1 Einleitung

Globale Wanderbewegungen und Entwicklungen sind auf der politischen Landkarte als Phänomen im Fokus: „Wir werden aktuell Zeugen eines Paradigmenwechsels. Wir geraten in eine Epoche, in der das Ausmaß der globalen Flucht und Vertreibung sowie die zu deren Bewältigung notwendigen Reaktionen alles davor Gewesene in den Schatten stellen“, so UN-Flüchtlingshochkommissar António Guterres.Footnote 1

Die im UNHCR-Jahresbericht Global Trends 2014 veröffentlichten Zahlen belegen, dass weltweit knapp 60 Mio. Menschen auf der Flucht vor Kriegen, Konflikten und Verfolgung sind. Eine Zahl, die alle bisherigen übertrifft und die rasant weiter wächst (UNHCR Global Trends 2014).

Diese Entwicklung begann 2011 mit dem Ausbruch des Krieges in Syrien, der mittlerweile weltweit die größten Fluchtbewegungen verursacht hat. Zudem zeigt der UNHCR-Bericht auf, dass in allen Regionen sowohl die Zahl der Flüchtlinge als auch der Binnenvertriebenen steigt. In den letzten fünf Jahren sind mindestens 15 neue Konflikte ausgebrochen oder wieder aufgeflammt: Acht davon in Afrika (Côte d’Ivoire, Zentralafrikanische Republik, Libyen, Mali, Nordost-Nigeria, Südsudan und Burundi); drei im Nahen Osten (Syrien, Irak und Jemen); einer in Europa (Ukraine) und drei in Asien (Kirgisistan und in einigen Gebieten von Myanmar und Pakistan). Nur wenige Krisen konnten beigelegt werden, die Mehrzahl verursacht weiterhin Flucht und Vertreibung.Footnote 2 Ein Flüchtlingsstrom erreichte im Spätsommer 2015 seinen Höhepunkt, allen Polizeiaktionen und Grenzschließungsversuchen zum Trotz erreichten 700.000 Flüchtlinge und Asylwerber die EU-Staaten, wovon Deutschland 400.000 Einreisende zu bewältigen hatte. An neuralgischen Punkten der Wanderrouten werden Zäune und Barrieren errichtet, doch nicht nur die Flüchtlinge stoßen auf Grenzen, auch die Verantwortlichen ringen mit ihren Ressourcen und suchen nach adäquaten Antworten. Unsicherheit, Angst und Ohnmacht scheinen um sich zu greifen und weder auf EU-Ebene, noch auf nationaler, regionaler oder individueller Ebene scheinen sich rasche Antworten abzuzeichnen.

Die aktuelle Flüchtlings- und Wanderbewegung zeigt deutlich, dass die Zukunft für die Einwanderer – ob ArbeitsmigrantInnen, Kriegsflüchtende oder Wirtschaftsflüchtlinge – keine Blaupause der Vergangenheit ist bzw. sein kann. Sowohl die in Europa Ankommenden als auch die vor Ort Seienden sind konfrontiert mit einem unglaublichen Ausmaß an Fremdheit, Ungewohntem, Überraschendem und Beängstigendem. Um diesen Phänomenen zu begegnen, wird es vermutlich nicht reichen, Wertekurse anzubieten oder Integrationsvereinbarungen unterschreiben zu lassen. Einerseits stellt sich die Frage, in welcher Form und auf welchen Ebenen Integration stattfinden muss, andererseits erachten wir Beschulungen und (einseitig formulierte) Vereinbarungen für nicht zielführend. Unseres Erachtens geht es nicht um die Vermittlung von Wissen, sondern vielmehr um die Gestaltung von Interaktions- und Kooperationsprozessen unter Einbezug von Pluralität und Diversität. Eine Diversität, die über individuelle Unterschiede hinausgehend auch Alter, Religion, sexuelle Orientierung, Behinderung, Kultur etc. in den Blick nimmt und sich der Frage zuwendet, wie eine konfliktfreie Kooperation ermöglicht wird und Diversität als Potential gesehen werden kann. (vgl. Döge 2008; Stuber 2009). Dabei orientieren wir uns an Konzepten, die unter dem Stichwort „emerging from the Future“ das sich selbst neu Generieren als kollektive Zukunftsgestaltung in den Vordergrund stellen. Mit dem Blick durch und für das Ganze (System/Gesellschaft) wird ohne Auszugrenzen oder Schuldzuweisungen das Eigene und das Andere in seiner Unterschiedlichkeit in den Blick genommen und das gemeinsame Agieren für das Kollektiv fokussiert (vgl. Scharmer 2009; Scharmer und Kaufer 2013).

