1 Hundredth Anniversary of the Publication of the First Issue of the Abhandlungen aus dem Mathematischen Seminar der Universität Hamburg

On the occasion of the hundredth anniversary of the publication of the first issue of the Abhandlungen aus dem Mathematischen Seminar der Universität Hamburg we are including a reprint of the section 6.4.2 “Die Abhandlungen aus dem Mathematischen Seminar der Hamburgischen Universität” from the book “Eine Disziplin und ihre Verleger: Disziplinenkultur und Publikationswesen der Mathematik in Deutschland, 1871–1949” by Volker Remmert and Ute Schneider, Mainzer Historische Kulturwissenschaften Band 4.

We thank the authors for making that possible.

Hamburg, May 2021.

Birgit Richter, Vicente Cortés.

2 Die Abhandlungen aus dem Mathematischen Seminar der Hamburgischen Universität

Das Mathematische Seminar der 1919 gegründeten Universität Hamburg zählte nach dem Krieg sogleich zu den hervorragenden Adressen in der Mathematik. Die Ordinarien Wilhelm Blaschke und Erich Hecke waren mathematisch äußerst produktiv. Zudem erwiesen sie sich gemeinsam mit dem Extraordinarius Johann Radon als sehr einfallsreich in Bezug auf die praktischen Probleme, die der Aufbau des Seminars mit sich brachte.

In diesem Zusammenhang ist die Gründung der Abhandlungen aus dem Mathematischen Seminar der Hamburgischen Universität zu verstehen, deren erstes Heft 1921 im Selbstverlag des Mathematischen Seminars erschien und die noch heute bestehen. Unter den schwierigen finanziellen Rahmenbedingungen wurden die Abhandlungen nicht gegründet, um ein eigenes Publikationsforum zu haben, denn Hecke verfügte über gute Verbindungen zu den Mathematischen Annalen und Blaschke gehörte dem wissenschaftlichen Beirat der Mathematischen Zeitschrift an. Vielmehr verband sich mit der Gründung die Hoffnung auf einen Zeitschriftentausch mit dem Ausland, um eine ausgezeichnete Ausstattung der Seminarbibliothek zu gewährleisten.

Die treibende organisatorische Kraft hinter den Abhandlungen war Blaschke und schon der erste Band bestach dadurch, dass neben Hecke und Blaschke hochkarätige Mathematiker darin publizierten. Nicht nur die renommierten britischen Mathematiker Godfrey H. Hardy und John E. Littlewood hatten in Zeiten des Boykotts der Wissenschaft in Deutschland einen Aufsatz beigesteuert, sondern Hecke hatte auch seinen Lehrer Hilbert gewinnen können, der dem Unternehmen durch seinen Artikel über Neubegründung der Mathematik seine Rückendeckung gab.Footnote 1 Der Mathematiker Heinrich Behnke, ein Schüler Heckes, erinnerte sich später, daß es allerlei Schwierigkeiten gab, einen geeigneten Drucker zu finden—vom zweiten Band habe es etwa zehn Korrekturen gegeben. Besonders aber betonte Behnke die Leistung Blaschkes, »in dieser Zeit der allgemeinen Entwertung und Armut die zum Druck notwendigen Gelder zu beschaffen«. Behnke war es »völlig unverständlich, wie Blaschke in dieser Zeit größter Geldknappheit diese Finanzierung gelungen ist«.Footnote 2

Tatsächlich erfolgte die Anschubfinanzierung aus Mitteln der Notgemeinschaft, die—vermutlich am Fachausschuß für Mathematik vorbei—die Abhandlungen im Haushaltsjahr 1921/22 mit 20.000 und 1922/23 mit einem Betrag in unbekannter Höhe unterstützte.Footnote 3 Diese Förderung wurde sowohl im Springer Verlag als auch bei Klein, dem Vorsitzenden des Fachausschusses für Mathematik, mit Verwunderung, ja Verärgerung aufgenommen.

