Bioethik und Menschenwürde

Wenn auch in der Politik ein allgemeiner Konsens über die unbedingte Gültigkeit der Achtungs- und Schutzgarantie menschlicher Würde herrscht, so zeigt sich doch vor allem im bioethischen Diskurs der letzten Jahre, markant etwa in der Diskussion um das Urteil des Bundesgerichtshofes vom 6. Juli 2010, demzufolge die sogenannte Präimplantationsdiagnostik (PID) nicht gegen das Embryonenschutzgesetz verstoße, dass es eine allgemein verbindliche und tragfähige Begründung des Schutzes menschlicher Würde scheinbar nicht gibt. Vielmehr stehen sich in einer pluralistisch geprägten und säkularen Gesellschaft die unterschiedlichsten Antworten auf die Frage nach der Letztursache für die Würde einer jeden menschlichen Person gegenüber. Dies zeigt sich auch in der Bioethik, einer noch relativ jungen Teildisziplin der Ethik, die sich ihrem angelsächsischen Ursprung gemäß als strikt naturwissenschaftlich geprägte Ethik versteht (vgl. [1], daneben auch [2, 3]) jenseits metaphysischer oder religiöser Bindungen. Seit dem Standardwerk „Principles of Biomedical Ethics“ aus dem Jahre 1979 gelten vier Prinzipien für bioethische Entscheidungen im Kontext ärztlichen Handelns: (1) Respekt vor Patientenautonomie, (2) Prinzip des Nichtschadens, (3) Prinzip des Patientennutzens, (4) Prinzip der Gerechtigkeit [4]. Gegenüber einem liberalistischen oder utilitaristischen Modell der bioethischen Normbegründung betont die christliche theologische Ethik im Blick auf Entscheidungen im biomedizinischen Feld das Prinzip der unantastbaren Personwürde und der Menschenwürde (vgl. auswahlweise [5, 6]). Naturwissenschaftliche und medizinische Fakten werden wahrgenommen und durchlaufen den Filter der Frage nach ständiger Verbesserung des Menschseins, die sich nicht in zeitlich begrenzter Perspektive erschöpft, sondern – in klassisch platonischer Tradition – den Menschen denkt als ein Lebewesen mit unsterblicher und daher für die Ewigkeit bestimmter unsterblicher Seele. Würde ist in diesem Zusammenhang die deutsche Übersetzung des lateinisch-stoischen Begriffs „dignitas“, der wiederum den platonischen Begriff der unsterblichen und unzerstörbaren „Schönheit der Seele“ übersetzt. Dies verdeutlicht Klaus Demmer im Blick auf die Präimplantationsdiagnostik: „Die Vorgaben sind so eindeutig, daß die Zuschreibung menschlicher Würde als konsequenteste unter allen Alternativen erscheint. Sie ist nicht zwingend, wohl aber naheliegend und damit einladend“ [7, S. 186]. Im Hintergrund steht offenkundig die Unterscheidung von bloßem, überlebendem Dasein (bios) und sinnerfülltem Sosein als bewusste Existenz (zoé) (vgl. [8]); die Rede der christlichen Ethik vom guten Leben und von der Lebensqualität (vgl. [9]) schließt sich hier an (vgl. [10]).

Der transzendente Bezug der Menschenwürde, der durch die sogenannte „Invocatio-Dei-Formel“ der Präambel des Grundgesetzes (GG) zumindest indirekt markiert wird (vgl. [11]), und die eine „fortdauernde Bedeutung für die Anwendung des Grundgesetzes überhaupt“ (so [12]) hat, findet allerdings heute kaum noch Akzeptanz im säkularen Diskurs, oft mit dem erläuternden Hinweis, dass „die theologische Version der Menschenwürde die Perspektive individueller menschlicher Wesen nicht berücksichtigt, weil ‚Menschenwürde‘ nicht die interne Struktur des Geistes einer Person reflektiert“ [13]. Dies soll heißen: Menschenwürde erscheint als inhaltsleerer Begriff gegenüber dem Konzept einer sich selbst bewussten und autonom handelnden Person; Menschenwürde erscheint als Illusion (vgl. scharf [14]). Autonomie wird in dieser Deutung als aktives Bewusstsein seiner selbst gesehen, als Aktuierung der Autarkie; der Personbegriff steht im Gefälle dieser aktualistischen Deutung (vgl. [15, 16]).

