nutzung gefragt sind (Füglistaller und Halter 2002; Kinkel et al. 2016). In vielen Unternehmen ist die Bedeutung dieser Kompetenzen zwar möglicherweise bereits erkannt worden, doch ist die Ausstattung und Entwicklung dieser Fähigkeiten noch lange nicht so ausgeprägt, wie es für eine erfolgversprechende digitale Transformation ihrer Geschäftsmodelle wünschenswert wäre (Beiner et al. 2021; Trabert et al. 2022).

2.3 Organisationale Fähigkeiten in der Kernorganisation

In Zeiten ständig wechselnder Marktbedingungen, die sich trefflich als VUCA-Welt mit einem hohen Grad an „volatility“ (Volatilität), „uncertainty“ (Unsicherheit), „complexity“ (Komplexität) und „ambiguity“ (Mehrdeutigkeit) beschreiben lassen, gilt es für Unternehmen, wandlungsfähig zu agieren und zu reagieren (Bennett und Lemoine 2014; Heller 2019). Dabei müssen Unternehmen mit ihren angestammten Produkten wettbewerbsfähig bleiben und zugleich völlig neue digitale Leistungsangebote entwickeln und erfolgreich auf den Markt bringen können, welche Bedürfnisse und Wünsche der Kunden besser erfüllen können als vorhandene Lösungen. Besonders traditionelle Industrieunternehmen sehen sich aktuell vielfältigen Herausforderungen der digitalen Transformation ausgesetzt. Sie beeinflusst und ändert die Art und Weise der Wertschöpfung einschließlich der Organisationsstruktur und folglich die Geschäftsmodelle vieler Unternehmen radikal (Bocken und Snihur 2020; Chesbrough 2010; Parviainen et al. 2017; Matt et al. 2015). Ihre bestehende Aufbau- und Ablauforganisation ist jedoch unzureichend für diese Herausforderungen geeignet (Horváth und Szabó 2019).

Unter diesen herausfordernden Rahmenbedingungen sind Unternehmen zunehmend darauf angewiesen, organisationale Fähigkeiten zur Ambidextrie zu entwickeln und einzusetzen (March 1991; Gibson und Birkinshaw 2004; Vatankhah et al. 2023). Dies bedeutet, dass sie einerseits in der Lage sein müssen, neuartige Ideen und Konzepte zu explorieren und zu validieren, welche die spezifischen Bedürfnisse der Kunden bestmöglich befriedigen (Exploration). Sie müssen andererseits aber auch ihr angestammtes Kerngeschäft durch eher inkrementelle Weiterentwicklung ihrer bestehenden Produkte und Wertschöpfungsprozesse sichern und zukunftsfest machen (Exploitation). Diese Beidhändigkeit (Ambidextrie) stellt Unternehmen vor umso größere Herausforderungen, je stärker sich die neuen Geschäftsfelder technisch, organisatorisch und hinsichtlich ihrer Wissensdomänen, Netzwerke und Akteurskonstellationen von den angestammten Geschäftsfeldern unterscheiden (Dixit et al. 2022; Vatankhah et al. 2023).

Für traditionelle Industrieunternehmen mit einem im Markt erfolgreichen Produktangebot ist es nicht unbedingt sinnvoll, dass die ganze Organisation ambidextere Fähigkeiten zur gleichzeitigen Exploration neuer Lösungsansätze und Ausschöpfung (Exploitation) bestehender Leistungsangebote entwickelt. Es wird eher als sinnvoll erachtet, wenn einzelne Bereiche, Organisationseinheiten oder Teams sich entweder konsequent auf die Exploration gänzlich neuer Geschäftsmodelle oder auf die Ausschöpfung und Weiterentwicklung bestehender Geschäftsfelder spezialisieren (Ghezzi und Cavallo 2020; Leatherbee und Katila 2020; Teece 2018). An letzterem besteht in traditionellen Industrieunternehmen kein Mangel, während ersteres oftmals eher ein Randdasein führt (Beiner et al. 2021). Gerade in Zeiten komplexer Transformationen und schwieriger Umfeldbedingungen, wie sie die aktuelle Situation mit der nicht aufzuhaltenden digitalen Transformation, großflächigem Fachkräftemangel, gestörten Lieferketten, Versorgungsunsicherheiten und explodierenden Beschaffungspreisen darstellt, tendieren Unternehmen eher zum restriktiven Erhalt ihrer Geschäftsposition, wobei gerade nun eine konsequente Neuorientierung und Geschäftsmodellinnovation gefordert wäre (Vatankhah et al. 2023).

