Gerhard Lehmbruch verstarb am 12. Juni 2022 in Tübingen. Mit ihm ging einer der Letzten der Gründergeneration der deutschen Politikwissenschaft von uns. Sein wissenschaftliches Werk wird in diesem Beitrag gewürdigt. Der Bogen von Lehmbruchs Forschungen reicht von der Ideengeschichte in seiner Auseinandersetzung mit dem Marxismus-Leninismus über eine tiefenscharfe Analyse der Christdemokratie in der Vierten Republik Frankreichs in seiner Dissertation von 1962 bis zu bahnbrechenden Beiträgen zur vergleichenden Politikwissenschaft und zum Zusammenwirken von Bundesstaat und Parteienwettbewerb in Deutschland. Hinzu kommen luzide Analysen der deutschen Vereinigungspolitik nach 1990 und ihrer Transformationsdynamik. Die in den 70er-Jahren aufkommende, alsbald weltweit geführte Debatte über neue korporatistische Staat-Verbände-Beziehungen geht ebenfalls auf Forschungsbeiträge von Lehmbruch zurück. Dabei betont er die „Konzertierung“ staatlicher und gesellschaftlicher Verbandsakteure und deren Bedeutung für die Steuerung entwickelter Marktwirtschaften. Insgesamt bewegt sich Lehmbruchs Lebenswerk im Schnittfeld von vergleichender politischer Systemanalyse und „Comparative Political Economy“. Zu beiden Themenkreisen hat er innovative Beiträge verfasst und den Forschungsstand erweiternde Begriffe eingeführt. Seine Forschungsbeiträge – oft waren es zunächst auf internationalen Konferenzen gehaltene Vorträge – fanden national und international breite Resonanz.

Lehmbruchs WerkFootnote 1 umfasst acht Monographien, unter ihnen 1967 die Proporzdemokratie (Lehmbruch 1967b), 1976 die Schrift Parteienwettbewerb im Bundesstaat (Lehmbruch 1976), seine Einführung in die Politikwissenschaft von 1967 (Lehmbruch 1967a), die 2016 publizierte Dissertation von 1962 (Lehmbruch 2016) und 2021 die Erinnerungen eines „Fünfundvierzigers“ (Lehmbruch 2021), ferner einen Band mit seinen Studien zur Verhandlungsdemokratie (Lehmbruch 2003) sowie sieben Herausgeberschaften, darunter zwei zusammen mit Philippe Schmitter editierte, in mehrere Sprachen übersetzte Sammelbände zum Korporatismus (Schmitter und Lehmbruch 1979; Lehmbruch und Schmitter 1982). Hinzu kommen rund 300 Aufsätze in Fachzeitschriften und Sammelbänden. Sein Werk schließt Abhandlungen zur Geschichte der Politikwissenschaft ein, darunter die tiefenscharfe Würdigung des früh verstorbenen Frieder Naschold (Lehmbruch 2000a) und ausdrucksstarke Portraits von Theodor Eschenburg (Lehmbruch 1999a, 2002b, 2013).

Lehmbruchs richtungweisende, bis heute einflussreichen Forschungsbeiträge, seine pointierten Analysen der Verhandlungsdemokratie in Deutschland, Österreich, der Schweiz und den Benelux-Staaten sowie Begriffsschöpfungen wie Proporzdemokratie, Liberaler Korporatismus und Administrative Interessenvermittlung machen ihn zu einem herausragenden Vertreter der Vergleichenden Politikwissenschaft. Das bezeugen die Berufungen auf Professuren – 1973 bis 1978 als Nachfolger von Theodor Eschenburg an der Universität Tübingen und 1978 bis zur Emeritierung 1996 an der Universität Konstanz – und akademische Ehrungen wie der Lifetime Achievement Award des European Consortium for Political Research, die Verleihung des Theodor Eschenburg-Preises der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft sowie Ehrenmitgliedschaften der Schweizerischen Vereinigung für Politische Wissenschaft und der Österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft. Als Gastwissenschaftler war Lehmbruch in Zürich, New York, Washington und Tokio tätig. Von 1988 bis 1991 war er stellvertretender Vorsitzender der International Political Science Association und von 1991 bis 1994 Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft. Zu Lehmbruchs Vita gehören drei große Forschungsprojekte: das Korporatismus-Projekt (VW-Stiftung), der Neoliberale Strategiewechsel (VW-Stiftung) und Verwaltung im Wandel (im gleichnamigen DFG-SFB 221).

