Einleitung

Genetische Unterschiede zwischen einzelnen Individuen schlagen sich sowohl in der Symptomatik und dem Verlauf von Krankheiten als auch in der Ansprechbarkeit auf therapeutische Maßnahmen nieder. Mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms ist die Forderung nach personalisierter Medizin unüberhörbar geworden und gleichzeitig in den Bereich des Möglichen gerückt. Vor diesem allgemeinen Hintergrund verwundert die Tatsache, dass offensichtliche biologisch („sex“) und sozial bedingte („gender“) Geschlechtsunterschiede zwischen Männern und Frauen nur in Ausnahmefällen Berücksichtigung bei Diagnostik und Therapie von Krankheiten finden. Ein Grund hierfür mag die unzureichende Datenlage sein, denn trotz Anmahnungen der großen Arzneimittelzulassungsbehörden wie der Food and Drug Administration (FDA) oder der European Medicines Agency (EMA) sind Frauen bei klinischen Arzneimittelprüfungen auch heute noch eindeutig unterrepräsentiert [13]. Das Wissen über die Wirksamkeit neuer Medikamente bei Frauen muss als lückenhaft bezeichnet werden. Dennoch werden in der Regel nach der Zulassung keine generellen Einschränkungen für die Anwendung bei Frauen ausgesprochen, während für den Fall einer Schwangerschaft 90 % aller neu zugelassenen Medikamente als kontraindiziert eingestuft werden, obwohl hier ebenfalls keine Daten vorliegen [2].

In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind zwar deutlich mehr Frauen als Männer für klinische Studien, die vom National Institute of Health der USA finanziert wurden, rekrutiert worden, dies ist aber nur auf einige wenige frauenspezifische Projekte zurückzuführen [3], wie z. B. Studien zum Mamma-, Zervix- und Uteruskarzinom, die Women’s Health Studie zu Aspirin und Vitamin E bei kardiovaskulären Erkrankungen und Krebs [4] und die große Langzeitstudie über Frauen in der Postmenopause durch die Women’s Health Initiative [5].

Datenbanken zur Arzneimittelsicherheit zeigen, dass unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAW) häufiger bei Frauen als bei Männern auftreten [6, 7]. Als Gründe hierfür sind anzuführen, dass Frauen und Männer sich hinsichtlich der Pharmakokinetik, d. h. wie Arzneimittel sich im Körper verteilen und wieder unwirksam gemacht werden, und in geschlechtsspezifischen Reaktionen auf Arzneimittel (Pharmakodynamik), aber auch hinsichtlich der Menge an eingenommenen Medikamenten unterscheiden [8, 9].

In der vorliegenden Übersicht über medikamentöse Therapien bei Frauen soll zunächst auf die wichtigsten geschlechtsbedingten Unterschiede hinsichtlich Pharmakokinetik und Pharmakodynamik eingegangen werden, gefolgt von einigen therapeutischen Beispielen, bei denen frauenspezifische Besonderheiten bekannt sind. Abschließend werden Möglichkeiten zur Verbesserung der medikamentösen Therapie von Frauen aufgezeigt.

Pharmakokinetik

Die Dosierung eines Medikaments und seine pharmakokinetischen Eigenschaften bestimmen die Konzentration am Wirkort und somit die Wirkstärke. Geschlechtsbezogene Unterschiede in der Pharmakokinetik [8, 9] können daher die Effektivität einer medikamentösen Therapie entscheidend beeinflussen. Das gilt in besonderem Maße für Medikamente mit enger therapeutischer Breite, bei denen bereits geringfügig höhere oder zu niedrige Konzentrationen zu toxischen Wirkungen bzw. zu einem Therapieversagen führen können.

Aufnahme

Bei Frauen ist die Magenpassage verzögert, sodass Medikamente nach oraler Applikation etwas langsamer resorbiert werden als bei Männern. Allerdings resorbieren Frauen Alkohol rascher als Männer, weil die Alkoholdehydrogenase im Magen weniger aktiv ist.

Verteilung

Frauen sind im Durchschnitt kleiner und wiegen weniger als Männer. Sie haben einen höheren Anteil von Fettgewebe am Gesamtkörpervolumen, dagegen sind der intrazelluläre, extrazelluläre und Gesamtwassergehalt niedriger als bei Männern [10]. Aufgrund dieser anatomischen Unterschiede besitzen Frauen ein anderes Verteilungsvolumen für Pharmaka. So ist das Verteilungsvolumen für viele Arzneimittel wie z. B. Diazepam bei Frauen höher, für andere dagegen wie z. B. Alkohol oder Alprazolam kleiner als bei Männern [9, 11].