Unbestreitbar handelt es sich bei der Menschenwürde im GG um einen Begriff des positiven Rechts. Doch bereits die axiomatische Formulierung jenes ersten Satzes des Art. 1 Abs. 1 GG – „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ – macht deutlich, dass der Gesetzgeber in seinem Bestreben, mit einem nicht hintergehbaren ethischen Fundamentalprinzip der bedingungslosen Staats- und Volkssouveränität eine Grenze zu setzen, nicht etwas bisher noch nicht Geltendes anordnet – im Sinn etwa von: „Die Menschenwürde soll unantastbar sein“ – oder neu konstruiert, sondern auf etwas Vorgefundenes, auf einen intuitiv einsichtigen Grundwert (vgl. [17]), nämlich auf ein dem Menschen von Natur aus und daher naturrechtlich verankertes Grundrecht zurückgreift, und dies als tragendes Ethos in seine Verfassung verankert (vgl. hierzu [18, S. 41]). Würde meint den unantastbaren Raum innerer Freiheit einer menschlichen Person (vgl. [19]), also das, was Augustinus als „forum internum“ des Gewissens und der Seele gegenüber dem „forum externum“ des öffentlichen Lebens bezeichnete. Würde umfasst demzufolge einen unbedingten Anspruch auf unbedingte Achtung ohne Abhängigkeit von subjektiver Zuerkennung eines Wertes oder Preises: „Zwar ist auch die Menschenwürde ausgerichtet auf ein Gegenüber, von dem sie anerkannt werden will und soll, indem sie Achtung fordert, aber das Gegenüber schafft nicht die Würde, es erkennt oder spricht sie auch nicht zu, sondern die Würde liegt im Würdeträger selbst begründet und fordert von seinem Gegenüber, dem ‚Würdeadressaten‘, nur Anerkennung“ [20].

Personwürde

Wenn auch das GG normativ die Würde des Menschen durch die systematische Stellung innerhalb der Rechtsordnung hervorhebt und ihre Achtungs- und Schutzgarantie als Fundamentalprinzip der politischen Ordnung in Art. 1 Abs. 1 Satz 2 formuliert, bleibt die daraus resultierende Frage nach dem Träger der zu schützenden Würde. Nun ließen sich leicht physikalische oder biologische Wesensmerkmale des Menschen aufführen. Paul Kirchhof macht zu Recht darauf aufmerksam, dass eine Definition des Menschen unter dem Aspekt einer wie auch immer vorstellbaren Würdeberechtigung und der Schutzbedürftigkeit schnell an seine Grenzen stößt: „Würden wir den Menschen nach seinem aufrechten Gang, seiner Sprache, seinem Gedächtnis, seiner Fähigkeit zur Selbstvergewisserung oder seiner Kultur definieren, nähmen wir all jene Menschen von dem rechtlichen Schutz aus, die nicht gehen, nicht sprechen, sich nicht erinnern, sich nicht selbst bestimmen oder Mindestfertigkeiten der Kultur nicht erwerben können. Der rechtliche Schutz versagte dort, wo er am dringendsten benötigt wird“ [18, S. 43]. Folgerichtig betont das Bundesverfassungsgericht, dass die allen Menschen als Gattungswesen gleichermaßen immanente Würde weder an Eigenschaften, Leistungen noch an einem sozialen Status hängt, sondern jeder menschlichen Person durch ihre bloße Existenz, kraft ihres Menschseins eigen ist. Es ist ein Recht, das dem Menschen von Natur aus angeboren und nicht verliehen ist (vgl. [21]). Im Sinne des uneingeschränkten Selbstwertes besitzt auch derjenige Mensch die menschliche Würde, der „aufgrund seines körperlichen oder geistigen Zustands nicht sinnenhaft handeln kann“ oder dessen „un-würdiges“ Verhalten ihn in einen Konflikt mit der Gesellschaft und dem Gesetz hat treten lassen [22]. Die personale Würde, auch des Straftäters, bleibt, gerade um der Hoffnung auf Besserung und weitere Entwicklung willen: „Das Stichwort ‚Menschenwürde‘ steht hier also für die Fähigkeit des Menschen, sich weiterzuentwickeln“ [19, S. 63]. Der kategorische Würdeschutz gilt uneingeschränkt dem geborenen wie dem ungeborenen menschlichen Leben, sei es gesund oder aber durch eine geistige oder körperliche Behinderung gezeichnet. Mehr noch: Selbst nach Vollendung des menschlichen Lebens ist dem Leichnam in nachwirkender Respektierung der Menschenwürde (vgl. [23, S. 41]) die gebotene Achtung entgegenzubringen. Letztere wird beispielweise verletzt, wenn in der Frage der Organtransplantation eine Organentnahme ohne ausdrückliche Einwilligung des Verstorbenen oder im Einverständnis mit den Angehörigen durchgeführt wird.