3 Vorgehen und Forschungsmethoden

Die folgenden Erkenntnisse entstanden im Rahmen des von Januar 2019 bis Juni 2022 vom BMBF geförderten Forschungsprojekts AgilHybrid (Agile Kompetenzentwicklung für vernetzte Arbeit in hybriden Geschäftsmodellen des Mittelstands). Dabei kam ein Mixed-Methods-Ansatz aus qualitativen und quantitativen Forschungsmethoden zum Einsatz (Bergman 2008). Die zentralen Hürden, die traditionelle Industrieunternehmen überwinden müssen, wenn sie sich zum erfolgreichen Anbieter digitaler Geschäftsmodelle entwickeln wollen, wurden nach Prinzipien der Aktionsforschung (Moser 1977) und des agilen Design-Based Research (Ravenscroft et al. 2012) erarbeitet. Dabei wurden im Prozess sowie aus der Analyse erfolgreicher und gescheiterter Vorhaben die wesentlichen Hürden identifiziert, die den Erfolg der Entwicklung und Umsetzung digitaler Geschäftsmodelle verzögern, behindern oder verhindern. Dazu kamen zum einen Experteninterviews mit für die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle oder dafür zuständigen autonomen Einheiten und Teams verantwortlichen Personen zum Einsatz. Diese wurden in teilstrukturierten Interviews sowohl zu erfolgreichen als auch zu gescheiterten Vorhaben in ihrer Organisation und ihrem Umfeld befragt und die jeweils wesentlichen Muster eruiert. Insgesamt wurden über die Projektlaufzeit mehr als 20 solcher Experteninterviews geführt, transkribiert, kodiert und systematisch ausgewertet. Hinzu kamen regelmäßige onlinegestützte Workshop- und Austauschformate mit jeweils zwischen 5 und 12 Kernakteuren aus den am Projekt beteiligten Institutionen, in welchen die wesentlichen Erkenntnisse präsentiert, diskutiert, überarbeitet und weiter geschärft oder auch verworfen wurden. Die Erkenntnisse wurden so in mehrfacher iterativer Interaktion zwischen den Wissenschafts- und Praxispartnern des Verbundvorhabens reflektiert und schrittweise Ansätze entwickelt und Interventionen erprobt, wie die identifizierten Hürden überwunden werden können. Die wesentlichen Interventionen und Entwicklungsprogramme bei den Praxispartnern wurden von den Wissenschaftspartnern im Projekt online begleitet, protokolliert, analysiert und hinsichtlich Zielsetzung und Zielerreichung evaluiert. Für das Verständnis des Vorgehens ist es wichtig zu wissen, das große Teile des Projektes zu Zeiten der Covid-Pandemie stattfanden und viele Formate und Interaktionen zwischen den Partnern daher online organisiert und durchgeführt werden mussten. Dies stellte große Herausforderungen an das Projekt, konnte insgesamt aber gut bewältigt werden.

Zur Evaluierung der Nutzung und des Nutzens agiler Arbeitsweisen im internationalen Vergleich von deutschen Industrieunternehmen mit Unternehmen aus anderen Industrienationen wurde im September/Oktober 2019 eine internationale Online-Umfrage durchgeführt. Damit konnten verwertbare Informationen von 655 Unternehmen des Verarbeitenden Gewerbes aus 16 führenden Industrienationen (Brasilien, China, Deutschland, England, Frankreich, Indien, Italien, Japan, Kanada, Mexiko, Polen, Russland, Schweden, Spanien, Südkorea und USA) gewonnen werden. Befragt wurden leitende Verantwortliche in der Produktion oder der Geschäftsführung der Unternehmen. Für die in Abb. 1 dargestellten Auswertungen wurden die Befragten gefragt: „Welchen Umsatzanteil erzielt Ihr Unternehmen mit digital unterstützten Services bzw. daten- oder plattformbasierten Geschäftsmodellen?“, wobei die Antworten in Prozentanteilen (%) des Gesamtumsatzes des Unternehmens gegeben werden konnten. Für die in Tab. 3 weiter unten dargestellten Auswertungen wurde gefragt, welche der genannten Arbeitsweisen und Entwicklungsmethoden (agile Entwicklungsmethoden, designorientierte Entwicklungsmethoden, interne digitale Innovationsplattform (im eigenen Unternehmen), offene digitale Innovationsplattform (mit Einbindung externer Partner)) das jeweilige Unternehmen nutzt oder nicht (ja oder nein).

Tab. 1 Table 1 Verteilung der Stichprobe der internationalen Online-Umfrage nach Standort (Land), Branche und Größenklasse der befragten UnternehmenDistribution of the sample of the international online survey by location (country), industry and size of the surveyed companies
Abb. 1 Fig. 1
figure 1

Umsatzanteil mit digitalen Services oder Geschäftsmodellen nach Standort der befragten Unternehmen

Share of sales with digital services or business models by location of the companies surveyed

Die Verteilung der Stichprobe der internationalen Online-Umfrage nach Standort (Land), Branche und Größenklasse der Unternehmen ist in Tab. 1 dargestellt. Insgesamt ist die Stichprobe hinsichtlich des Standorts der Unternehmen mit Ausnahme von Kanada und Schweden (jeweils ca. 2 %) gut verteilt. Auch hinsichtlich der Branchen ist die Stichprobe hinlänglich gut über das Verarbeitende Gewerbe verteilt. Hinsichtlich der Unternehmensgröße kann die Stichprobe als balanciertes Sample aus KMU, mittleren und großen Unternehmen der wesentlichen Branchen des Verarbeitenden Gewerbes in den abgedeckten Ländern betrachtet werden.

Tab. 2 Table 2 Verteilung der Stichprobe der CATI-Umfrage (n = 200) nach Größenklasse und Branche der befragten UnternehmenDistribution of the sample of the CATI survey (n = 200) according to size and industry of the surveyed companies

Zur Identifikation der wesentlichen Kompetenzen für die erfolgreiche Entwicklung und Umsetzung digitaler Geschäftsmodelle wurde ein theoriegeleitetes und strategiebasiertes Vorgehen gewählt (Kaufhold et al. 2020; Rost 2020). Hierzu erfolgte zunächst eine strukturierte Analyse einschlägiger Studien und Veröffentlichungen zu wichtigen Kompetenzen für die Herausforderungen der digitalen Transformation (Beiner et al. 2021). Daraufhin wurde in einem eintägigen Präsenzworkshop mit Mitgliedern der vier beteiligten Industrieunternehmen, eines E‑Learning-Anbieters sowie der drei Hochschulen eine erste Vorauswahl und Priorisierung der wichtigsten Kompetenzen vorgenommen. Die Gesamtheit der gesammelten Kompetenzen wurde durch Ausschluss der als weniger wichtig eingeschätzten und Zusammenfassen inhaltlich ähnlicher Kompetenzen auf 20 Einzelkompetenzen verdichtet. Diese wurden im weiteren Verlauf durch iterative, moderierte Diskussionen evaluiert und adaptiert. Im Ergebnis entstand ein Modell der 20 wesentlichen Kompetenzen, welche nach inhaltlichen Gesichtspunkten in fünf Kompetenzbereiche eingeordnet wurden (vgl. Tab. 4 weiter unten).

