Solidarität ist ein zentraler Wert im Prozess der europäischen Integration. So sprach bereits Robert Schumann, einer der Gründerväter der späteren Europäischen Union (EU) davon, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die Gemeinschaft der europäischen Staaten auf einer konkreten „Solidarität der Tat“ (im franz. Orig.: „une solidarité de fait“) gegründet werden müsse. Wie weitsichtig diese Einschätzung war, zeigt sich gerade in Zeiten der Krise, von denen die EU in den vergangenen Jahren einige überstehen musste: die Eurokrise, die „Flüchtlingskrise“, aber auch neuere krisenhafte Entwicklungen, wie etwa der Einzug rechtspopulistischer und EU-feindlicher Parteien in das Europäische Parlament, eine generelle Rückbesinnung auf den Nationalstaat (der Brexit ist hiervon der wohl deutlichste Ausdruck) und unübersehbare Erosionstendenzen der Demokratie in einigen der Mitgliedstaaten. Alle diese Krisen zeichnen sich nicht zuletzt dadurch aus, dass Solidarität hierbei keine tragende Rolle spielt und gegenüber egoistischem und staatszentriertem Handeln ins Hintertreffen gerät. Auch die Reaktionen der EU-Mitgliedstaaten auf die Covid-19-Pandemie bilden hier keine Ausnahme und haben das z. T. eklatante Fehlen von Solidarität (zumindest in der Anfangszeit der Pandemie) offensichtlich gemacht, zumal in einer Situation, in der solidarisches Handeln äußerst gefragt gewesen wäre. Zugleich ist in allen diesen Krisen eine vermehrte und zum Teil vehemente Bezugnahme auf den Begriff der Solidarität, gerade auch in politischen Verlautbarungen, zu vernehmen.

Aline Bartenstein, die Autorin des vorliegenden Bandes, nimmt sich vor diesem Hintergrund mit ihrem Band „The Concept of Solidarity“ einem ausgesprochen wichtigen und zugleich zeitgemäßen Thema an – nicht nur der politikwissenschaftlichen Forschung, sondern insbesondere auch der Europaforschung. Der Fokus der Studie liegt hierbei neben der begrifflichen Bestimmung von „Solidarität“ vor allem auf der Energiepolitik der EU, wie der Untertitel der Arbeit („Energy Policy in the European Union“) bereits zeigt.

In insgesamt fünf übergeordneten Kapiteln befasst sich Bartenstein zunächst mit der wechselhaften und durchaus uneindeutigen Begriffsbedeutung europäischer Solidarität (Kap. 1). Daraufhin erläutert die Autorin den Rahmen ihrer an späterer Stelle folgenden empirischen Untersuchung. Hierbei geht sie zunächst auf die begrifflichen und historischen Ursprünge des Begriffs der Solidarität in der EU zurück, um daran anschließend eine eigene Definition zu formulieren, die in einer weiten Fassung der Rational-Choice-Theorie unter Einbeziehung der Rolle von Normen fundiert wird (Kap. 2).

Im Fokus steht hierbei jedoch eine bestimmte Ebene, nämlich die der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten der EU. Weniger jedoch wird auf Formen transnationaler oder interpersoneller Solidarität abgestellt, auch wenn diese durchaus Berücksichtigung in der historisch-konzeptuellen Herleitung des Begriffs und auch der abschließenden begrifflichen Festlegung finden. Solidarität, so Bartensteins Definition, „drückt sich in der gegenseitigen Unterstützung innerhalb einer bestimmten Gruppe aus, die ein Gemeinschaftsgefühl teilt. Die Gruppenmitglieder stimmen gemeinsamen Zielen zu, die durch gemeinsame Anstrengungen und Einhaltungszusicherung erreicht werden können“ (S. 86 f., Übersetzung AG). Auf dieser weit gefassten definitorischen Grundlage, die zugleich das „Analysewerkzeug“ (S. 86) der Arbeit bildet, wendet sich die Autorin schließlich dem Neofunktionalismus zu, also einem „Klassiker“ der Integrationstheorie, und hier insbesondere dem Konzept des Spillovers in seiner über die Jahre immer weiter ausdifferenzierten Typologie (S. 90 ff.). Ziel ist es hierbei, vor allem Hypothesen aus der Theorie abzuleiten und Variablen zu operationalisieren (S. 96 ff.), die sodann mittels Process-Tracing und der Identifikation „kausaler Mechanismen“ (S. 108 ff.) anhand einer Reihe von Legislativakten im Bereich der Energiepolitik untersucht werden. Neben den einschlägigen politischen und rechtlichen Dokumenten wird hierbei auch eine Reihe von im Zeitraum von Juli bis September 2020 geführten Interviews mit Expertinnen und Experten, vor allem der Kommission und des Parlaments, einbezogen und ausgewertet.