Trotz der offensichtlichen Unterschiede bleibt das Körpergewicht bei der Dosierung im klinischen Alltag meist unberücksichtigt, sodass Frauen in Relation zu ihrem Körpergewicht fast immer eine zu hohe Dosis erhalten. In einer Bioäquivalenzstudie der FDA lag die Fläche unter der Kurve für Arzneimittel, bei denen ein geschlechtsspezifischer Unterschied festgestellt worden war, bei Frauen um 20–88 % höher als bei Männern, wenn nicht um das Körpergewicht korrigiert wurde [12]. Aber auch nach Korrektur um das Körpergewicht waren die maximale Konzentration Cmax und die Fläche unter der Kurve bei 15 % der geprüften Arzneimittel zwischen Frauen und Männern signifikant verschieden. Möglicherweise ist dies eine der Ursachen für eine erhöhte Inzidenz von UAWs.

Metabolismus

Die wichtigsten Arzneimittel abbauenden Enzyme in der Leber sind die Isoenzyme von Cytochrom P450, Uridindiphosphatglucoronosyltransferase (UGT), N-Acetyltransferase (NAT) und Methyltransferase (MT). Für viele dieser Enzyme sind Polymorphismen mit zum Teil erheblichen Aktivitätsunterschieden bekannt. Allerdings gibt es zurzeit keine Hinweise auf eine Assoziation zwischen Geschlecht und den bekannten Polymorphismen in den Arzneimittel abbauenden Enzymen.

Die Expression und Aktivität einzelner Isoenzyme von Cytochrom P450 kann bei Frauen und Männern sehr verschieden sein [10, 11]. Das Isoenzym CYP3A4 ist für die Biotransformation der Hälfte aller Arzneistoffe, einschließlich von Sexualhormonen und Glukokortikoiden verantwortlich. Frauen haben eine vermehrte Expression und Aktivität von CYP3A4 [13], dadurch ist die Metabolisierungsgeschwindigkeit z. B. für Verapamil oder Nifedipin um etwa 20 % höher als bei Männern [14, 15]. Werden mehrere von CYP3A4 abgebaute Medikamente gleichzeitig gegeben, kann es durch eine gegenseitige Abbauhemmung zum Anstieg der Plasmaspiegel kommen, die das Risiko für unerwünschte Wirkungen erhöhen.

Andere P450-Isoenzyme haben eine geringere Aktivität bei Frauen als bei Männern (Tab. 1). β-Rezeptorenblocker werden vornehmlich über das CYP2D6 abgebaut. Nach Gabe einer Standarddosis eines β-Blockers weisen Frauen deutlich höhere Plasmakonzentrationen als Männer auf [1618].

Tab. 1 Geschlechtsbezogene Unterschiede in der Aktivität von Arzneimittel abbauenden Enzymen, zusammengestellt nach [10, 11]

Die Enzyme der Kopplungsreaktionen UGT, NAT und MT zeigen entweder keine geschlechtsabhängigen Aktivitätsunterschiede oder eine niedrigere Aktivität bei Frauen als bei Männern (Tab. 1). Dies trägt zur erhöhten Toxizität verschiedener Zytostatika bei Frauen bei [9].

Renale Ausscheidung

Die glomeruläre Filtrationsrate ist bei Frauen etwa 10 % niedriger als bei Männern [19, 20]. Für Digoxin konnte bei Frauen eine 12–14 % niedrigere renale Clearance nachgewiesen werden. Dies erklärt die in der Nachanalyse der Digitalis-Investigation-Group- (DIG-)Studie gefundenen höheren Plasmaspiegel von Frauen [21]. Auch Antibiotika, die unverändert renal eliminiert werden, wie z. B. Vancomycin oder Ceftazidin, erreichen wegen der verminderten renalen Clearance bei Frauen höhere Plasmakonzentrationen als bei Männern [11]. Das Transporterprotein P-Glykoprotein fördert die renale Clearance. Geschlechtsspezifische Unterschiede sind nicht klar erkennbar.

Pharmakodynamik

Geschlechtsbasierte Unterschiede in der Arzneimittelwirkung (Pharmakodynamik) sind eher selten und oftmals nur schwer von pharmakokinetischen Effekten zu trennen. Neben vielen anderen Faktoren ist ein genomischer Einfluss von Sexualhormonen auf die Expression von Rezeptoren als eine Ursache für die geschlechtsspezifische Ansprechbarkeit auf Arzneimittel denkbar. Allerdings gibt es nur wenig Information über die Variabilität von Arzneimittelwirkungen in Abhängigkeit vom menstruellen Zyklus [22].