Im März 1922 war die Angelegenheit Thema eingehender Diskussionen zwischen Courant, Springer, Klein, von Dyck und Schmidt-Ott. Courant und Springer zeigten sich entrüstet, daß die Notgemeinschaft in Zeiten knapper Gelder die Neugründung einer Zeitschrift finanziell unterstützte, die den bereits bestehenden Zeitschriften staatlich subventioniert Konkurrenz machen werde. Courant wandte sich deswegen im März 1922 in enger Abstimmung mit Klein und Springer mit einer Protestnote an die Notgemeinschaft, die durch ein Schreiben von Klein begleitet wurde. Präsident Schmidt-Ott antwortete Klein, indem er zunächst das Füllhorn der Notgemeinschaft für die Herausgabe von Kleins Gesammelten Abhandlungen öffnete. Die Bewilligung von 50.000 Mark zu diesem Zwecke ging einher mit der Stellungnahme zu der Förderung der Hamburger Abhandlungen.Footnote 4 Über »die Prinzipien, nach welchen die Höhe der Unterstützungsbeiträge für Publikationen in jedem Einzelfalle vom Verlagsausschuß der Notgemeinschaft festgesetzt« werden, habe ihm Courant nach seiner Besprechung mit den zuständigen Herren sicherlich schon berichtet. Klein werde einsehen, daß »die Notgemeinschaft bei Unterstützung von Publikationen nicht gut anders handeln« könne. Insbesondere brauche er nicht zu befürchten, daß »andere wichtige Interessen der Mathematiker etwa deshalb unberücksichtigt bleiben« könnten. Zu den Hamburger Abhandlungen teilte er mit, ihre Unterstützung sei

wesentlich mit der Absicht ins Auge gefasst worden, dadurch den Tauschverkehr des Hamburger Seminars zu fördern. Bei Uebermittlung der Bewilligung werde ich nicht versäumen, darauf hinzuweisen, dass die Bewilligung unter der Voraussetzung erfolgt, dass die eingetauschten Exemplare ausländischer Literatur der Gesamtheit der deutschen Mathematiker zugänglich sein müssen.Footnote 5

Courant war über die Ablehnung seines Einspruches bei der Notgemeinschaft sehr verärgert, sah er doch erhebliche Gefahren für die deutsche Zeitschriftenlandschaft. In einem Brief an Springer schilderte er die Situation Ende März 1922 mit deutlichen Worten:

Über die Notgemeinschaft habe ich mich sehr geärgert; sie hat unseren sehr energischen Brief wegen der Hamburger Zeitschrift freundlich, aber sachlich eigentlich ablehnend beantwortet, indem sie erklärt, dass es sich nur um Unterstützung des Austausches handele; wir haben dann strikte verlangt, dass den Inlandszeitschriften keine Konkurrenz gemacht werden dürfe, indem im Inland die Zeitschrift umsonst abgegeben wird. Die Gefahr ist, dass andere Stellen das Hamburger Beispiel nachmachen; ich traue in dieser Hinsicht gerade solchen Hochschulen nicht, wo mehrere produktive Leute zusammen sitzen; blinder partikularistischer Egoismus ist ja ein berühmtes deutsches Zersetzungselement; vielleicht liegt auch hierin der tiefere Grund für die laue Haltung der Notgemeinschaft. Jedenfalls muss man rechtzeitig überlegen, wie man gegen solche Möglichkeiten das Interesse der Wissenschaft sichern kann.Footnote 6

Dem schweren Vorwurf, die Hamburger Wissenschaftler verfolgten partikulare Interessen und verstießen damit gegen die Normen wissenschaftlichen Handelns, muß man entgegen halten, daß Springer als Verleger und Courant als Wissenschaftler und Springers Gehaltsempfänger auch nicht uneigennützig dachten, wenn sie das konkurrierende Hamburger Unternehmen verurteilten und sanktioniert wissen wollten. Die staatliche Verteilung von Forschungsgeldern und Druckkostenzuschüssen basierte in nicht geringem Maß auf dem Erfolg konkurrierender Wissenschaftler. Obschon Courant und Springer sich in ihrer Ablehnung der staatlichen Förderung der Hamburger Abhandlungen auch die Unterstützung von Dycks sicherten,Footnote 7 wurde die neue Zeitschrift auch 1922/23 noch von der Notgemeinschaft gefördert. Als der Herausgeber Blaschke im April 1924 Springer antrug, die Hamburger Abhandlungen in Verlag zu nehmen, bekräftigte Springer in einem Brief an Courant, er halte »das Erscheinen der Hamburger Zeitschrift für eine bedauerliche Zersplitterung der Literatur«. Zudem sehe es »doch so aus, als wäre die Zeitschrift im Eingehen, und ich habe keine rechte Lust, ihr Leben zu verlängern«.Footnote 8 Blaschke bedauerte zwar Springers diplomatische Ablehnung—Blaschke zählte zu den Autoren und Herausgebern seines Verlags, und Courant hatte Springer daher zu einer gemäßigten Reaktion geraten—, »die sich vom wirtschaftlichen Standpunkt rechtfertigen« lasse, fand aber schon für 1924 in Teubner einen neuen Verlag.Footnote 9