Die gelungene Kooperations- und Zukunftsgestaltung unter Beteiligung von „Fremden“ und „Ortsansässigen“ bedarf einer proaktiven Gestaltung, welche ein hohes Maß an sozialen Kompetenzen voraussetzt, eine Kompetenz, die auf „beiden Seiten“ entwickelt werden kann.

Sowohl zur Entwicklung dieser Kompetenzen als auch zum Erleben und Erlernen sozialer Verhandlungsprozesse, weist die gruppendynamische Trainingsgruppe ein hohes Potential auf.

Die gruppendynamische Theorie- und Methodenentwicklung stellen seit ihren Anfängen einen entwicklungsorientierten und gesellschaftspolitischen Anspruch. In der gruppendynamischen Trainingsgruppe (TG) geht es um die Verknüpfung der Theorie in der gegenwärtigen Praxis, ein Anspruch, der seine Wurzeln in der antiken praktischen griechischen Philosophie (insbesondere bei Platon und Aristoteles) hat. Zum einen wird das soziale System Gruppe von der Geburt weg entwickelt und diese Entwicklung steht im Kontext von Handlungserweiterung und aktiver Zukunftsgestaltung: Handlung, ihre Beobachtung und Reflexion liegen eng nebeneinander. Sie verfolgt die Intention, demokratische Verhältnisse zu fördern und im Umfeld von Diversität und Pluralität einen Zustand kollektiver Autonomie zu erreichen. Sie ist ein geeigneter Ort, Formen der Interaktion, der Auseinandersetzung, der Differenzierung zu erproben und die Gestaltung von Kooperationsräumen zu erleben. Dies, weil sie die reflexiv-hybride Verbindung der Philosophie als „Wissenskörper“ und des Philosophierens als Tätigkeit in sich trägt. Dabei werden interaktive Formen der Vermittlung wichtig, in denen sich dieses gemeinsame Philosophieren und Gestalten ereignen kann (vgl. Krainz 2006, S. 13). Auch für Kurt Lewin (vgl. Lewin 1947) stand das interkulturelle Lernen im Zentrum der Forschung und verankert in dieser Tradition haben wir unsere Heimat in der Vorstellung einer praktisch werdenden Sozialphilosophie. Denn die Dinge werden anders, „wenn man sie bedenkt, sie „reflektiert“. Sie werden besser „verdaut“ und insofern handhabbarer, als man ihnen gegenüber zu einem bewussteren Verhältnis kommt (…). Das ist jedenfalls die Idee der Selbstaufklärung, die wir im Sinn haben, womit auch eine politische Dimension verbunden ist“ (Krainz 2013, S. 41).

Die Trainingsgruppe kann als ein Sich-Selber-Neu-Erfinden gesehen werden. Im gemeinsamen Tun werden im gelungenen Fall Ausgrenzungen, Spaltungen, Stereotypisierungen und Schubladisierungen transformiert. Was bei König und Schattenhofer (2006) als Pendelbewegung vom Ich zum Wir bezeichnet wird, ist für uns eng an den Begriff des „Action research“ und „action learnings“ geknüpft (vgl. dazu ausführlich Spindler 2013). Im Mittelpunkt stehen dabei Gesetzmäßigkeiten der Kommunikation und ihre Implikationen auf das System und seine Individuen:

  • Der Umgang mit Unsicherheit und Unterschieden (emotionale und kognitive Zugänge, Wahrheitskonzepte, Autoritätskonzepte, Verbindungsqualitäten, Geschlecht, soziale Herkunft und Prägung, Alter, ethnische und kulturelle Zugehörigkeit, professioneller Hintergrund, Religion und Familienstand etc.).

