In der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus stellen die Morde des „Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU)“ eine Zäsur dar. Mit der Selbstenttarnung am 04.11.2011 wurde offenbar, dass die Morde an Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru, Süleyman Taşköprü, Habil Kılıç, Mehmet Turgut, İsmail Yaşar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubaşık, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter von einer rechtsterroristischen Vereinigung verübt worden waren. Diese ist zudem verantwortlich für zwei Nagelbombenanschläge in der Keupstraße und Probsteigasse in Köln sowie für einen Brandanschlag auf das Sunshine Pub in Nürnberg mit jeweils mehreren zum Teil schwer verletzten Personen. Die Vermutung eines rechtsextremen Hintergrunds der Täter:innen äußerten die Angehörigen öffentlich bereits 2006 bei gemeinsamen Demonstrationen in Kassel und Dortmund.Footnote 1 Zuvor hatten jedoch die Ermittlungen mehr als zehn Jahre das Umfeld der Familien der Opfer fokussiert, die Ermordeten kriminalisiert und die Angehörigen durch Verhöre und Verdächtigungen zusätzlich gequält (für die Erfahrung der Betroffenen siehe ausführlicher John 2014).

Bei einer von der Bundesregierung organisierten Gedenkfeier 2012 fasste Semiya Şimşek, die Tochter von Enver Şimşek, ihre Erfahrungen in Worte: „11 Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein“, sagte sie in Bezug auf die Verdächtigungen und Ermittlungen seitens der Behörden, die auch die Familien selbst verunsicherten. Und sie fügte an: „Mein Vater wurde von Neonazis ermordet. Soll mich diese Erkenntnis nun beruhigen? Das Gegenteil ist der Fall“. In Deutschland geboren und aufgewachsen habe sie sich über Integration nie Gedanken gemacht. Aber nach dem Mord an ihrem Vater sei sie sich nicht mehr sicher, ob sie in Deutschland zuhause ist und wie sie sich hier sicher fühlen kann.Footnote 2

Die Angehörigen legten viel Hoffnung in den Prozess am Oberlandesgericht München, der von Mai 2013 an gegen fünf Angeklagte stattfand und bei dem Angehörige und Betroffene als Nebenkläger:innen auftraten (für eine zusammenfassende Betrachtung des Prozesses siehe nsu-watch 2020). Für sie spielte neben der konkreten Verurteilung der Angeklagten auch eine Rolle, warum die Täter:innen unentdeckt bleiben konnten und welche Verantwortung dem Verfassungsschutz dabei zukommt. Es ging ihnen darum, die Strukturen hinter den unmittelbar Angeklagten auszuleuchten und weitere Mitbeteiligte zur Verantwortung zu ziehen. Mit Beweisanträgen versuchte die Nebenklage, den Fokus des Gerichts von der so genannten Trio-These, also der Haupt- oder Alleinverantwortung des so genannten NSU-Kerntrios, auf die unterstützenden Strukturen zu lenken.

Das Urteil, das im Juli 2018 nach fünf Jahren Verhandlung gefällt wurde, bestätigte jedoch genau diese These und ließ viele Fragen offen. Tülin Özüdoğru, die Tochter von Abdurrahim Özüdoğru, ließ von dem Anwalt, der sie und ihre Familie beim Prozess gegen Täter:innen des NSU-Komplexes vertritt, im Rahmen seines Plädoyers einen Brief verlesen, der die folgende Passage enthält „Mein Vater wurde Opfer von Hass und Gewalt, Opfer von Verharmlosung rechter Gewalt“ (nsu-watch 2020, S. 23; zahlreiche Plädoyers der Nebenklage finden sich bei von der Behrens 2018). Gamze Kubaşık, die Tochter von Mehmet Kubaşık, forderte nach der Urteilsverkündung, die Aufarbeitung der Morde müsse weitergehen. Solange es noch Lücken in der Aufklärung gebe, könnten sie und ihre Familie keine Ruhe finden.Footnote 3 Und Semiya Şimşek antwortete auf die Frage, ob sie ein Jahr nach der Urteilsverkündung Abstand gewinnen könne, mit einer Gegenfrage: „Wie sollen wir Abstand gewinnen, wenn wir in den Medien von dem Mord an Walter Lübcke erfahren und unsere Anwältin Drohbriefe von NSU 2.0 bekommt?“Footnote 4