In dem nun folgenden empirisch-analytischen Teil der Abhandlung wird zunächst auf das Prinzip der Solidarität im Kontext der Energiepolitik, aber vor allem auch auf die rechtlichen Normierungen der EU in diesem Bereich eingegangen. Auch hier werden – und dies kann durchaus als ein Schwerpunkt der Arbeit gesehen werden – aktuelle Entwicklungen der Energiepolitik, insbesondere im Bereich der Energiegewinnung aus Erdgas, in einen weiteren Entwicklungszusammenhang gestellt, wobei verschiedene Entwicklungsetappen zwischen den Jahren 2005 und 2019 Berücksichtigung finden (Kap. 3).

Kenntnisreich wendet sich die Autorin daraufhin dem Sekundärrecht der EU zu, um die Frage zu klären, welche Formen bzw. Elemente von Solidarität sich hier nachweisen lassen. In insgesamt vier größeren Fallstudien wird dabei vor allem der Frage nachgegangen, ob sich ein Typus der „institutionalisierten“ oder aber der „deklarativen“ Solidarität finden lässt (Kap. 4).

Der Band schließt mit einer kondensierten, aber präzisen Schlussbetrachtung, die noch einmal auf die theoretischen Grundlagen des verwendeten Solidaritätsbegriffs rekurriert, hauptsächlich jedoch auch die Ergebnisse der qualitativ-empirischen Untersuchung herausstellt und auf weitere Forschungsperspektiven eingeht (Kap. 5).

Mit dem von Aline Bartenstein verfassten Band liegt eine umfangreiche, handwerklich sorgsam ausgearbeitete und vor allem die Debatte zum Stand der Solidarität in der Europäischen Union voranbringende Studie vor. Die Struktur der Abhandlung ist genauso überzeugend wie der methodische Zugang und die einzelnen Schritte, über die die Argumentation zunehmend verdichtet wird. Besonders gelungen ist hierbei nicht nur die umfassende Herleitung des Solidaritätsbegriffs, die auf einer Vielzahl von Definitionen und Bestimmungsversuchen beruht und die die Autorin im Anhang des Bandes noch einmal übersichtlich tabellarisch zusammenfasst (Annex 1). Aufschlussreich ist auch die empirische Untersuchung des Gegenstandsbereichs, die nicht nur vertiefte Einblicke in die Bedeutung von Solidarität in der politischen Praxis der EU bietet, sondern auch neue Erkenntnisse mit Blick auf den immer wichtiger werdenden Bereich der europäischen Energiepolitik. Gerade diese Verzahnung von Theorie und Praxis macht „The Concept of Solidarity“ besonders lesenswert und hält Einsichten bereit, die bei einer isolierten Betrachtung des Solidaritätsbegriffs oder aber einer rein empirischen Erhebung der Verwendung des Begriffs oder seiner inhaltlichen Elemente – etwa im Rahmen eines fragebogengestützten quantitativen Interviewverfahrens – im Dunkeln bleiben müssten.