1 Nicht-majoritäre Regelung politischer Konflikte als Lebensthema

Lehmbruchs Lebensthema war die nicht-majoritäre, nicht-kompetitive Regelung politischer Konflikte, deren historische Ursprünge und Folgen für die Politikentwicklung. Davon zeugen erstmals sein 1967 veröffentlichtes Bändchen Proporzdemokratie und einige Tagungsbeiträge. Mit ihnen lenkte er die Aufmerksamkeit auf Kompromisspraktiken des Regierens, die im Spannungsfeld von Wettbewerb und Kooperation historisch entstanden sind.

Diese Variante politischer Konfliktregelung unterscheidet sich grundlegend vom Begriff der Demokratie als Mehrheitsherrschaft. Bis in die 1960er-Jahre galt das Westminster-Modell der allein verantwortlichen Mehrheitsregierung als Idealtypus parlamentarischer Demokratie. Lehmbruch hat sie um die „Proporzdemokratie“ ergänzt, ein eigenständiger politischer Systemtypus, den er später als „Konkordanzdemokratie“ und in seiner allgemeinsten Form als „Verhandlungsdemokratie“ bezeichnet hat. In der von politischer Machtteilung und Verhandlungszwängen geprägten nicht-majoritären Regierungsform tritt das Wettbewerbsprinzip zurück zugunsten gütlichen Einvernehmens. Über Parteienlager hinweg praktizierte politische Tauschgeschäfte, übergroße Regierungskoalitionen, Proporzregeln bei der Besetzung politischer Ämter und eine ausgeprägte Verständigungs- und Kooperationsbereitschaft bilden den Kontrast zum reinen Wettbewerb und Winner-takes-all-Prinzip, die im Westminster-Modell dominieren.

In Konkordanzdemokratien lebt eine politische Streitschlichtung weiter, die Lehmbruch als historisch informierter und theologisch geschulter Beobachter genau kennt: die von paritätischer Beteiligung und Interessenberücksichtigung geprägten Konfliktregelungstechniken der Religionsfriedenbeschlüsse des 17. Jahrhunderts. Auf sie hat er die in den politischen Systemen Deutschlands, der Schweiz, Österreichs und der Niederlande institutionalisierten Kompromiss- und Verhandlungspraktiken zurückgeführt.

Lehmbruch entwickelte das Konzept der „Proporzdemokratie“ am Beispiel Österreichs und der Schweiz. Zeitgleich und unabhängig davon hatte Arend Lijphart am Fall Niederlande das Konzept einer „Konsozialen Demokratie“ (consociational democracy) begründet und später zur vergleichenden Erforschung der „Mehrheits“- und der „Konsensusdemokratie“ erweitert (Lijphart 2012). Beide, Lehmbruch und Lijphart, hatten die Parallelen zwischen ihren Analysen erstmals 1967 auf der Jahrestagung der International Political Science Association in Brüssel festgestellt.

Während Ljiphart die Konsensusdemokratie funktionalistisch mit Erfordernissen des Regierens in kulturell gespaltenen Gesellschaften begründete, hatte Lehmbruch vor allem historisch entstandene Konfliktregelungsmuster im Blick. Lijpharts „Betonung der Rolle politischer Eliten bei der Entstehung von konkordanzdemokratischen Arrangements“ (Lehmbruch 1997, S. 199) wertete er als versteckten Voluntarismus, der die Bedeutung pfadabhängigen institutionellen Lernens über lange Zeiträume ausblendet.

Lehmbruchs auf institutionelles Lernen und daraus erwachsende politische Handlungsrepertoires abhebender Erklärungsansatz ist einer historisch-genetischen Methodologie verpflichtet. In ihr wird die Herausbildung von handlungsleitenden politischen Strukturen nicht als Designvorgang, sondern als evolutionärer, von historischen Schlüsselereignissen ausgehender Lernprozess nachgezeichnet. Die so entstandenen politischen Institutionen markieren stabile Entwicklungspfade. Sie umfassen die Wahrnehmung von Interessen und Problemlagen, prägen politische Motive und Handlungsrepertoires, gestalten soziale und ökonomische Beziehungen und beeinflussen politischen Wandel, auf den sie fördernd oder hemmend einwirken.