Zur breitenempirischen Evaluierung der identifizierten Kompetenzen wurde eine computergestützte Telefonumfrage (CATI) bei 200 Unternehmen des deutschen Verarbeitenden Gewerbes durchgeführt (Beiner et al. 2021). Die Befragten waren explizit mit der Geschäftsmodellinnovation beauftragt oder dafür verantwortlich. Dies waren größtenteils GeschäftsführerInnen und Verantwortliche aus den Bereichen Forschung und Entwicklung, Marketing und Vertrieb sowie IT. Die identifizierten 20 wesentlichen Kompetenzen wurden hinsichtlich Wichtigkeit und Ausstattung ihres Unternehmens von den befragten Experten eingeschätzt. Dazu wurde die jeweilige Kompetenz aus Tab. 4 genannt und den Befragten mit der Beschreibung aus der zweiten Spalte erklärt. Beispielsweise wurde erläutert: „Unter ‚Veränderungsbereitschaft‘ verstehen wir die Fähigkeit, Veränderungen als Lernsituationen zu verstehen, gerne anzugehen und entsprechend zu handeln.“ Bei Unsicherheit oder Unverständnis konnten die Befragten nachfragen, dann wurde die jeweilige Kompetenz ausführlicher oder in anderen Worten erklärt. Die Einschätzung der Wichtigkeit und Ausstattung erfolgte jeweils in einer fünfstufigen Likert-Skala. Hierzu wurde gefragt, wie wichtig die Befragten die jeweilige Fähigkeit für die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle einschätzen (nicht wichtig, wenig wichtig, mittelmäßig wichtig, ziemlich wichtig, sehr wichtig) und wie gut ihr Unternehmen mit Mitarbeitenden ausgestattet ist, die über diese Fähigkeit verfügen (sehr schlecht, schlecht, mittelmäßig, gut, sehr gut).

Tab. 1 zeigt die Struktur der Stichprobe der CATI-Befragung nach Beschäftigtenanzahl und Branche. Verglichen mit der Verteilung der Grundgesamtheit des deutschen Verarbeitenden Gewerbes befinden sich, wie bei solchen Befragungen üblich, etwas weniger kleine Unternehmen (44 % statt 49 %) und eine größere Zahl sehr großer Unternehmen (8 % statt 1,4 %) in der Stichprobe (Destatis 2019). Mit Blick auf die Branche stammen die Befragten überwiegend aus dem Maschinen- und Fahrzeugbau, der Herstellung von elektrischen Erzeugnissen und von Metallprodukten (Beiner et al. 2021).

4 Wesentliche Erkenntnisse

4.1 Hürden bei der Nutzung agiler Arbeitsweisen

4.1.1 Hürde 1: Agile Arbeitsweisen werden nicht konsequent genug eingesetzt

Die Ergebnisse der internationalen Online-Umfrage bei 655 Unternehmen aus 16 hoch entwickelten Industrienationen zeigen, dass sich insbesondere deutsche Industrieunternehmen schwer damit tun, neue digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln und erfolgreich in den Markt einzuführen. Im Durchschnitt über alle befragten Industrieunternehmen aus allen Ländern werden bereits heute im Mittel etwa 40 % des Umsatzes mit digitalen Services oder Geschäftsmodellen erwirtschaften (Kinkel et al. 2020). Die deutschen Unternehmen hängen hier aber mit mittleren Umsatzanteilen von etwa 25 % deutlich zurück und nehmen im Vergleich der 16 Länder den letzten Platz ein (Abb. 1). Sie verharren damit weiterhin vorrangig in ihrem auf den Verkauf hochqualitativer technischer Produkte spezialisierten Geschäft, das viele Jahre gute Gewinne abgeworfen hat. Möglicherweise unterschätzen sie aber die Dynamik der digitalen Transformation, die ihr traditionelles Sachgutgeschäft sehr schnell unter Druck setzen kann.

Ein wesentlicher Grund für diesen bedenklichen Rückstand deutscher Industrieunternehmen ist, dass agile Arbeitsweisen und Entwicklungsmethoden nicht konsequent genug eingesetzt werden. Eine multiple Regressionsanalyse auf Basis der Daten der Online-Umfrage bei 655 internationalen Industrieunternehmen hat gezeigt, dass der Einsatz agiler Arbeitsweisen und Entwicklungsmethoden einen signifikant positiven Beitrag dazu leistet, dass Umsätze mit digital vernetzten Services oder Geschäftsmodellen generiert werden (Kinkel et al. 2020). Dazu wurde der Einsatz von agilen Entwicklungsmethoden, designorientierten Entwicklungsmethoden, internen digitalen Innovationsplattformen und offenen digitalen Innovationsplattformen erfragt. Aus diesen Angaben wurde ein Indexwert errechnet der anzeigt, wie viele dieser Methoden das jeweilige Unternehmen nutzt, normiert durch die Anzahl der abgefragten Methoden (Kinkel et al. 2020).