Wenn das GG von der Unantastbarkeit der Würde eines jeden Menschen spricht, dann ist hier bewusst das Axiom vor die Norm gestellt und dann heißt dies nicht nur, dass die Würde des Menschen nicht angetastet werden darf, sondern dass die Würde des Menschen in sich und aus sich heraus nicht antastbar ist (vgl. [24]). Dies ist eine axiomatische Tatsachenbehauptung mit normativem Anspruch, die im Fall der Schutzwürdigkeit des frühen Embryos mit dem Argument der Potenzialität eines heranwachsenden Menschen einhergeht, und dies mit Blick auf Leben oder Tod eines Individuums. Daran müssen sich alle nachfolgenden Güterabwägungen messen lassen. Im Hintergrund steht das klassische Akt-Potenz-Verständnis (vgl. [25]). Hier betont die protestantische Ethik mehr die Abstufung der Potenzialität, deutlich etwa im Blick auf den frühen, sich entwickelnden Embryo: „Bezogen auf die konkreten Fragen des ‚Lebensanfangs‘ ergibt sich daraus die Auffassung von einer stufenweisen Entwicklung des Embryos zum Menschen, welche von einer gestuften Schutzwürdigkeit begleitet wird und für die der Zeitpunkt der Nidation als das Datum anzusehen ist, ab dem die volle Schutzwürdigkeit einsetzt“ [26]. Demgegenüber unterstreicht die katholische Bioethik stärker im Sinne des Tutiorismus das „benefit-of-the-doubt“-Argument: „Das Potentialitätsargument verlangt zu seiner Wirksamkeit also gar nicht, ‚unanzweifelbar‘ zu sein, wie Friedemann Voigt suggeriert. Es reicht schon, daß es uns verunsichert, um ‚in benefit of the doubt‘ ein umfassendes Existenzrecht des Embryos zu begründen“ [27]. Daher sind aus katholischer Sicht einer Güterabwägung zuungunsten des frühen Embryos eindeutige Grenzen gesetzt; ein technizistisch orientierter Utilitarismus und Naturalismus stehen nicht im Dienst des Lebens: „Denn die zur Rechtfertigung herangezogene Güterabwägung kann nur den überzeugen, der bereits stillschweigend ein naturalistisches Menschenbild unterstellt“ [7, S. 187]. Güterabwägungen leben nämlich von Vorentscheidungen; ein nicht metaphysischer Naturalismus lässt nur eine bestimmte Art von Güterabwägung zu. Analog gilt dies dann auch für das personale menschliche Leben im irreversibel eingesetzten Sterbeprozess und insgesamt im Kontext ethischer Entscheidungen am Lebensende (vgl. [28]), nicht zuletzt im Rahmen der Palliativmedizin.