2 Parteienwettbewerb im Bundesstaat

Konfliktregelung durch Verhandeln gibt es nicht nur in klassischen Konkordanzdemokratien, sondern auch in der Bundesrepublik Deutschland, dem Fall des „semi“- oder „quasi-consociationalism“ (Lehmbruch 2002a, S. 175). Dort kommt es zu einem Mit- und Gegeneinander von majoritären und nicht-majoritären Regelsystemen, wie insbesondere Lehmbruchs Parteienwettbewerb im Bundesstaat zeigt – 1976 erstmals, 1998 in der zweiten und 2000 in der dritten Auflage veröffentlicht (Lehmbruch 2000b). Dieses Werk entfaltet eine historisch-institutionalistische Analyse des Parteienwettbewerbs im deutschen Bundesstaat und erklärt zugleich die Krise, die mit dem Regierungswechsel zur SPD/FDP-Koalition 1969 aufbricht: Strukturreformen werden weitgehend blockiert. Die Ursache verortet Lehmbruch weder im Primat der kapitalistischen Ökonomie und den damit gesetzten Handlungsschranken des Staates noch in der hochgradigen „Politikverflechtung“ des deutschen Bundesstaates. Zentral ist vielmehr ein „Strukturbruch im politischen System“ (Lehmbruch 2000b, S. 9). Entwicklungsgeschichtliche „Verwerfungen“ (S. 9) haben ihn bedingt: Parteiensystem und Bundesstaat sind zunehmend von „tendenziell gegenläufigen Handlungslogiken und Entscheidungsregeln bestimmt“ und können sich „wechselseitig lahmlegen“ (S. 9). Im Parteiensystem gelten das konkurrenzdemokratische Mehrheitsprinzip und die „Polarisierung“, weil CDU/CSU wie SPD „die Machtausübung unter Ausschluß des anderen anstrebt“ (S. 37). Im unitarischen deutschen Bundesstaat hingegen erfordert die unter Verhandlungszwang stehende Konfliktregelung das gütliche Arrangement aller beteiligten Exekutiven. Letztlich sind alle in Bund und Ländern regierenden Parteien an der bundesstaatlichen Politikentwicklung beteiligt und insofern – wenn sie politisch etwas bewegen möchten – zur Kooperation gezwungen. Deutschlands hohe „potentielle Inkongruenz“ (S. 19) zwischen den Arenen Parteienwettbewerb und Bundesstaat erzeugt im ungünstigsten Fall Entscheidungsblockaden, mindestens erhebliche Steuerungsmängel.

Allerdings schließt dies „einschneidende Reformen“ nicht aus (S. 179) – wovon allein der Auf- und Ausbau des Sozialstaates zeugt. Zudem haben der Aufstieg der Grünen und das Hinzukommen der Linkspartei zwar die „Verwerfungen zwischen einem polarisierten Parteienwettbewerb und einem föderativen System mit starken Verhandlungszwängen … abgeschwächt“ (Lehmbruch 2015, S. 359). Nun ist ein Vielparteiensystem anstelle eines um zwei Lager gruppierten Systems entstanden. Die zentrale Koordinationsfunktion der Parteien im Bundesstaat und die Spannung zwischen Parteienwettbewerb und verhandlungsbasierten Föderalismus werden davon allerdings nicht berührt. Regierung und Opposition neigen insgesamt zur „Wahl suboptimaler Konfrontationsstrategien“ (Lehmbruch 2000b, S. 178). Doch mit ihnen können vor allem „Strukturreformen mit hohem Konsensbedarf“ nicht durchgesetzt werden (S. 178).