Wie sich zeigt (Tab. 3), sind deutsche Unternehmen bei der Nutzung agiler Entwicklungsmethoden sehr zurückhaltend und belegen im internationalen Vergleich mit einem Indexwert von 0,52 den letzten Platz (Mittelwert 0,76, Spitzenreiter 0,91). Der Abstand zur Spitzengruppe in der Nutzung dieser Methoden, in der sich Unternehmen aus China, Mexiko, Indien und Brasilien mit Indexwerten von 0,85 oder mehr befinden, ist dabei sehr groß. Doch auch der Abstand zum Mittelfeld um Japan und die USA ist bereits beträchtlich. Deutsche Industrieunternehmen verschenken damit wertvolle Potenziale, um beim Angebot digitaler Geschäftsmodelle mit der internationalen Konkurrenz mitspielen zu können. Vor diesem Hintergrund ist es essenziell wichtig, agile Arbeitsformen konsequent einzuführen und zielorientiert für die Entwicklung und Umsetzung digitaler Geschäftsmodelle zu nutzen.

Tab. 3 Table 3 Nutzung agiler und offener Entwicklungsmethoden nach Standort (Land) der befragten UnternehmenUse of agile and open development methods by location (country) of the companies surveyed

4.1.2 Hürde 2: Das Kundenproblem wird nicht wirklich verstanden

Eine weitere Hürde bei der Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle ist, dass das Kundenproblem nicht wirklich verstanden wird, da die Entwicklungsteams keinen direkten Kontakt mit den avisierten Kunden haben und suchen. Sie „verlassen ihr Gebäude“ nicht (Leatherbee und Katila 2020). An Ideen für neue digitale Geschäftsmodelle mangelt es den meisten Industrieunternehmen nicht. In vielen Unternehmen wurden verschiedenste Workshops und Aktivitäten durchgeführt, um Konzepte innovativer Geschäftsmodelle zu erarbeiten. Allerdings erfolgt die Ideengenerierung zumeist vorrangig mit internen Ressourcen und mit einer prägenden Rolle der technischen Entwicklungsbereiche. Die Sicht des Kunden wird, wenn überhaupt, indirekt über die eigenen Marketing‑, Vertriebs- oder Servicebereiche eingeholt. Viel zu selten wird der Endkunde direkt befragt, welche Probleme er im Umgang mit dem jeweiligen Produkt hat und welche Funktionalitäten und Angebote ihm einen echten Mehrwert liefern könnten. Allerdings ist es für Entwicklungsteams durchaus auch eine Herausforderung, direkt auf neue Kundengruppen zuzugehen und deren Probleme und Bedarfe zu eruieren, die Ansatzpunkte für Nutzenversprechen mit Mehrwert liefern (Leatherbee und Katila 2020). Bei einem der am Forschungsprojekt beteiligten Industrieunternehmen haben sich die Mitglieder eines agilen Teams sehr schwer damit getan, eine neue Kundengruppe nach deren Problemen und Bedarfen zu befragen. Die avisierten Landwirte und Farmer stellten für das auf Industriekunden fokussierte Unternehmen eine völlig neue Klientel dar, bei deren Ansprache auch die Marketing- und Vertriebsbereiche nicht unterstützen konnten. Es brauchte daher eine zielgerichtete Intervention eines externen Coaches, um die Mitglieder des agilen Teams für die Kontaktaufnahme mit der neuen Kundengruppe der Landwirte und Farmer vorbereiten und motivieren zu können.

4.1.3 Hürde 3: Es wird auf das perfekte Produkt hingearbeitet und zu spät getestet

Problematisch ist auch, dass viele – insbesondere deutsche – Entwicklungsteams gerne auf das perfekte Produkt hinarbeiten und zu spät testen. Nicht wenige Entwicklungsteams tun sich unheimlich schwer damit, ein erstes minimalistisches Produkt mit reduziertem Funktionsumfang zu entwickeln und unmittelbar ausgewählten Kunden anzubieten. Ein solcher Ansatz ist aber im Rahmen einer agilen und designorientierten Vorgehensweise wichtig, um frühzeitig wichtige Funktionalitäten im Realeinsatz beim Kunden testen zu können und herauszufinden, ob der Kunde diese auch tatsächlich braucht und sie ihm einen Mehrwert liefern. Neue Leistungsangebote und Geschäftsmodelle basieren immer auf Hypothesen, was der Kunde braucht und will (Leatherbee und Katila 2020). Der beste Weg herauszufinden, ob das Angebot den Kundenbedarf tatsächlich trifft, ist das schnelle Testen und Validieren im Kundeneinsatz (Leatherbee und Katila 2020).

An diesen ersten drei Hürden setzt das in AgilHybrid entwickelte, bewusst einfach gestaltete, auf vier zentrale Phasen reduzierte Phasenmodell zur Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle (Abb. 2) an, das einen klaren Schwerpunkt auf das Verstehen der wirklichen Kundenbedarfe, agile Arbeitsweisen sowie die schnelle Validierung und Testung erster und weiterer Produktversionen setzt (Trabert und Beiner 2021).