Die Angehörigen der Mordopfer werfen zentrale Fragen auf, für deren Bearbeitung auch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung noch fortgesetzt werden muss. Wie wird Rechtsterror in Deutschland problematisiert bzw. welche Dynamiken der Ent-Problematisierung lassen sich rekonstruieren? Welche Akteur:innen und Institutionen werden dabei wie handlungsmächtig? Wie lassen sich die Kontinuitäten von Rechtsterrorismus und die ideologischen Veränderungen analytisch beschreiben und was bedeutet das für das Umgehen mit Rechtsterror? Nicht zuletzt wird auch die Frage relevant, warum der NSU-Komplex nach dem Urteil am Oberlandesgericht München nur noch wenig gesellschaftliche und politische Aufmerksamkeit erhält und bei aktuellen Anschlägen – wie beispielsweise nach dem Attentat in Halle – verschiedene Akteur:innen von einem „Weckruf“ gesprochen haben, als hätte es die Taten des NSU-Komplexes und die anderer rechtsextremer Strukturen nicht gegeben.

Mit diesem Heft nehmen wir den Jahrestag der Selbstenttarnung zum Anlass, um aktuelle Analysen im Kontext Rechtsterror und NSU-Komplex zur Diskussion zu stellen. Die Beiträge des Schwerpunktheftes fokussieren auf Rechtsterrorismus als gesellschaftliches Phänomen und damit auf unterschiedliche Prozesse der Problematisierung und Ent-Problematisierung rechtsextremer Gewalt und rechten Terrors. Der NSU-Komplex wird dabei als Teil eines Kontinuums rechten Terrors verstanden, das sich bis 1945 zurückverfolgen lässt.

Das Heft beginnt mit einem Interview mit Eyal Weizman von Forensic Architecture. Im Rahmen der Ermittlungen bezüglich der Verstrickungen der politischen Institutionen wie Verfassungsschutz und Polizei in den NSU-Komplex wurde den Angehörigen, ihren Anwält:innen und deren Unterstützer:innen zunehmend deutlich, dass es auf viele Fragen keine Antworten geben würde bzw. bestimmte Fragen erst gar nicht gestellt wurden. Sie beauftragten daher das in London sitzende Institut „Forensic Architecture“, solche Fragen zu stellen. Mit forensischen Methoden berechnete und visualisierte Forensic Architecture die Wahrscheinlichkeit, mit der der frühere Verfassungsschutzbeamte Andreas Temme den Mord an Halit Yozgat im Internetcafé in Kassel nicht gesehen und wahrgenommen haben kann. Eyal Weizman, Direktor von Forensic Architure, leitete das Projekt und spricht im Interview über das Projekt, über Wissenskonstruktionen, über das Verhältnis von Wissen und Beweis, über Verifikationen und über die Frage, wem es obliegt die „Produktionsmittel des Wissens“ in die Hand zu nehmen.

Im Rahmen der Auseinandersetzungen um Rechtsterrorismus und den NSU-Komplex wurde der Fokus zunehmend auf zeitliche Kontinuitäten rechtsextremen Terrors in der Bundesrepublik gelegt. Hierbei zeigen sich Kontinuitäten seit 1945 mit verschiedenen Peaks wie z. B. 1980 und Anfang der 1990er-Jahre (Billstein 2020). Fabian Virchow analysiert in seinem Beitrag diese Kontinuitäten rechtsextremer Gewalt. Ausgehend von deren „instrumenteller Zielsetzung“, also deren angestrebten politischen Zielen, entwickelt er eine analytische Systematisierung der Vielfalt und Vielgestalt rechtsterroristischer Anschläge und stellt dabei nicht nur historische, sondern auch internationale Bezüge her. Die differenzierte und gleichzeitig systematisierende Analyse verweist auf die Leerstellen gesellschaftlicher Problematisierung von Rechtsterrorismus.