Therapeutische Wirkungen

Bei Frauen können vergleichbare analgetische Wirkungen mit geringeren Dosen an Opiaten als bei Männern erzielt werden [23, 24]. Dies wird auf eine vermehrte Expression von Opioid-Rezeptoren zurückgeführt [25]. Für die klinische Wirksamkeit von Antidepressiva bei chronischer Depression sind ebenfalls signifikante Geschlechtsunterschiede nachgewiesen worden [26]: Während Frauen besser auf den selektiven Serotonin-Wiederaufnahmeblocker Sertralin als auf das trizyklische Antidepressivum Imipramin ansprachen, waren bei Männern die Verhältnisse umgekehrt. Als naheliegende Erklärung kann der stimulierende Einfluss von Östrogenen auf die serotonerge Aktivität herangezogen werden. Möglich ist aber auch, dass Frauen eher atypische Symptome der Depression zeigen, die besser auf Serotonin-Wiederaufnahmeblocker als auf trizyklische Antidepressiva ansprechen [26].

In der kardiovaskulären Therapie hat die Post-hoc-Analyse der DIG-Studie unterschiedliche Effekte von Digoxin bei Männern und Frauen ergeben: Die Digoxin-Behandlung einer Herzinsuffizienz war bei Frauen mit einem erhöhten Mortalitätsrisiko im Vergleich zu Placebo assoziiert, nicht dagegen bei Männern [27, 28]. Der Mechanismus der Interaktion zwischen weiblichem Geschlecht und Digoxin-Therapie konnte jedoch nicht identifiziert werden.

In den beiden großen Acetylsalicylsäure- (ASS-)Studien zur primären Prävention kardiovaskulärer Ereignisse wurden eindeutige geschlechtsspezifische Unterschiede in der Art der Prävention gefunden [29]. Während ASS bei Männern das Myokardinfarktrisiko um 44 % senkte, war es bei Frauen in dieser Hinsicht unwirksam. Auf das Schlaganfallrisiko hatte ASS bei Männern keinen Einfluss, während dieses bei Frauen um 17 % gesenkt wurde. Weder bei Männern noch bei Frauen senkte ASS die Gesamtmortalität kardiovaskulärer Erkrankungen [30, 31]. Als Erklärung für die einander entgegengesetzten Ergebnisse aus den ASS-Studien bei Männern und Frauen wurden anatomische, physiologische und funktionelle Unterschiede im Herz-Kreislauf-System, ein unterschiedlicher Hormonstatus, aber auch unterschiedliche Zeitpunkte für die Durchführung der beiden Studien diskutiert [29].

Unerwünschte Arzneimittelwirkungen, Toxizität

Nicht nur die therapeutische Wirksamkeit, sondern auch die Toxizität von Arzneimitteln kann zwischen Frauen und Männern erheblich variieren [32]. Einer der häufigsten Gründe für die Marktrücknahme von neuen Arzneimitteln ist das Auftreten von Lebertoxizität, wobei 74 % von akutem Leberversagen durch Medikamente bei Frauen auftritt [33].

Frauen haben ein um den Faktor 1,5–1,7 höheres Risiko UAWs zu entwickeln als Männer [6, 34]. Die Gründe hierfür sind nicht eindeutig. Frauen erhalten aufgrund ihrer im Durchschnitt geringeren Körpergröße eine höhere Dosierung in Bezug auf ihr Körpergewicht und eliminieren Medikamente oftmals langsamer, sodass sie höhere Arzneimittelkonzentrationen aufweisen. Neben diesen pharmakokinetischen Gesichtspunkten werden aber Frauen in der Regel mehr Medikamente verschrieben als Männern, sie sind oft zuverlässiger in der Einnahme der verschriebenen Medikamente, und sie mögen auch eher als Männer bereit sein, über ihre Beschwerden zu sprechen. Selbst wenn diese Faktoren rechnerisch berücksichtigt werden, blieb die beobachtete Inzidenz von UAWs in einer großen britischen Studie bei Frauen pro 10.000 Patientenmonate signifikant erhöht [35].