  • Die Wechselwirkung zwischen Individuum und System (der Umgang mit Vorurteilen, Einstellungen, Erwartungen, Irritationen, die kollektive Affektivität (Pages 1974) und deren Einfluss auf individuelles Verhalten und auf die Gruppenentwicklung).

  • Die Gruppe im Kontext der Organisation und Intergruppenphänomene und -prozesse.

Der Ausgangspunkt für diesen Prozess ist die bewusste und reflektierte Auseinandersetzung mit der eigenen Unsicherheit und Angst. Furcht gegenüber dem Anderen, dem Fremden, dem Unangenehmen, dem Ungewollten – eben dem Neuen. Damit in Verbindung steht der Blick auf sich selber, das In-Frage-Stellen eigener Muster, eigener (unreflektierter und ungeprüfter) Wahrheiten und eingeschliffener Übereinkünfte in der Komfortzone. Damit wird auch die Relevanz dieses Verfahrens für die aktuelle Migrationsfrage erkennbar. Unsere Fragen hier sind: Was kann die Gruppendynamische Trainingsgruppe (TG) zur Auseinandersetzung mit wirkmächtigen Unterschieden, den damit verbundenen Emotionen und der Erweiterung interkultureller Kompetenz (den Umgang mit Fremdem) beitragen und welchen Mehrwert stellt das in der TG Gelernte und Erfahrene für die Erarbeitung von stabilen Kooperationsverhältnissen dar?

Ausgehend von zwei kurzen Fallvignetten arbeiten wir den Zusammenhang zwischen individuellen und kollektiven Entwicklungsprozessen heraus und widmen uns der Kompetenzerweiterung im Umgang mit persönlich-moralischen sowie sozial-kollektiven Grenzziehungen und Erneuerungen.

2 Fallvignetten und empirischer Hintergrund

Die folgenden Fallvignetten dienen der empirischen Annäherung und beschreiben auf der Ebene des Individuums und der Gruppe die Komplexität der Anforderungen. Zum einen geht es auf individueller Ebene um die Reflexion der unkontrollierbaren, durch unsere Sozialisation bedingten Emotionen und Ängste. Die zweite Vignette skizziert eine interkulturell zusammengesetzte Gruppe und zeigt, wie Emotionen, Vorurteile, Zuschreibungen und falsch verstandene Toleranz mit der Entwicklung des Systems verwoben sind.

2.1 Fallvignette 1: Flüchtlingssituation in Wien – Auszug aus einem Coachingprozess

Tagebuch, 9. Oktober 2015: Österreich ist täglich mit tausenden Flüchtlingen, vor allem aus Syrien und Afghanistan, konfrontiert.