Christlich gesehen wird das dem Individuum zugedachte biologische Leben als existenzielle Gabe und Aufgabe gedeutet; dies ist nicht ohne Kritik geblieben: „Die Geschenkmetapher ist allerdings nicht unproblematisch. Geschenkt ist geschenkt, so heißt es. Wer etwas verschenkt, kann dem Beschenkten keine weitere Vorschrift machen, wie er mit diesem umgeht. Er kann es weiter verschenken oder auch zerstören. Wir können biblisch wohl vom Leben als Gabe sprechen, wobei die Logik der Gabe nicht mit der Logik des Tausches verwechselt werden darf. Aber mit der Gabe ist uns das leibliche Leben auch als Aufgabe gegeben. Wir stehen in grundlegenden Verantwortungsverhältnissen, sowohl Gott als auch unseren Mitmenschen gegenüber“ (vgl. [29]). Es geht letztlich um die Unverfügbarkeit der Person gegenüber weiteren Güterabwägungen; dies ist immer in ein Verhältnis zur Autonomie der personalen Entscheidung zu setzen. Zu Recht unterstreicht daher Klaus Demmer [30]: „Wer mit dem Potentialitätsargument operiert – sei es im Für oder Wider –, muß bedenken, daß im gegebenen Fall eine Totalverfügung verhandelt wird: Es geht um Sein oder Nichtsein [...]. Dementsprechend bezeichnet die Menschenwürde die erste Voraussetzung jeder nachfolgenden Güterabwägung, die der Verfügung oder Verobjektivierung des Menschen wehren will und damit die erste Grundlage jeder nachfolgenden Selbstachtung und Annahme der eigenen Individualität legen soll“ (vgl. auch [31, 32]). Dies gilt auch und gerade im Kontext der modernen Medizin und ihrer an der Autonomie des Individuums orientierten Zielvorstellungen (vgl. [33]). Wäre die Menschenwürde machbar und antastbar, greifbar und handhabbar, mithin verletzbar und einzuschränken, so könnte sie einem Menschen zu- oder abgesprochen werden. So ist die Verankerung der Menschenwürde und der garantierte Schutz ihrer Achtung in Art. 1 Abs. 1 zeitgeschichtlich auch als eine fortdauernd gültige Absage an die radikale Miss- und Verachtung menschlicher Würde durch totalitäre Systeme zu verstehen, die demjenigen, der nicht in das politisch-ideologisierte Menschenbild hineinpassen wollte, jegliche Würde und Lebenswürdigkeit absprachen.

Gottebenbildlichkeit

Der christlich-jüdische Begriff der Gottebenbildlichkeit greift den antiken Begriff der Würde auf, erweitert ihn jedoch in universaler Weise: Jeder Mensch ist Bild Gottes und daher unantastbar (vgl. zum Hintergrund [34]). Tatsache ist, dass die frühe christliche Glaubenslehre eine römische Dignitas-Vorstellung, die sich auf die Stellung eines Menschen innerhalb eines Sozialgefüges bezieht, stets scharf kritisiert hatFootnote 1. Trotzdem darf ein direkter Sprung in die Neuzeit gewagt werden. Denn auch in ihr findet, wie in der griechisch-römischen Antike, die Würde des Menschen ihre Begründung in der Vernunftbefähigung des Menschen. Der Unterschied zu der antiken Vorstellung einer allen Menschen gemeinsamen, aber dennoch graduierbaren Würde, wie sie etwa der römische Philosoph Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.) als „dignitas hominis“ vertritt (vgl. [37]), liegt darin, dass in der neuzeitlichen Auffassung von Menschenwürde diese als Sollensbestimmung des Menschen gesehen wird und diese der Mensch trotz aller ihm eigenen Schwäche nicht mindern oder verlieren kann. So bemerkt Blaise Pascal (1623–1662) fast staunend, dass der Mensch zwar schwach sei wie ein Schilfrohr und zudem in der immensen Weite und Vielfalt des ihn umgebenen Weltalls fast zu verschwinden drohe, doch durch sein selbstreflektierendes Denken, mit dem er alles erfassen und ergreifen kann, zu einer Größe gelangt, die ihn von allem ihn Umgebenden hervorhebt (vgl. [38]).