3 „Liberaler Korporatismus“

Die politische Regulierung von Gesellschaften mit scharfen ökonomischen Spaltungen – Arbeit versus Kapital – und kooperativen Mustern, Sozialpartnerschaft – spielte insbesondere seit Mitte der 1970er-Jahre eine zentrale Rolle in Lehmbruchs Erkundung der institutionalisierten freiwilligen Kooperation und Koordination von Staat und gegnerischen Verbänden vor allem bei der Formulierung und Ausführung gesamtgesellschaftlich wichtiger wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheidungen. „Liberal Corporatism“ war der Schlüsselbegriff, „liberaler Korporatismus“ oder „Neokorporatismus“, so die deutschsprachigen Varianten. Auch hier knüpft Lehmbruch kritisch an eine stimulierende Vorgabe von Theodor Eschenburg an. Der hatte in der Schrift „Herrschaft der Verbände?“ schon auf die Institutionalisierung von lehensartigen Staat-Verbände-Beziehungen aufmerksam gemacht (Eschenburg 1963). Lehmbruch geht über diesen Ansatz und die am pressure group-Modell ausgerichtete Verbändeforschung hinaus. Nicht länger ging es um Verbände und ihren Einfluss auf die staatliche Politik, sondern um Verbändesysteme, um international vergleichende Betrachtung und um steuerungstheoretisch wie organisationsanalytisch ausgerichtete Perspektiven. Hierbei fand die Differenzierung zwischen pluralistischen Staat-Verbände-Beziehungen und korporatistischen Arrangements, in denen die Verbände in die Politikformulierung integriert werden, besondere Aufmerksamkeit.Footnote 2 Hiermit gelang Lehmbruch ein Brückenschlag von der vergleichenden Regierungslehre zur Analyse von Staatstätigkeit und zur Politischen Ökonomie. „Politische Ökonomie“ versteht er – im Unterschied zur marxistischen Kapitalismustheorie und anders als der Hauptstrom der Wirtschaftswissenschaften – als historisch-institutionalistisch fundierte, vergleichende Erkundung von wirtschaftspolitischen Regulierungen, die je nach Land und Epoche unterschiedliche Gestalt annehmen.

4 Administrative Interessenvermittlung

Ein wiederkehrendes Thema in Lehmbruchs Œuvre sind die Steuerungsbedürfnisse des Interventionsstaates vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Interessenvielfalt. Um handlungsfähg zu bleiben, sind Politik und Verwaltung auf „institutionalisierte Beziehungen zu gesellschaftlichen Verbänden zunehmend angewiesen“ (Lehmbruch 1987, S. 14). Dafür taugt das pressure group-Modell der pluralistischen Verbändetheorie nicht. In ihr erscheint der Staat nur als Adressat von Gruppendruck. In seinem Aufsatz „Administrative Interessenvermittlung“ von 1987 erkundet Lehmbruch die Bedingungen, unter welchen ein Staat „autonom“ ist, das heißt, „Ziele formulieren und verfolgen kann, die nicht nur die Forderungen und Interessen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen widerspiegeln“ (S. 14).

Die relative Autonomie staatlicher Politikentwicklung hatte bereits die neomarxistische Staatsanalyse der 1970er-Jahre beschäftigt. Sie war Mitte der 1980er-Jahre mit der Forderung „Bringing the state back in“ (Evans et al. 1985) erneut prominent geworden. Daran knüpft Lehmbruchs „Administrative Interessenvermittlung“ (Lehmbruch 1987) an, unter der Annahme, dass eine zunehmend interventionistische Wirtschafts- und Gesellschaftssteuerung die Ausdifferenzierung des Staatsapparats sowie die Ausbildung von Verhandlungsmechanismen mit betroffenen Steuerungsadressaten voraussetzt. Die Frage ist dann, wie Verhandlungssysteme zwischen Staat und organisierten Interessen der „Autonomie“ des Staates zugutekommen. Sie lenkt den Blick auf politisch-administrative Strategien der Strukturierung und Beeinflussung gesellschaftlicher Interessengruppen, auf staatlicherseits eingerichtete Beteiligungsinstitutionen, konsultative Gremien und Verfahren, Kommissionen, Räte und „Gipfelrunden“. Dabei betont Lehmbruch, dass die staatliche Interpenetration der Organisationsgesellschaft nicht beliebig gestaltet werden kann, sondern auf historische Weichenstellungen zurückgeht und deshalb im internationalen Vergleich unterschiedliche institutionelle Pfadabhängigkeiten aufweist. Übertragungen von einem Fall zum anderen sind riskant, wie Lehmbruchs Erklärung der neoliberalen Wende in den USA zeigt. Die dort stark fragmentierte Verwaltung, deren institutionelle Autonomie gegenüber einer hochgradig fragmentierten Interessenstruktur schwach ist, erschwert und delegitimiert staatliche Steuerungsansätze. Dies begünstigt Forderungen zum Umbau von Verwaltungsfunktionen, wie sie in der von den USA ausgehenden Deregulierungsdebatte der 1980er-Jahre erhoben wurden. Solche Forderungen auf Länder mit ausgeprägten Traditionen administrativer Interessenvermittlung – namentlich Deutschland, Frankreich, Schweden – übertragen zu wollen, führt zu Verwerfungen, weil sie mit dortigen Praktiken der Interessenvermittlung nicht kompatibel sind beziehungsweise ein institutionelles Zerstörungswerk in Gang setzen, das die politische Steuerungsfähigkeit in diesen Ländern herabsetzt.