Rund 300 Menschen wurden nach bisherigem Kenntnisstand seit 1945 Opfer von rechtsextremer Gewalt. Für die wenigsten dieser Opfer findet bislang öffentliches Gedenken oder Erinnern statt. Gabriele Fischer geht in ihrem Beitrag der Frage nach, warum in Deutschland, wo dem Erinnern ein wichtiger Stellenwert zukommt, Todesopfer rechtsextremer Gewalt nicht Teil des Erinnerungsdiskurses sind. Sie analysiert dies mit einer praxeologischen Perspektive des doing memory an einem Fallbeispiel in Baden-Württemberg. Dabei arbeitet sie heraus, wie Rechtsextremismus als zu lösendes Problem und wie Lösungen als solche konstruiert werden. Dazu gehört, den Mord als solchen möglichst nicht mehr zu thematisieren. Die Wirkungsweisen rechtsextremen Terrors auf die mittel- und unmittelbar Betroffenen werden dabei ausgeblendet. Damit beinhalten Erinnerungspraktiken oder Praktiken des undoing memory mitunter Rassismus oder andere Formen der Diskriminierung.

Der NSU-Komplex war nicht das Ende der Geschichte rechtsextremen Terrors in der Bundesrepublik. Es folgten weitere Anschläge, die gerade hinsichtlich der internationalen Vernetzung über soziale Medien eine räumlich deutlich weitreichendere Wirkung erzielten. Juliane Lang nimmt in ihrem Beitrag den NSU-Komplex als Ausgangspunkt für eine Analyse des gesellschaftlichen Diskurses über rechtsextreme Täter als Einzeltäter – auch über den NSU-Komplex hinaus. Mit geschlechtertheoretischer Perspektive arbeitet sie heraus, wie deren Veranderung als „Sonderlinge am Rande der Gesellschaft“ mit Verweis auf Männlichkeitsvorstellungen vorgenommen wird. Im Widerspruch dazu sieht sie den im Rechtsterror zunehmend verankerten Antifeminismus und die von Tätern in z. B. Halle und München offen inszenierte Männlichkeit. Der Beitrag arbeitet die Bedeutung einer geschlechtertheoretischen Perspektive für die Analyse von aktuellem Rechtsterror heraus, um sowohl dessen Spezifik als auch seine Verwobenheit in gesellschaftliche Auseinandersetzungen hinsichtlich Geschlechterverhältnissen in den Blick nehmen zu können.

Über den thematischen Schwerpunkt hinaus gibt es in dem Heft einen offenen Teil mit zwei Beiträgen. Erkennbare Anknüpfungspunkte zur Thematik des Schwerpunktes enthält der Beitrag von Volker Weiß, der sich mit Verschwörungsglauben in der Pandemie auseinandersetzt. Der Text basiert auf einem Vortrag in der Reihe „Andere als Gefahr – die Gefährdung des Anderen. Die Pandemie als gesellschaftliches Problem“, die von der DGS-Sektion Soziale Probleme und soziale Kontrolle ausgerichtet wird. Volker Weiß geht darin der Frage nach, wie Verschwörungsideologien in aktuellen Protesten gegen und in der Kritik an Corona-Politik wirkmächtig werden und welche Anschlussstellen zu rechten bis rechtsextremen Ideologien und Akteur:innen sich hier zeigen lassen.

In dem zweiten Beitrag des offenen Teils setzt sich Franz Zahradnik mit den Stigmatisierungserfahrungen strafrechtlich verurteilter Männer im Reintegrationsprozess auseinander. Basierend auf einer qualitativen Längsschnittuntersuchung in der Schweiz betrachtet er die voraussetzungsvollen Bewältigungsstrategien im Umgang mit Stigmatisierungserfahrungen in unterschiedlichen sozialen Kontexten und ihre Korrespondenz mit Reintegrationsverläufen.