Mit dem anthropologischen Paradigmenwechsel der Aufklärungszeit verbindet sich schließlich die Begründung menschlicher Würde qua Teilhabe an der Vernunft und dies zugleich mit der Auffassung der Autonomie des Menschen. Maßgeblich sind hier die Moralphilosophie Immanuel Kants (1724–1804) sowie seine damit verbundene Unterscheidung zwischen einem relativen Wert und einer absoluten Würde. Ein relativer Wert, das also, was einen bestimmten Preis hat, kommt nach Kant allem zu, was nützlich ist, einen Zweck erfüllt, etwas also, das im allgemeinen Sprachgebrauch als Sache bezeichnet wird. Die Wertrelativität resultiert daraus, dass Zweck und Nutzen einer Sache sich jederzeit ändern können und die Sache selbst gegen ein Äquivalent von vielleicht höherem Nutzen ausgetauscht werden kann. Der so verstandenen Fremdbestimmung und Verzwecklichung von Sachen steht die apriorische Autonomiefähigkeit, die in Freiheit gründende Selbstbestimmung des Menschen, gegenüber. Wegen dieser Autonomiefähigkeit, die in der Vernunftbegabung des Menschen ihre Voraussetzung erfüllt, kann und darf der Mensch nie als Mittel zu fremden Zwecken gebraucht werden, sondern ist ein Zweck an sich, er ist, wie schon erwähnt, das, „was (…) über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet“ [39, BA 77]. Die Würde des Menschen begründet sich also darin, dass einzig der vernunftbegabte Mensch in der Lage ist, nicht von außen zweckbestimmt zu sein, sondern sich selbst Zwecke zu setzen vermag, und zwar in Form eines sittliches Gesetzes, an das der Mensch sich wiederum selbst bindet. Der entsprechende kategorische Imperativ lautet: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst“ [39, BA 67]. Das Wissen des Menschen um die allen Menschen gleiche Würde, die in der Vernunftbegabung des Menschen begründet ist, verbietet jedwede Verzwecklichung des Menschen. Im Umkehrschluss wird nach Kant die Würde eines Menschen dort verletzt, wo er von einem anderen Menschen (oder auch von sich selbst) bloß als Mittel für dessen eigene Zwecke gebraucht wird, wo er zum Objekt und damit zu einer austauschbaren Größe herabgewürdigt wird. Theologisch gewendet heißt dies: Die Rechtfertigung der Existenz eines Menschen bindet sich nicht an zweckdienliche Ziele des Menschseins, sondern gilt unabhängig von jeder Relativierung, also absolut und allein durch Gottes unbedingten Willen zur Rechtfertigung des Lebensrechtes jedes Menschen.

Auch wenn sich diese Ansicht Kants heute in der sogenannten Objektformel wiederfindet, mit der eine Verletzung der Menschenwürde verfassungsrechtlich bestimmt wird (vgl. [23, S. 26]), ist provozierend zu fragen, ob eine in diesem Sinne verstandene Würde des Menschen tatsächlich als unantastbares, dem Menschen immanentes Wesensmerkmal begründet werden kann, oder ob Würde nicht vielmehr nur eine sittliche Norm, eine ethische Leitkategorie ist, die Achtung und Respekt vor der Autonomie des anderen fordert. Und eine zweite, nicht weniger kritisierend-provozierende Frage muss lauten, ob die Begründung der Würde eines Menschen qua Vernunftgesetz nicht einem defizitären Menschenbild entgegenkommt, das eben, um erneut auf den eingangs aufgeführten Einwand von Paul Kirchhof zu verweisen, jene Menschen von einem umfassenden Schutz der Würde ausschließt, deren Möglichkeiten des Vernunftgebrauchs eingeschränkt oder (noch) nicht entwickelt sind, deren Fähigkeiten zu verantwortlichem, sittlichem Handeln von Natur aus Grenzen gesetzt sind.