5 Die letzten Jahrzehnte

Nach seiner Emeritierung 1996 hat Gerhard Lehmbruch weiter an seinen Forschungsthemen gearbeitet. Es entstand ein Alterswerk, in dem frühere Argumentationsgänge vertieft, ältere Aufsätze neu zusammengestellt und neue Themen und Perspektiven hinzugefügt werden. Davon künden insbesondere Aufsätze zur Herausbildung des koordinierten Kapitalismus in Deutschland und Japan im Rahmen der Varieties of Capitalism-Debatte (Lehmbruch 2001, 2006). An die Korporatismusforschung anknüpfend erweitert er sein Lebensthema des Zusammenspiels von Wettbewerb und Kooperation auf das Forschungsfeld der Comparative Political Economy. Auch Beiträge zur ländervergleichenden Forstgovernance fallen in diesen Themenkreis (Lehmbruch und Lehmbruch 2012). Sie zeigen, wie politische Institutionen, nationale Verwaltungsdiskurse und Institutionentransfers die Vielfalt kapitalistischer Koordinations- und Steuerungstypen zwischen Markt und Staat begründen.

Die historischen Ursprünge der Verhandlungsdemokratie, des deutschen Föderalismus und des westeuropäischen Korporatismus ist ein weiterer prominenter Themenkomplex im Alterswerk (Lehmbruch 1996, 1999b, 20,22,a, c, 2004, 2019; Benz und Lehmbruch 2002). Schließlich verdanken wir der 2016 von Thomas C. Ertmann und Philip Manow herausgegebenen Dissertation von 1962 neue Einblicke in Lehmbruchs Denk- und Arbeitsweise. Darin werden akribische historische Detailstudien mit Theorieelementen und methodologisch reflektierten Überlegungen verwoben (Lehmbruch 2016). Im Kern geht es um das Verhältnis von Ideologie, Organisation und Interessenartikulation im politischen Katholizismus Frankreichs. Auch in seinen 2021 erschienenen Jugenderinnerungen findet sich diese Vorgehensweise. Auf 440 Seiten, mit 452 Fußnoten, einem umfangreichen Namens- und Ortsregister und wegen der Verknüpfung seiner Familiengeschichte mit den Konfliktlinien der National‑, Kultur- und Religionsgeschichte gedieh die Autobiographie zu einem veritablen Forschungsbeitrag (Lehmbruch 2021).

6 Wissenschaftliche Vorgehensweise – Prägungen

„Bei Theodor Eschenburg habe ich gelernt, auf die entwicklungsgeschichtliche Dimension einer politikwissenschaftlichen Strukturanalyse zu achten, die Institutionen als Bedingungsfaktoren politischen Handelns begreift“, so erläutert Gerhard Lehmbruch in dem Parteienwettbewerb im Bundesstaat seine Vorgehensweise. Er fügte hinzu, dass man dies heute als „Historical Institutionalism“ bezeichne. Doch der vor allem in der angloamerikanischen Forschung als Neuerung beschworene Ansatz ist nichts Neues, gibt der im europäischen sozialwissenschaftlichen und historischen Diskurs bewanderte Lehmbruch zu bedenken, sondern knüpft an „bewährte Forschungstraditionen einer historisch fundierten Sozialwissenschaft“ an, wie die Werke von Max Weber, Otto Hintze und anderen zeigen. Ferner solle der Historische Institutionalismus nicht als Alternative zur Theorie der rationalen Wahl gedacht werden. Der Historische Institutionalismus und der Rational Choice-Institutionalismus seien insofern komplementär, „als die Entwicklungsgeschichte von institutionellen Arrangements aus kollektiven Lernprozessen besteht, in denen sich rationales Wahlhandeln im Rahmen jener Begrenzungen kollektiver Rationalität vollzieht, die uns die neuere Organisationsforschung zu verstehen gelehrt hat“ (Lehmbruch 2000b, S. 200).