Ich gehe – wie so oft – zum Bahnhof und bereits am Hinweg spüre ich ein Unbehagen, eine Unsicherheit und ein Zögern in mir aufsteigen. Im Halbbewussten tauchen Gedankenfragmente auf – „hoffentlich kann ich mich gut bewegen und muss nicht wieder diesen Geruch der vielen Flüchtlinge ertragen“. Beim Eintritt in das Bahnhofsgebäude drücke ich instinktiv meinen Rucksack fester an mich und die Sorge um Hab, Gut, Brieftasche und Kreditkarte streift leise durch mich hindurch. Zeitgleich und unmittelbar macht sich mein schlechtes Gewissen und ein Schuldgefühl breit: „So kannst du nicht denken und fühlen, Du bist nicht ausländerfeindlich, du weißt es besser und du willst auch nicht zu den Ausgrenzenden gehören!“ Am selben Tag hörte ich einen Beitrag im Radio, der mir weiter half. In meiner Erinnerung eingeschrieben bleibt sinngemäß: „Auch ich habe manchmal Angst vor dieser Situation der Flüchtlinge, was ich jedoch kann, ist mir die Angst bewusst zu machen. Und ich sehe es als meine Aufgabe, auch andere dabei zu unterstützen. Wir können andere dabei unterstützen ihre Angst bewusst zu machen, damit sie nicht in Form von Fremdenhass ausagiert wird“. Ja, so denke ich mir, das ist auch meine Aufgabe. Die Angst bedarf der Integration, die Reflexion und der Prozess des Bewusstmachens sind der Beginn jeglicher Integrationsbewegung. Ich will das zu meiner Aufgabe machen, und denke darüber nach, wie ich das umsetzen kann.

Zentral scheint uns hier die Bewusstwerdung der subjektiv erlebten Unsicherheiten und Ängste. Es sind eingeübte Muster, die es gilt als Kollektiv, als Gruppe, als Gesellschaft auszusprechen ohne mit dem moralischen Zeigefinger zu verurteilen oder den anderen in eine schwache und untergeordnete Position zu bringen. Die zweite Fallvignette zeigt, wie wir diese individuelle Bewusstmachung im Kollektiv des gruppendynamischen Settings trainieren können. Sichtbar wird dabei wie wichtig die aktiven, individuell unterschiedlichen Beträge aller Beteiligten sind.

2.2 Fallvignette 2: Die Gruppe und die Muslimin

Die nachfolgende Beobachtung bezieht sich auf eine Trainingsgruppe, die 2013 an einer technischen Universität durchgeführt wurde. Die Trainingsgruppe dauerte 5 Tage, die Studierenden kamen aus unterschiedlichen Fachrichtungen und waren sowohl in Bezug auf Alter, Geschlecht und gruppendynamischer Vorerfahrung heterogen gemischt. Den zu Beginn sichtbarsten Unterschied in der Gruppe machte eine muslimische Gruppenteilnehmerin, die einen HijabFootnote 3 und bunte muslimische Kleidung trug und der Gruppe bereits in der Vorstellungsrunde anbot, sich zu erklären, warum sie das Kopftuch trägt. Die Gruppe reagierte abwehrend, beteuerte, dass dies kein Problem sei und es ein Gebot der Toleranz sei, Derartiges zu akzeptieren und nicht zu hinterfragen. Die attraktive junge Frau, mit der kaum kommuniziert, geschweige denn Beziehung aufgenommen wurde, versuchte noch mehrmals, sich von der Isolation zu befreien und sich erklärend einzubringen, wurde aber kollektiv ignoriert. Als die Trainerin der Gruppe die Hypothese zur Verfügung stellte, dass man möglicherweise den Toleranzbegriff missbrauche, ja, Toleranz vortäusche, um der Ignoranz jenen Raum zu lassen, den Verdrängung benötigte, um sich nicht mit dieser Form der Fremdheit auseinandersetzen zu müssen, kam Leben in die Gruppe. Die Intervention ermöglichte zu diesem Zeitpunkt zwei Dinge: Erstens überprüfte die Gruppe ihr Verhältnis zur Autorität indem Zweifel und Kritik Platz griffen, und zweitens nahm sie Beziehung zur Muslimin auf. Im Zuge dieser Beziehungsaufnahme konnten letztlich alle Vorurteile, Vermutungen und Ängste an- und ausgesprochen werden. Die Männer sprachen von ihrem Interesse an der hübschen Frau und ihrer Angst vor einem vermeintlichen Bruder, der womöglich mit dem Messer vor der Universität warten würde und dem imaginierten Vater, der die Tochter verstoßen würde, wenn sie mit einem an ihr interessierten Gruppenteilnehmer Kaffee trinken würde sowie der Aura des Geheimnisvollen, die das Kopftuch verbreitete. Sukzessive fand ein Prozess der Selbstaufklärung statt. Die junge Frau war über die Zuschreibungen einerseits erstaunt und auch betroffen, andererseits amüsiert und erklärte, dass sie lieber Tee als Kaffee trinke, das Kopftuch gegen den Willen der Eltern trage und gar keinen Bruder habe. Darüber hinaus entwickelte sich eine Auseinandersetzung mit der Befindlichkeit der Anwesenden. Die Männer waren gekränkt über das mit dem Kopftuch verbundene Männerbild. Die Muslimin war irritiert darüber, dass gerade die Kleidung – welche eine gegenteilige Wirkung haben sollte – das Interesse der Männer weckte und z. T. erotische Phantasien auslöste. In weiterer Folge wurde ein Bewusstwerdungsprozess möglich, der nicht nur diese besondere, sondern viele andere Differenzen (Geschlecht, Trainerautorität, divergierende Fachrichtungen und disziplinären Sozialisierungen) einschloss, und der es ermöglichte, kollektiv abgestimmte Normen und Formen für den Umgang mit diesen Differenzen zu entwickeln.