Im Sommer 1931 fragte Blaschke erneut an, ob Springer bereit wäre, den Kommissionsverlag der Abhandlungen und der Einzelschriften des Hamburger Seminars zu übernehmen. Inzwischen genoß das Hamburger Mathematische Seminar mit seiner Zeitschrift bereits einen so guten Ruf, daß Springer ihm nach Rücksprache mit Courant wenige Tage später schrieb, er stehe »sehr gern zur Übernahme des Kommissionsverlages der Veröffentlichungen des Hamburger Instituts zur Verfügung «. Ohnehin, so Springer, habe er »den Wunsch, meine Beziehungen zu Ihnen und Ihrem Kreise zu festigen.«Footnote 10 Allerdings blieben die Hamburger Abhandlungen bei Teubner, und es ist unklar, woran das Projekt gescheitert ist.

Das Beispiel der Hamburger Abhandlungen belegt nicht nur den Einfallsreichtum, mit dem der Literaturknappheit in Zeiten geringer Bibliotheksetats begegnet wurde, sondern wirft ein Schlaglicht auf die Auseinandersetzungen um die richtige Förderpraxis der noch jungen Notgemeinschaft im Verlagswesen. Die Situation wurde noch dadurch erschwert, daß offenbar verschiedene Instanzen über die Förderung von Publikationen entscheiden konnten. Die Förderung von Kleins Gesammelten Abhandlungen etwa wurde nicht aus den Mitteln des Fachausschusses Mathematik gezahlt, sondern aus einem Sonderfonds des Präsidiums. Ebenso unübersichtlich war die Situation bei der Förderung der Hamburger Abhandlungen. Schmidt-Ott stellte im Spätsommer 1922 in einem Rundschreiben fest, daß die finanzielle Lage zur Konzentration der Mittel zwinge und ging speziell auf die Lage der Zeitschriften ein. Bei der Bewilligung von Mitteln seien strengste Maßstäbe anzulegen und insbesondere könnten »mehrere nebeneinander laufende Zeitschriften auf gleichen oder verwandten Gebieten nicht erhalten werden, wenn eine genügt. Parallelunternehmungen müssen überall zurücktreten, so wünschenswert sie für den wissenschaftlichen Wettbewerb sind.« Dies betraf nun auch ausdrücklich die Hamburger Abhandlungen, denn »unter den vom Verlagsausschuss in seiner letzten Sitzung behandelten Anträgen, die die Befürwortung der Fachausschüsse gefunden hatten, befinden sich Arbeiten über Kölnische Bibliotheksgeschichte, [ …], Pilze aus Bayern, Abhandlungen aus dem Mathematischen Seminar der Hamburgischen Universität, [ …], Unternehmungen von deren Beanstandung für dieses Mal abgesehen worden ist, und deren Wert ich keineswegs verkenne, deren Unterstützung aber angesichts unserer Vermögenslage kaum vertretbar erscheint«.Footnote 11

Volker R. Remmert (PD Dr. phil.) Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften - Geschichte, Bergische Universität Wuppertal, Wuppertal, Germany. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit und die Geschichte der Mathematik im 19. und 20. Jahrhundert.

Ute Schneider (Prof. Dr. phil.) Gutenberg-Institut für Weltliteratur und schriftorientierte Medien, Abteilung Buchwissenschaft, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Germany. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Buchhandels- und Verlagsgeschichte vom 18. bis ins 20. Jahrhundert sowie das Buch in der Wissenskultur.