Viele Beispiele lassen sich für die deutlichen Geschlechtsunterschiede in der Verträglichkeit und der Art der unerwünschten Wirkungen anführen. Arzneimittelinduzierte Torsade-de-pointes-Arrhythmien (TdP) sind häufiger bei Frauen als bei Männern, dies gilt sowohl für Antiarrhythmika als auch für Pharmaka mit nicht kardialer Indikation [36, 37] (s. auch Odening K in dieser Ausgabe). Das erhöhte TdP-Risiko bei Frauen wird zum einen auf die längere frequenzkorrigierte QT-Zeit im EKG (QTc), zum anderen auf die bei Frauen größere QTc-Verlängerung durch die von den auslösenden Medikamenten hervorgerufene Kalium-Kanal-Blockade zurückgeführt [38, 39]. Der für ACE-Hemmer charakteristische trockene Reizhusten tritt bei Frauen häufiger als bei Männern auf [17]. Bei leitliniengerechter Therapie eines akuten Koronarsyndroms ohne ST-Strecken-Anhebung (non-ST-elevation) haben Frauen ein etwa doppelt so hohes Risiko schwerwiegende Blutungen zu erleiden als Männer, und dieses Risiko wird noch verstärkt, wenn sie zusätzlich mit Glykoprotein-IIb/IIIa- (GPIIb/IIIa-)Inhibitoren behandelt werden [40]. Interessanterweise wären 25 % dieser Blutungen vermeidbar, wenn die Dosis der GPIIb/IIIa-Inhibitoren bei Frauen an ihr niedrigeres Körpergewicht und ihre im Durchschnitt schlechtere Nierenfunktion angepasst worden wäre [40].

Unerwünschte Arzneimittelwirkungen stellen ein ernst zu nehmendes Gesundheitsproblem dar, das regelmäßig zu Krankenhauseinweisungen, Morbidität oder sogar Tod führt [4143]. Die Inzidenz von Krankenhauseinweisungen wegen UAWs liegt zwischen 3 und 6 % aller Hospitalisierungen [42, 43]. Je nach untersuchter Population standen schwerwiegende UAWs an vierter bis siebter Stelle der häufigsten Todesursachen [42, 44]. In den Niederlanden sind Rodenburg et al. kürzlich der Frage nach geschlechtsspezifischen Unterschieden für Krankenhauseinweisungen wegen UAWs in einer die gesamte nationale Bevölkerung umfassenden Analyse nachgegangen [45]. Es wurden nahezu 10 Mio. Krankenhauseinweisungen über einen Zeitraum von 6 Jahren (2000–2005) ausgewertet. Geschlechtsbezogene Unterschiede im Risiko für eine Einweisung wegen UAWs fanden sich für folgende Arzneimittelgruppen, nämlich kardiovaskuläre, neurologische, antineoplastische und immunsuppressive Medikamente, Antirheumatika, Antikoagulanzien, Salicylate, Steroide und Antibiotika. Insgesamt wurden mehr Frauen als Männer wegen UAWs hospitalisiert, allerdings kehrte sich das Verhältnis bei einigen Medikamenten um, wenn die Anzahl der Verschreibungen berücksichtigt wurde. Unter den kardiovaskulären Arzneimitteln führten Diuretika und Saluretika am häufigsten zur Hospitalisation. Im Vergleich zu Männern hatten Frauen ein mehr als 5-faches Risiko wegen Hypoosmolarität oder Hyponatriämie und ein mehr als 3-faches Risiko wegen Hypokaliämie eingewiesen zu werden, und dieses erhöhte Risiko blieb auch nach Korrektur um die größere Verschreibungshäufigkeit bestehen. Interessanterweise traten Synkopen oder Kollapse nach Vasodilatatoren oder Hypovolämien nach Saluretika häufiger bei Männern als bei Frauen auf [45].

Was ist zu tun?

Die genannten Beispiele für unterschiedliche pharmakologische Reaktionen bei Frauen und Männern zeigen, dass geschlechtsspezifische Besonderheiten für die individuelle Arzneimittelsicherheit eine Rolle spielen, wenngleich unser Wissen darüber noch in den Anfängen steht. Eine Verbesserung dieser Situation erfordert gezielte Maßnahmen.

  • Arzneimittelzulassende Behörden müssen darauf bestehen, dass Frauen in alle zulassungsrelevanten klinischen Studien für neue Arzneimittel paritätisch einbezogen werden. Bei Nichteinhalten dieser Bedingung ist eine ausdrückliche Begründung erforderlich.

  • Klinische Studien müssen konsequent auf geschlechtsspezifische Unterschiede hin analysiert werden.

  • Bekanntes und neues Wissen über unterschiedliche Arzneimittelreaktionen zwischen Frauen und Männern sollte sich in den Leitlinien für Diagnostik und Therapie verschiedener Krankheitsbilder niederschlagen [46]. Dies gilt ganz besonders auch für die Empfehlungen von Leitlinien zur medikamentösen Therapie von Frauen.

Autorenerklärung

Zwischen der Autorin dieses Beitrags und Herstellern von Arzneimitteln, die die besprochenen Wirkstoffe enthalten, bestehen keine finanziellen Verbindungen.