3 Das Fremde und wovor sich Menschen fürchten können

Wie in den Fallvignetten exemplarisch nachgezeichnet, bringen die aktuell unkontrollierbaren und unüberschaubaren Grenzüberschreitungen verstärkt das offensichtlich Fremde und Verschiedene in unsere Länder, Kulturen und Herzen. Muster werden aktiviert und verstärkt, die uns nicht immer mittelbar zugänglich sind. Das Maß dieser Fremdheit ist derzeit kaum beschreibbar, die Auswirkungen schwer fassbar. Ob Fremdheit eine Bereicherung oder eine Bedrohung ist, obliegt unserer eigenen und kollektiven Interpretation. Welche homöopathischen Dosen verkraftbar werden und was ein Zuviel ist, was zu einem Kampf um Eigentum, Herrschaft, Sprache, Religion, Werte, Sitten, Gebräuche und Identität wird, hängt von unseren individuellen Handlungsmöglichkeiten und gemeinsam organisierten Entwicklungsmöglichkeiten für Individuen und Organisationen ab.

Das Fremde und das Verschiedene außerhalb von uns und in uns hat eine lange Tradition. „Die meisten Menschen interessieren sich kaum für die Welt“, schrieb Kapuscinski (2008, S. 14) in „Der Andere“. Und es sei im Laufe der Geschichte schon immer so gewesen, dass es Zivilisationen gab und gibt, die nicht nur kein Interesse an Anderen zeigten, sondern sich vielmehr als Mittelpunkt der Welt verstanden und sich dementsprechend von anderen abgrenzten. Dieses Selbstverständnis, Devereux (1998, S. 192) nennt es das „Selbst-Modell“, ist der wesentliche Ausgangspunkt in der Gestaltung menschlicher Interaktion.

„Am anderen Ende der Skala steht die Annahme, dass nur das eigene Selbst-Modell allgemeingültig ist und jede Abweichung von diesem Standard seitens anderer in absichtsvoller Bosheit geschieht. Ein solcher Narzissmus der kleinen Differenzen (Freud) reflektiert die Zweifel des Menschen an der Allgemeingültigkeit seines Selbst-Modells. Eine direkte Konsequenz des menschlichen Schwankens zwischen der Überzeugung, dass nur sein Selbst-Modell universell gültig sei, und der Angst, dass dem womöglich nicht so sein könnte, ist seine Neigung, Differenzen einerseits zu leugnen und anderseits zu vergrößern – Letzteres meistens, um die Missachtung und/oder Unterdrückung derer zu rechtfertigen, die sich von diesem Selbst-Modell unterscheiden oder sich von ihm zu unterscheiden gezwungen sind“ (Devereux 1998, S. 195 ff.).