Abb. 2 Fig. 2
figure 2

Phasenmodell zur Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle

Phase model for the development of digital business models

4.2 Hürden bei der Identifizierung und Entwicklung der notwendigen Kompetenzen

4.2.1 Hürde 4: Andere und vielfältigere Kompetenzen als für die klassische Produktentwicklung sind gefragt

Die Analysen zur Identifikation der wesentlichen Kompetenzen für die erfolgreiche Entwicklung und Umsetzung digitaler Geschäftsmodelle (vgl. Abschn. 2) haben klar gezeigt, dass für die erfolgreiche Entwicklung und Einführung digitaler Geschäftsmodelle andere und vielfältigere Kompetenzen als für die klassische Produktentwicklung gefragt sind. Teams, deren Aufgabe es ist, erfolgreich digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln und in den Markt zu bringen, brauchen ein breites Set verschiedener Kompetenzen. Dabei sind digitale Fähigkeiten (u. a. Carretero et al. 2017; Davies et al. 2011; Depenbusch et al. 2021; Sergi et al. 2022) gefragt, aber nicht unbedingt die wichtigsten. Es bedarf insbesondere der Wandlungsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft (u. a. Blacke und Schleiermacher 2018; Davies et al. 2011) im Team, der Fähigkeit zur agilen Entwicklung und iterativen Testung neuer Angebote (u. a. acatech 2016; Kinkel et al. 2016; Leatherbee und Katila 2020) und der Fähigkeit zur selbstorganisierten Zusammenarbeit in eigenständigen Teams (u. a. Pfeiffer et al. 2016; Kinkel et al. 2018; Fernandez-Vidal et al. 2022). Darüber hinaus sind unternehmerische Fähigkeiten (u. a. Bieger et al. 2002; Füglistaller und Halter 2002) bei der Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle gefordert. Basierend auf diesen Einsichten wurde im Forschungsprojekt AgilHybrid ein entsprechendes Kompetenzmodell der 20 wesentlichen Kompetenzen für agile Entwicklungsteams inklusive Kurzbeschreibungen und Angabe der relevanten Quellen (Tab. 4) entwickelt (Beiner et al. 2021).

Tab. 4 Table 4 Beschreibung der 20 wesentlichen Kompetenzen für die Entwicklung digitaler GeschäftsmodelleDescription of the 20 essential competencies for the development of digital business models

Eine Telefonumfrage zur Evaluierung des entwickelten Kompetenzmodells bei 200 Industrieunternehmen (vgl. Abschn. 2) hat dessen Relevanz eindrucksvoll bestätigt. Dazu wurde die Einschätzungen der befragten Unternehmensvertreter zur Wichtigkeit und betrieblichen Ausstattung mit den einzelnen Kompetenzen durch Mittelwertbildung zu den fünf übergreifenden Kompetenzbündeln aggregiert. Die gebildeten Kompetenzbündel wurden alle im Mittel überwiegend als wichtig bis sehr wichtig (73 bis 87 % Zustimmung) für die Fähigkeit zur Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle eingeschätzt (Abb. 3). Allerdings hängt die Einschätzung der Unternehmen, wie gut sie mit diesen Kompetenzen ausgestattet sind, hier deutlich hinterher (37 bis 53 % gut oder sehr gut ausgestattet). Hier besteht demnach akuter Handlungsbedarf. Dies heißt nicht, dass möglichst jedes Teammitglied all diese Kompetenzen besitzt, aber es erscheint angezeigt, über das gesamte Team das dargestellte Kompetenzspektrum abzudecken, um eigenständig in der Lage zu sein, digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln.

Abb. 3 Fig. 3
figure 3

Wichtigkeit der Kompetenzbündel und Ausstattung der befragten Unternehmen mit den jeweiligen Kompetenzen

Importance of the competence bundles and equipment of the surveyed companies with the respective competencies

4.2.2 Hürde 5: Die neu geforderten Teamkompetenzen können nicht einfach klassisch geschult werden

Eine große Herausforderung ist es, geeignetes Personal mit den geforderten Kompetenzen zu gewinnen oder zu entwickeln. Einerseits gelangen viele Unternehmen angesichts der derzeitigen demographischen Situation und des Fachkräftemangels schnell an ihre Grenzen, die gesuchten Kompetenzen durch Einstellungen zu sichern und extern „einzukaufen“. Andererseits ist eine zielgerichtete Kompetenzentwicklung hier ebenfalls nicht trivial, da die neu erforderlichen Teamkompetenzen nicht einfach mit klassischen Schulungs- und Weiterbildungsangeboten entwickelt werden können. Gefordert sind hier projektbasierte, arbeitsintegrierte Entwicklungsprogramme, bei denen die entsprechenden Kompetenzen begleitend zu realen Projekten zur Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle entwickelt werden (Learning by doing). Dies bedingt auch eine verstärkte Hinwendung zu Kompetenzentwicklungsmethoden, die als organisierte Lerngruppen in Projektform stattfinden, eine ausgeprägte Coaching- und Mentoringkomponente enthalten und durch virtuelle Elemente unterstützt werden. Die telefonische Umfrage bei 200 Industrieunternehmen hat ebenfalls gezeigt, dass diese innovativen Lernformen zur Kompetenzentwicklung von den befragten Unternehmen stärker favorisiert werden als dass sie tatsächlich im jeweiligen Unternehmen zur Anwendung kommen (Beiner et al. 2021).

Ein ausgezeichnetes Praxisbeispiel stellt hier das „Entwicklungsprogramm für digitale Entrepreneure“ (intern auch „Drachenhöhle“ genannt) dar, das von der Wilo SE, einem weltweit führenden Pumpenhersteller aus Dortmund, im Rahmen des Forschungsprojekts AgilHybrid entwickelt, durchgeführt und evaluiert wurde. Es integriert folgende zentrale Elemente:

Learning by doing

Das Entwicklungsprogramm verfolgt parallel die beiden Ziele, einerseits weltweit ausgewählte Talente der Wilo Gruppe hinsichtlich ihrer Digital‑, Team- und Geschäftsmodellkompetenzen weiterzuentwickeln, andererseits die Talente in konkreten Projekten neue Konzepte für digitale Geschäftsmodelle für Wilo entwickeln zu lassen, die das Potenzial haben, in die reale Umsetzung zu gehen. Die Erfahrungen zeigen, dass es Wilo damit gelungen ist, aus einem Programm zur Talent-Entwicklung eine eigenständige, interne, von den Ideen und dem Know-how der eigenen Beschäftigten getragene Quelle für die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle zu schaffen.