Lehmbruchs Werk steht beispielhaft für eine eigenständige, lernoffene kritische Verarbeitung und Weiterentwicklung von prägenden Lehrern und Lehrgebäuden. Theodor Eschenburg ist der erste Lehrer des politikwissenschaftlich „Spätberufenen“, wie Lehmbruch, Jahrgang 1928, mit Blick darauf sagt, dass er im Alter von 25 Jahren, als fertig ausgebildeter Theologiestudent, bei Eschenburg in Tübingen zunächst die Rolle eines „Hilfsassistenten“ bekommt, so nannte man damals die geprüfte Wissenschaftliche Hilfskraft. Bei Eschenburg lernt Lehmbruch „Institutionen als Schranken für strategische Rationalität“ zu begreifen. Das ist viel mehr als traditionelle Institutionenkunde. Eschenburg sensibilisiert Lehmbruch zudem für entwicklungsgeschichtliche Betrachtung und regt seine Schüler an, über die Perspektiven des Lehrers hinaus zu blicken. Die Differenz zwischen Eschenburgs und Lehmbruchs Sicht auf die Demokratie ist ein Beispiel. Eschenburg befürwortet, wie viele Beobachter in den 50er-Jahren, die Konkurrenzdemokratie Schumpeter’scher und britischer Art. Doch diesen Blick auf die Demokratie bürstet Lehmbruch alsbald mit seinem Fokus auf kulturell heterogene Nationalstaaten „gegen den Strich“. Als lebensfähiges Demokratiemodell kommt in kulturell fragmentierten Staaten, wie im Falle tiefer religiöser und sprachlicher Spaltung, im Grundsatz nur ein nicht-majoritäres, machtteiliges Arrangement in Frage, insbesondere die „Konkordanzdemokratie“ oder „Verhandlungsdemokratie“:

Seine wissenschaftliche Sozialisation, so hat Gerhard Lehmbruch erläutert, wurde geprägt durch die Schulung in der Exegese von Texten, durch sachkundige, entwicklungsgeschichtliche Deutung von Institutionen sowie das Lernen und Anwenden des Vergleichs. Und seine politische Sozialisation ist geformt vom Erleben tiefer religiöser und sprachlicher Konflikte und in zunehmendem Maße seit 1933 auch durch die terroristische Herrschaft im NS-Staat.

An der akademischen Sozialisation Lehmbruchs wirkt vieles mit. Die fundierte Ausbildung in der Theologie kommt ihm zugute, später die Formung durch Eschenburg, sodann der Einfluss von sozialwissenschaftlich geschulten Historikern, zunächst beispielsweise Hans Mommsen und Erich Gruner, später auch Hans-Ulrich Wehler, dessen Einbau der Korporatismustheorie in den Band 3 der Wehler’schen Gesellschaftsgeschichte Deutschlands Lehmbruch mit großer Zufriedenheit registriert. Die intellektuelle Neugier führt Lehmbruch früh zu wissenschaftlicher Internationalisierung. Er rezipiert Beiträge der französischen Politikwissenschaft und Soziologie. Maurice Duvergers Parteienforschung und Michel Croziers Bürokratiesoziologie beeindrucken ihn. Hinzu kommt die Prägung durch die neuere angloamerikanische Politikwissenschaft. Vor allem die Comparative Politics und die Politische Systemanalyse haben es ihm angetan. Von ihnen übernimmt Lehmbruch Begriffe, Methoden und Hypothesen der strukturell-funktionalen, am Input-Output-Modell orientierten Komparatistik einschließlich der Berücksichtigung politisch-kultureller Variablen. Das ungewöhnlich reichhaltige Begriffs‑, Theorien- und Methodenwerkzeug wird der historisch-institutionalistischen Demokratieforschung und ihrer Präsentation in der Lehre zuteil. Wer Lehmbruchs Werk auf ihn prägende Lehrgebäude befragt, wird zudem in der Soziologie, vor allem der Organisationssoziologie und der Industrial Relations-Forschung fündig, überdies in der sozialwissenschaftlich orientierten Geschichtswissenschaft. Ferner spielt die empirisch orientierte Politische Ökonomie seit den 70er-Jahren eine wichtige Rolle in Lehmbruchs politikwissenschaftlichem Werk. Zur Herausforderung – auch in der Lehre – wird überdies der politisch-ökonomische Diskurs der Neomarxisten, wie Nicos Poulantzas’ Pouvoir politique et classes sociales (1968) und die soziologisch-politikwissenschaftliche Fortsetzung der Kritischen Theorie unter anderem bei Claus Offe. Dieser Diskurs regte Lehmbruch, der immer um die relative Autonomie des Politischen wusste, dazu an, Fragen der Politischen Ökonomie auf politikwissenschaftlich-komparatistischer Grundlage ins Visier zu nehmen.