Huntington (2002, S. 95) verweist in seinem durchaus kontrovers aufgenommenen Werk „clash of civilizations“ auf die Negation des Fremden, auf die Distinktivitätstheorie, die besagt, „dass Menschen sich über das definieren, was sie in einem bestimmten Kontext von anderen unterscheidet, (…) Menschen definieren ihre Identität über das, was sie nicht sind“. Voraussetzung für diese Art der Identitäts- und Kulturbildung ist nach Buchinger (2008, S. 14 ff.) die Differenz, die das Verhältnis von Eigenem und Fremdem bezeichnet: „Ist das Fremde das Ausgeschlossene und das Eigene das, was es demgegenüber zu bewahren gilt, so ist, ohne dass man es merkt, das Ausgeschlossene immer schon eingeschlossen, aber eben als Ausgeschlossenes. Denn erst wenn das Fremde in Erscheinung tritt, entsteht das Eigene als Eigenes. (…) Ist das Eigene ein durch das Fremde gefährdeter Besitzstand, dann muss das Fremde draußen gehalten werden. Kultur definiert sich dann als Differenz zur Unkultur, zu den Barbaren. Aber gerade durch das Draußenhalten ist das Fremde immer schon eingedrungen, entweder indem man es interessant findet, oder indem man die Anstrengung des Draußenhaltens, der Abgrenzung als wichtige Tätigkeit kultiviert, oder eben indem man das Fremde als bedrohlich, barbarisch bekämpft, auszurotten versucht und genau damit das tut, vor dem man sich schützen möchte, sich selbst barbarisch verhält.“

Es bedarf also – und das mag man paradox nennen – der gegenseitigen Anerkennung. Denn, wenn eine Seite „gewinnt“, hebt sie durch den Sieg jenes Bewusstsein auf, das sich im Außersichsein finden sollte, weil dieses Außersichsein vernichtet wurde. Es verschwindet die Möglichkeit des sich im Anderen Findens (vgl. Buchinger 2008). Nach Freud (2000) geht es zudem nicht nur um diese Form der „Anerkennung“, sondern auch um den notwendigen Vergleich mit anderen Kulturen. Aus dieser Differenz heraus spricht sich jede Kultur das Recht zu, andere Kulturen gering zu schätzen. Kulturideale und -unterschiede bieten Anlass zu Ablehnung und Feindschaft. Der Ego-Fokus bewirkt ein Entgegenwirken zur Kulturfeindschaft innerhalb des eigenen Kulturkreises, weil alle Klassen gleichermaßen an diesen Leistungen Anteil haben können, und die Möglichkeit, Außenstehende dafür zu verachten ihre eigene Situation erträglicher zu machen erscheint (vgl. Freud 2000, S. 144 ff.). Die Geringschätzung generiert sich aus unterschiedlichen Kulturelementen, die einander fremd sind und einer Auseinandersetzung bedürften. Huntington (2002, S. 52) identifiziert unterschiedliche Elemente von Kultur und vertritt die Ansicht, dass „von allen objektiven Elementen, die eine Kultur definieren, das wichtigste für gewöhnlich die Religion ist. (…) In ganz hohem Maße identifiziert man die großen Kulturen der Menschheitsgeschichte mit den großen Religionen der Welt. (…) Menschen, die Ethnizität und Sprache miteinander teilen, sind fähig – so im Libanon, im früheren Jugoslawien und auf dem indischen Subkontinent – einander abzuschlachten, weil sie an verschiedene Götter glauben.“ In seiner Argumentation verweist er darauf, dass Menschen unterschiedlichster Kulturen und Ethnien durch eine gemeinsame Religion befriedet sein können – hier speziell durch die großen missionarischen Religionen des Islam und des Christentums, anderseits Menschen gleicher Ethnie durch die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Kulturen – und Religionen – vor unüberbrückbaren Hindernissen stehen. Gemeinschaften unterscheiden sich primär bezüglich ihrer Werte, Überzeugungen, Institutionen und Gesellschaftsstrukturen und nicht wegen körperlicher oder rassischer Merkmale.