Interdisziplinäre und hochmotivierte Teams

Die Möglichkeit zur Beteiligung am Programm wurde weltweit ausgeschrieben, über alle Hierarchien und Länder hinweg. Das Bewerbungsverfahren war durchaus aufwändig, die Personalentwicklung bei Wilo wurde dabei auch vom globalen Innovationsbereich unterstützt. Die wichtigsten Auswahlkriterien zielten auf die Zusammenstellung von internationalen, interdisziplinären und intrinsisch hochmotivierten Teams: Das „Brennen“ für das Thema Innovation und digitale Geschäftsmodelle, die Fähigkeit zur internationalen Zusammenarbeit und ein Fokus auf Talente, die sich an Wilo gebunden haben und damit eine interne Entwicklung und Verwertung wahrscheinlich machen. Ausgewählt wurden schließlich 18 Talente aus fünf Ländern (Deutschland, China, Indien, Südkorea, Russland), die in gemischten Teams über einen Zeitraum von neun Monaten zusammenarbeiteten.

Agil und kundenzentriert

Die Zusammenarbeit der Talente in ihren internationalen Teams erfolgte agil und virtuell. Das Vorgehen folgte dem in AgilHybrid entwickelten 4‑Phasen-Modell (Abb. 2), wobei die vierte Phase der Realisierung zunächst ausgeblendet wurde, da man nicht damit rechnete, im Programm so schnell so weit zu kommen. Zentrale Meilensteine im Entwicklungsprogramm waren ganz nach dem Prinzip agiler Arbeitsweisen drei „Pitches“, bei denen die Talente die Gelegenheit hatten, den jeweiligen Stand der Ideen- und Konzeptentwicklung in der sogenannten „Drachenhöhle“, direkt vor Mitgliedern des Vorstands und Führungskräften der oberen Ebene, zu präsentieren. Auch die konsequente Kundenzentrierung war ein wesentlicher Bestandteil. An einer Stelle hatten die Talente die Aufgabe, innerhalb von vier Wochen mit mindestens 15 realen Kunden zu sprechen und deren Anforderungen und Schmerzpunkte zu erheben. Hiervor hatten sie anfangs großes Unbehagen, das durch geeigneten Input abgemildert werden konnte.

Coaching & Mentoring

Eng gecoacht und begleitet wurden die Talente des Programms von der Personalentwicklung bei Wilo. Darüber hinaus traten auch die „Drachen“, also die Vorstände und oberen Führungskräfte von Wilo, bei der Vorbereitung der Pitches und in der Folgephase selbst als Coaches der Talente auf und halfen ihnen, ihre Ideen und Konzepte gezielt weiter zu entwickeln. Die Wertschätzung, welche die Talente dadurch erfahren habe, ist riesig und überaus motivierend. Damit lässt sich auch das sehr offene und ungefilterte Feedback zu den Pitches, das nicht immer nur positive Aspekte enthielt, besser verarbeiten. Denn die Hartnäckigkeit (Resilienz) der Teilnehmer (Heller 2019), bei negativen Lernerfahrungen – wie bspw. den kritischen Rückmeldungen der „Drachen“ – nicht gleich aufzustecken, sondern den Praxisnutzen zu validieren und das Konzept entsprechend anzupassen, ist eine äußerst wichtige Lernerfahrung.

Entwicklung der wesentlichen Kompetenzen

Die in AgilHybrid entwickelten Kompetenzen zur Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle (vgl. Hürde 4) bildeten die Leitplanken der strukturierten Interventionen und Inputs zur Kompetenzentwicklung im Programm. Ein solches Vorgehen erfordert einen langen Atem und den Mut, mit entsprechenden Projekten und Teams auch ohne ganz klar definierte Zielvorstellung zu starten und entsprechende Erfahrungen, auch negative, zu sammeln und daraus zu lernen (Bocken und Snihur 2020; Fernandez-Vidal et al. 2022; Ghezzi und Cavallo 2020; Leatherbee und Katila 2020; Ries 2011). Dies erfordert auch eine gelebte Fehlerbereitschaft und -kultur, denn Scheitern im Kleinen ist essenziell, um sich im Großen weiter zu entwickeln und Geschäftsmodelle mit wirklicher Transformationskraft hervorzubringen.

Das Entwicklungsprogramm von Wilo war Finalist der besten drei Bewerbungen für den HR-Excellence Award 2021. Insgesamt zeigt es eindrücklich, dass es deutschen Mittelständlern auch mit internen Mitteln durchaus gelingen kann, Menschen über Hierarchieebenen und Ländergrenzen hinweg zur erfolgreichen Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle zu befähigen.