Während der mehr säkulare Begründungsansatz des Immanuel Kant die Würde des Menschen an dessen Fähigkeit des Vernunftgebrauches festmacht, unterstreicht der christlich-naturrechtliche Ansatz die objektive Menschenwürde einer jeden menschlichen Person als unveräußerliches Wesensmerkmal des Menschen, das nicht erworben werden kann und nicht graduierbar ist, sondern jedem Menschen durch sein Menschsein angeboren ist. Schon sehr früh wurde der biblische Begriff der Gottesebenbildlichkeit als Pendant zu Ciceros „dignitas hominis“ angesehen, und dies auf dem Hintergrund einer stoischen Naturrechtslehre. Naturrechtlich, oder besser: personrechtlich, ist der theologische Ansatz einer christlichen Bioethik insofern, als die Natur des Menschen als Vernunftnatur gedeutet wird, die es als vernünftig erachtet für jedes menschliche Lebewesen, nicht gemacht, sondern gezeugt worden zu sein, und dadurch einer grundsätzlichen Bewertung durch andere Menschen entzogen zu sein, und somit niemand gegenüber rechenschaftspflichtig in ihrer Existenz zu sein. Dies war gerade in der Zeit einer gewissen Renaissance des Naturrechtes nach dem Zweiten Weltkrieg für ein Verständnis von Grundrechten und Menschenwürde wichtig, gerade in der Abwehr eines relativierenden Rechtspositivismus (vgl. [40]). Wichtig und prägend war der Gedanke der personalen Unverfügbarkeit unter Absehung jeder Notwendigkeit zur Rechenschaftspflicht über die eigene Existenz. „Wo Menschen nicht naturwüchsig als Nebenfolge sexuellen Umgangs entstehen, sondern willentlich von Hand gemacht werden, werden die Hersteller für die Existenz ihrer Nachkommen rechenschaftspflichtig. Dieser Rechenschaft aber kann niemand genügen“ [41]. Hier genau setzt der Begriff der Würde an, indem die basale Lebens- und Liebenswürdigkeit jeder menschlichen Person vom ersten Anbeginn an behauptet wird. Würde des Menschen wird dann nicht, wie es noch Auffassung der griechisch-römischen Antike war, von der Gesellschaft dem einzelnen Menschen aufgrund seiner Verdienste zugeteilt, sondern sie besteht in der gnadenhaften Berufung des Menschen zur Gotteskindschaft. Durch eine solche Einsicht, die bereits im jüdischen Glauben mithilfe von Begriffen wie „Ehre“ und „Hoheit“ (vgl. [42]) sowie der besonderen gegenüber allem naturhaft Seienden einzigartigen Stellung des Menschen als Ebenbild Gottes (vgl. [43]) ihren Niederschlag findet, wird ein christliches Menschenbild zum Ausdruck gebracht, das in seiner metaphysischen Dimension weit über eine rein empirisch wahrnehmbare, innerweltliche Begründung durch Natur- und Gemeinschaftsgebundenheit des Menschen, wie sie in den Begründungsansätzen von Immanuel Kant und Cicero aufgeführt werden, hinausreicht. Die Würde des Menschen als Person definiert sich nicht durch seine Leistungen und sie begründet sich nicht in der Vernunft des Menschen. Die Würde des Menschen hat einzig und allein ihren Grund in etwas, was seiner eigenen Verfügung entzogen ist: in der Beziehung zu Gott, die sich im Sein als Ebenbild Gottes und in der Erkenntnis des Guten im Gewissen bündelt. „Somit stehen in Form der Lehre von der Gottebenbildlichkeit und der Lehre vom natürlichen menschlichen Gewissen jene biblischen Grundelemente bereit, die in die neuzeitliche Idee der Menschenwürde als sittlicher Autonomie eingegangen sind“ [44]. Dabei kommt es nicht zuerst auf die Religiosität des Menschen, auf seine Beziehung zu Gott also, an, sondern auf die gnadenhafte Beziehung Gottes zum Menschen.