Bartenstein gelingt es hierbei die unterschiedlichen theoretischen wie auch empirischen Bausteine ihrer Studie geschickt miteinander zu verweben und ein Gesamtbild entstehen zu lassen, das zentrale Elemente von Solidarität herausstellt und in ihrer Bedeutung für den Integrationsprozess greifbar macht. Die Autorin selbst stellt dabei drei zentrale Charakteristika von Solidarität heraus, nämlich, (1.) Gruppenzusammenhalt („group cohesion“), (2.) Gegenseitigkeit und Umsetzungsregeln („reciprocity and rules for implementation“) und (3.) Monitoring und Eigenverantwortung („monitoring and self-responsibility“) (S. 253). Auch wenn der/die kritische Leser/-in bemängeln mag, dass die Anwendung der von Bartenstein formulierten Ausgangsdefinitionen als „Analysewerkzeug“ (S. 86) doch etwas weitreichend erscheint und einer kritischeren Reflexion bedurft hätte, wird dadurch doch eine deutlich differenzierte Einschätzung der Rolle von Solidarität im Integrationsprozess möglich. So lassen sich anhand der unterschiedlichen Dimensionen von Solidarität Schwachpunkte, aber auch zentrale Entwicklungsmomente ausmachen, die die Autorin im Schluss dazu veranlassen, das Bestehen eines institutionalisierten Prinzips der Solidarität und seine Ausgestaltung im Rahmen der politisch-rechtlichen Prozesse der EU anzunehmen. Dieser Schluss ist auch insofern bedeutsam, als er der allgemeinen Wahrnehmung einer Werteerosion entgegenzustehen scheint, die sich mit Blick auf die desintegrativen Momente innerhalb der EU nicht ohne Weiteres von der Hand weisen lässt.

Hervorzuheben ist ferner auch der konstruktive Forschungsansatz, den Bartenstein in ihrer Arbeit entwickelt und der auf einen anwendungsbezogenen Solidaritätsbegriff abstellt, diesen also nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs betrachtet, sondern zugleich auch in der politischen Praxis nachzuweisen versucht. Dies wird gerade im Bereich des Sekundärrechts der EU gezeigt, in dem Solidarität sowohl als „Versicherungsmechanismus“, aber auch als „Verhaltensnorm“ (S. 255) identifiziert wird. Als ein Schwachpunkt der Arbeit mag allenfalls eine gewisse theoretische Engführung gesehen werden, zumal ein Rationalitätsmodell zugrunde gelegt wird, dass Solidarität vor allem in seinem individuellen und gesellschaftlichen Nutzen begründet, weniger jedoch als eine intrinsisch motivierte soziale Institutionen versteht, die auch ohne Kosten-Nutzen-Erwartungen und Akteursinteressen auskommen kann. Die Verwendung des Neofunktionalismus als erkenntnisleitende Theorie, die diese Akteurs- und Rationalitätsannahme teilt, ist vor diesem Hintergrund zwar durchaus konsequent, doch hätte ein erweitertes Solidaritätsverständnis, das stärker auf die soziale Dimension des Begriffs rekurriert, weitere wertvolle Einsichten zutage fördern können, die aus der Perspektive von „Rational Choice“ und funktionaler Spillover-Effekte notwendigerweise verdeckt bleiben müssen. Vor dem Hintergrund des zugrunde gelegten Forschungsdesigns und auch mit Blick auf die Machbarkeit der empirischen Studie ist die Fokussierung auf die genannten Theorieströmungen jedoch durchaus verständlich und lässt freilich den Raum für weitere begriffliche und fallstudienbezogene Ergründungen, die sich an diese Arbeit ohne Weiteres anknüpfen lassen.

Insgesamt liegt mit „The Concept of Solidarity“ eine vielschichtige, konzeptionell gut durchdachte, sehr erkenntnisbringende Studie vor, die sich mit der Energiepolitik der EU einem äußerst dynamischen wie auch aktuellen Forschungsgegenstand widmet. Der Autorin gelingt es hierbei überzeugend eine Vielzahl von Diskursen, die sich um den Begriff der Solidarität entwickelt haben, mit einem anspruchsvollen theoriegeleiteten Forschungsdesign zu verknüpfen, so dass gerade auch aus den Fallstudien ein echter Mehrwert, nicht nur für die Diskussionen um den Begriff der Solidarität entsteht, sondern vor allem auch deutlich wird, welche Bedeutung solidarisches Handeln für die politische Praxis der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten hat und perspektivisch haben könnte.