4.3 Organisationale Hürden in der Kernorganisation

4.3.1 Hürde 6: Schwierigkeiten, digitale Geschäftsmodelle in den traditionellen Strukturen bestehender Unternehmen zu entwickeln

Die im Rahmen des Forschungsprojekts AgilHybrid durchgeführten Analysen (vgl. Abschn. 2) haben auch gezeigt, dass es durchaus schwierig sein kann, digitale Geschäftsmodelle in den traditionellen Strukturen bestehender Unternehmen zu entwickeln (Teece 2018). Hierbei entsteht oftmals ein grundsätzlicher Zielkonflikt: Die traditionellen Strukturen zur Produktentwicklung sind auf technisch einwandfreie Produkte ausgelegt, die viel Planung und eine effiziente Arbeitsweise erfordern. Zudem konkurrieren die agilen Teams zur Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle nicht selten mit bestehenden Teams klassischer Produktentwicklungsprojekte um finanzielle Ressourcen oder Kapazitäten von begehrten Spezialisten. Dabei entscheidet die zuständige Leitungsebene oftmals nicht zugunsten der agilen Geschäftsmodellentwicklung. Das Produktentwicklungsgeschäft scheint dringlicher und mit weniger Risiko behaftet zu sein als die ungewisse Entwicklung neuer digitaler Geschäftsmodelle. Die risikoärmere Alternative erhält daher nicht selten den Zuschlag, auch wenn die Entwicklung zukunftsfähiger Geschäftsmodelle eigentlich die wichtigere Aufgabe wäre. Die erfolgreiche Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle erfordert daher eigenständige und „fluide“ Strukturen (Fernandez-Vidal et al. 2022; Şimşek et al. 2022; Teece 2018), die verschiedene Spannungsfelder mit den traditionellen Strukturen des Kernunternehmens erzeugen können. Ansätze, die sich in den Fallstudien als erfolgversprechend herauskristallisiert haben, werden im Folgenden sehr prägnant beschrieben, um den Gesamtrahmen dieses Beitrags nicht zu sprengen.

  • Der Auswahl geeigneter Teams kommt eine hohe Bedeutung zu. Wesentlicher Erfolgsfaktor ist die hohe, intrinsische Motivation der Beteiligten und das „Brennen“ des gesamten Teams für die neue Aufgabe. Wichtig ist zudem, dass das Team interdisziplinär aus Software- und Datenspezialisten sowie Generalisten für agiles Management und Kundenbeziehungen zusammengesetzt ist, frei von Abteilungs- und Silodenken agiert und ein hohes Maß an Fähigkeit zur selbstorganisierten Zusammenarbeit besitzt (Beiner et al. 2021; Fernandez-Vidal et al. 2022; Leatherbee und Katila 2020; Warschkow 2021). Die Abstimmungsprozesse im Team können nicht immer konfliktfrei ablaufen. Wichtig erscheint aber ein gemeinsamer Wille zur schnellen Erreichung ambitionierter Ziele, der spürbar ist und gelebt wird.

  • Es erscheint wichtig, dass die mit der Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle betrauten Teams möglichst autonom mit viel Freiraum agieren können. Dies kann als Ausgründung mit geographischer Separation in räumlicher Distanz erfolgen, kann aber auch organisatorisch integriert als eigenständiges Team aufgebaut werden. Wichtig ist, dass eine klare Trennung vom operativen Geschäft des Kernunternehmens vollzogen wird und so wirklich eine eigenständige Organisation für ein separates Geschäftsmodell (Şimşek et al. 2022) geschaffen wird. Ein hoher Entscheidungs- und Strukturierungsfreiraum konnte als klarer Erfolgsfaktor für das Wirken und der Erfolg der autonomen Teams identifiziert werden (Warschkow 2021).

  • Trotz oder gerade wegen des hohen Autonomiegrads der eigenständigen Teams für die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle ist ein direkter Draht zum Kernunternehmen empfehlenswert (Warschkow 2021). Prinzipiell ist anzustreben, dass die autonomen Teams über möglichst alle notwendigen Fähigkeiten und Ressourcen selbst verfügen. Aufgrund des hochdynamischen Umfelds entstehen jedoch immer wieder Situationen, in denen eine direkte Vernetzung des autonomen Teams zur oberen Managementebene der Kernorganisation äußerst hilfreich ist, um flexibel und kreativ auf die notwendigen Ressourcen zugreifen zu können. Dies erfordert freilich einen hohen Unterstützungswillen (commitment) des oberen Managements. Eine solche Mitnutzung des „unfairen Wettbewerbsvorteils“ (Maurya 2012; Nidagundi und Novickis 2017) der Kernorganisation stellt einen wesentlichen Vorteil von autonomen Teams gegenüber eigenständigen Gründungen dar, die diesen flexiblen Ressourcenzugriff nicht organisieren können.

  • Der Führungsperson der autonomen Organisation kommt eine wesentliche Rolle für deren Dynamik und Erfolg zu. Aus den Interviews und Analysen schälte sich das Profil eines kreativen Pioniers heraus, der als transformationale Führungsperson im agilen Team (Şimşek et al. 2022; Vatankhah et al. 2023) mutig voranschreitet und das erforderliche Ansehen genießt, um die notwendigen Ressourcen zu beschaffen. Der Führungsstil ist durch ein Arbeiten auf Augenhöhe und weniger durch Hierarchie und Delegation geprägt. Der Pionier lebt Arbeitsstil, Veränderungs- und Risikobereitschaft vor und gibt dem Team die Möglichkeit, eigenständig Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. Dies führt im Idealfall zu einer Konstellation, in der die Führungsperson sehr viel Vertrauen in das Team hat und auch sehr viel Vertrauen aus dem Team bekommt (Warschkow 2021).

  • Prägend für erfolgreiche autonome Einheiten, die mit der Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle betraut sind, ist auch die Entwicklung einer eigenen Identität und Kultur, die andere Werte in den Mittelpunkt stellt als die Kernorganisation. Im Kern steht eine starke Kundenfokussierung und die konsequente Orientierung auf den Mehrwert für den Kunden oder die Gesellschaft, während bei der Kernorganisation eher das eigene Produkt und dessen Verbesserung im Vordergrund steht. Beschrieben wurde dies beispielsweise mit der „Leidenschaft, etwas Positives aus Daten zu generieren“ und so die Welt und „das Leben [zu] verbessern“ (Warschkow 2021, S. 28–29). Diese sinnorientierte Kultur („sense of purpose“, Fernandez-Vidal et al. 2022, S. 35) setzt an der hohen intrinsischen Motivation der Teammitglieder an und ermöglicht so ein hohes Maß an Identifikation mit dem Geschäftsziel. Den Teammitgliedern geht es nicht vorrangig um ihr Gehalt und ökonomisches Auskommen, sondern um Selbstverwirklichung und ihren Anteil an der Vision und Idee der autonomen Organisation (Warschkow 2021, S. 29). Damit fördert eine solche Kultur auch die Resilienz (Heller 2019) der Einzelnen, sich an wichtigen Problemen so lange festzubeißen, bis ein geeigneter Lösungsansatz gefunden wird.