Konsequenzen der Personwürde für die pränatale Medizin und Diagnostik

Innerhalb der kontrovers geführten Diskussion über den Status des Embryos vertritt die katholische Moraltheologie daher die tutioristische Auffassung, dass es sich nach Abschluss der Befruchtungskaskade bei der befruchteten Eizelle bereits um eine menschliche Person handelt, die – unabhängig von ihrer Gesundheit oder möglichen genetischen Krankheiten – mit den persönlichen Rechten des Menschen ausgestattet ist und unbedingten Schutz genießt. Die unverfügbare Personalität des Menschen und der manipulative Anspruch der Technik im Feld der Fortpflanzung stehen sich gegenüber. Bisher galt in Deutschland mit dem 1991 in Kraft getretenen Embryonenschutzgesetz eine strenge Regelung, die der Menschenwürde und dem Lebensschutz den Vorrang vor der Freiheit von Wissenschaft und Forschung bestätigt und der befruchteten, entwicklungsfähigen menschlichen Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an den verfassungsrechtlich garantierten Würdeschutz einräumt. Demnach wird bestraft, wer „es unternimmt, eine Eizelle zu einem anderen Zweck künstlich zu befruchten, als eine Schwangerschaft der Frau herbeizuführen, von der die Eizelle stammt“. Mit § 2, Abs. 1 ESchG legt der Gesetzgeber zusätzlich fest, dass die eindeutige Bestimmung eines extrakorporal erzeugten Embryos der Transfer in die Gebärmutter ist. Trotz seiner auf den ersten Blick strengen Regelung kann das Embryonenschutzgesetz dennoch nicht voll befriedigen. Es weist Lücken auf: Zwar stellt das ESchG eine extrakorporale Befruchtung der Eizelle, die nicht der Herbeiführung einer Schwangerschaft dient, unter Strafe, aber von einem Verbot einer im Anschluss an die so zweckgerichtete künstliche Befruchtung durchgeführten PID ist im gesamten Gesetzestext nicht die Rede. Auch wenn die höchstrichterliche Rechtsprechung mehrfach darauf hingewiesen hat, dass der Weg für eine unbegrenzte Selektion menschlichen Lebens nicht frei sei, etwa um zu einem „Wunschkind“ mit frei wählbaren Kriterien zu gelangen, ist die Sorge dennoch berechtigt, dass es im Zuge zukünftiger Reformen des ESchG zu einer Selektion menschlichen Lebens kommt, dessen utilitaristische Ausmaße heute vielleicht noch nicht abzusehen sind.

Letzten Endes gilt: Nicht menschliche Maßstäbe, sondern die unbedingte Achtung vor jedem menschlichen Leben und der diesem Leben immanenten, unantastbaren Würde müssen das Kriterium sein, das dem menschlichen Handeln eine nicht überschreitbare Grenze setzt. Sobald die Gefahr besteht, dass wissenschaftliche oder politische Akteure diese verfassungsrechtlich geschützte Grundnorm ausblenden, ist jeder einzelnen Christ gefordert, der Würde des Menschen Gehör zu verschaffen – um Gottes und der Menschen Willen.

Fazit für die Praxis

  • Gegenüber einem utilitaristischen Modell der bioethischen Normbegründung betont die katholisch-theologische Bioethik das Prinzip der unantastbaren Person- und Menschenwürde auch des Embryos.

  • Die axiomatische Tatsachenbehauptung des Menschenwürdeschutzes gemäß Grundgesetz impliziert einen normativen Anspruch, der hinsichtlich der Schutzwürdigkeit des frühen Embryos mit dem Argument der Potenzialität eines heranwachsenden Menschen einhergeht.

  • Das Potenzialitätsargument verlangt zu seiner Geltung nicht, unanzweifelbar zu sein. Es reicht schon, dass es „in benefit of the doubt“ ein umfassendes Existenzrecht des Embryos zu begründen vermag.

  • Die Würde des Menschen als Person hat einzig und allein ihren Grund in etwas, was seiner eigenen Verfügung entzogen ist.

  • Nicht menschliche Maßstäbe, sondern die unbedingte Achtung vor jedem menschlichen Leben und der diesem Leben immanenten, unantastbaren Würde müssen das Kriterium sein, das dem menschlichen Handeln im Rahmen der pränatalen Medizin und Diagnostik eine nicht überschreitbare Grenze setzt.