5 Schlussfolgerungen

Für viele Unternehmen ist die digitale Transformation eine sehr wichtige Zukunftsaufgabe, aber auch eine sehr große Herausforderung. Die meisten Unternehmen tun sich dabei deutlich leichter, interne Prozesse zu digitalisieren und zu vernetzen als die eigene Marktleistung und das Produktangebot durch neue digitale Geschäftsmodelle zu transformieren (Kinkel et al. 2016; Lichtblau et al. 2015). Der Beitrag arbeitet die aus einem dreijährigen Verbundprojekt aus Industrieunternehmen und Forschungspartnern gewonnen Einblicke heraus, wo und warum es bei der Entwicklung und Umsetzung digitaler Geschäftsmodelle bei traditionellen Industrieunternehmen nicht selten klemmt. Es werden Hinweise und Methoden vorgestellt, wie diese Hürden überwunden werden können. Beispielsweise legt das vorgestellte Vorgehensmodell zur Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle einen klaren Fokus auf die beiden Phasen der Identifikation des Kundenproblems und der Validierung und iterativen Testung der erarbeiteten Lösungen und Konzepte (Leatherbee und Katila 2020), welche die zentralen Herausforderungen für die beteiligten Unternehmen darstellten. Das Modell der 20 wesentlichen Kompetenzen für agile Entwicklungsteams präsentiert einen klaren Rahmen, in welche Zukunftskompetenzen es für Unternehmen angezeigt sein könnte, zu investieren und diese gezielt zu entwickeln. Das Praxisbeispiel der Drachenhöhle des Industriepartners Wilo zeigt eindrucksvoll, wie ein geeignetes Programm zur Kompetenzentwicklung und Learning by doing in diesem Kontext ausgestaltet werden kann. Schließlich werden Erkenntnisse zur erfolgsförderlichen Ausgestaltung der organisatorischen Stellhebel vorgestellt, um agilen Teams einen geeigneten organisatorischen Rahmen für ihre selbstorganisierte Entwicklung und Umsetzung digitaler Geschäftsmodelle im bestehenden Spannungsfeld mit den traditionellen Strukturen des Kernunternehmens bereitstellen zu können. Bemerkenswert ist hier der hohe Stellenwert, welcher der Sicherstellung der Autonomie des Teams und der Entwicklung einer eigenen sinnstiftenden Kultur, welche der hohen intrinsischen Motivation der einzelnen Teammitglieder einen gemeinsamen Boden geben, beigemessen wird.

Der Beitrag weist selbstverständlich auch Limitationen auf. Zum einen ist die Breite der vertieften Einblicke in die realen Probleme von traditionellen Industrieunternehmen bei der Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle auf die vier an dem Forschungsprojekt beteiligten Anwenderunternehmen beschränkt. Dafür bot das dreijährige Verbundprojekt die Möglichkeit eines tiefen Einblicks in die jeweiligen Organisationen und Prozesse, der ansonsten kaum möglich ist. Zudem konnten umgehend passgenaue Lösungen und Konzepte erarbeitet und erprobt werden, die diesen und anderen Industrieunternehmen bei den identifizierten Hürden wertvolle Hilfestellung leisten können. Eine weitere Limitation ist, dass die durchgeführte internationale Online-Umfrage aufgrund ihrer begrenzten Teilnehmerzahl keinen repräsentativen Anspruch erlaubt. Dies ist aber bei international vergleichenden Umfragen fast generell als Defizit anzumerken. Die Online-Umfrage erlaubt aber eine fundierte Einordnung, welche Aspekte für eine gute oder schlechte Position bei der Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle wesentlich sind. Auch die durchgeführte CATI-Umfrage lässt mit ihrer Anzahl von 200 erreichten Teilnehmern keine repräsentativen Schlüsse zu, hierzu wären 1000–1200 Antworten notwendig gewesen. Sie liefert aber ein überaus profundes Bild, wie wichtig die identifizierten Kompetenzen und wie die eigene Ausstattung mit diesen Kompetenzen von einer breiten Stichprobe befragter Unternehmen eingeschätzt werden.

Weitere Forschung könnte zum einen die Analyse der Barrieren vertiefen, warum traditionelle Unternehmen bei der Entwicklung und Umsetzung digitaler Geschäftsmodelle bislang nur schleppend vorankommen. In diesem Kontext wären auch weitere Erfolgsbeispiele, wie Unternehmen diese Herausforderungen erfolgreich gemeistert haben, sowohl für wissenschaftliche Einblicke als auch als Leuchtturm für die Praxis interessant und relevant. Besonders inspirierend könnten Beispiele von Fehlern und den daraus gezogenen Lehren sein (Brenk et al. 2019), da eine positive Fehlerkultur und Lernkultur bei risikoreichen Transformationen unerlässlich ist (Fernandez-Vidal et al. 2022) und das Lernen aus Fehlern allgemein eine unterschätzte Methode eines erfolgreichen Wissenstransfers darstellt.