Dem widerspricht Amartya Sen (2007, S. 20 ff.) aufs Heftigste, indem er behauptet, Huntingtons Thesen wären nur eine „parasitäre“ Weiterführung jenes Gedankens, die Welt in unterschiedliche Kulturen einzuteilen, deren Schnittstellen zufällig die religiösen Trennlinien seien. Er will seinerseits die Menschen in anderen Kriterien unterschieden wissen, wie Nationalität, Klasse, Rasse, Berufsgruppen, Sprachen, politischen Haltungen, Interessen, Geschlecht usw., die über kulturelle Grenzen hinaus Zugehörigkeiten vermitteln. Sen vertritt die Ansicht, der Mensch besitze die Freiheit zu wählen, in welchen dieser Kriterien er sich gerade bewegen muss oder möchte und keine dieser Identitäten dürfe als die einzige Zugehörigkeitskategorie verstanden werden.

Unabhängig der jeweilig unterschiedlichen Kategorisierungen erhebt jede Zivilisation, jede Kultur und jede Religion für sich einen Wahrheitsanspruch. Eine Auseinandersetzung mit diesen Wahrheiten würde einerseits bewusst machen, dass die eigene Wahrheit relativ – somit keine – ist und könnte möglicherweise einen individuellen wie kollektiven Kultur- und Identitätsverlust nach sich ziehen.

Die Begegnung mit dem Fremden ist ob all der beschriebenen Hintergrunddimensionen von hoher Unsicherheit getragen. Emotionale Begleiterscheinung, die in der Regel eine kommunikative Begegnung verhindert, ist – wie eingangs erwähnt – die Angst. Menschliches Handeln lässt sich – aus einer psychologischen Argumentation heraus (vgl. Krainz 1982, S. 330 ff.) – in bewusste und unbewusste Motive unterteilen. Man weiß nicht, warum man das, was man tut, eigentlich macht, und die jeweilige Handlungsfreiheit wird von (oft) irrationalen Ängsten begrenzt.

Bewusstwerdung würde bedeuten, sich dieser unbewussten und irrationalen Ängste reflexiv anzunähern und sich sowohl mit den eigenen Abwehrreflexen und sich daraus abgeleiteten Handlungsmustern als auch mit dem jeweiligen „andersartigen“ Gegenüber auseinanderzusetzen, Skepsis und Kritik können und müssen dabei genauso ihren Platz finden wie Toleranz und Akzeptanz. Ulrich Krainz (2014, S. 42) plädiert in Bezug auf die Islamophobie für eine differenzierte Debatte, sein Hinweis lässt sich aber u. E. auf alles Fremdenphobische ausweiten, wenn er meint: „Dieser skeptisch-kritische Zugang bedeutet nicht bloßes, womöglich „politisch unkorrektes“ Kritisieren als Selbstzweck, sondern impliziert einen aufklärungsorientierten Habitus und letztendlich ein grundsätzliches Infragestellen religiöser [und kultureller, Anm. Autorinnen] Überzeugungen, Normativität und Autorität, sowie der daraus resultierenden Ansprüche an die jeweils individuelle Lebensgestaltung und Lebensführung.“

Ist die Angst eine Grundkonstante in der Konfrontation mit der Fremdheit, bedeutet die kommunikative Gestaltung im interkulturellen Kontext ein Heraustreten aus dem jeweiligen kulturellen Biotop. Das kann als Identitätsakt ohne Netz empfunden werden, ein Akt jedoch, der den Prozess des gegenseitigen Angstabbaus einleiten und interkulturelle Leistungen beginnen lassen kann. Dieser Prozess startet die Entwicklung von einem Ich zu einem Wir und ermöglicht die Kreation einer gemeinsamen, neuen Identität – bestenfalls ohne die eigene, alte vollkommen aufgeben zu müssen.

4 Die Gruppendynamische Trainingsgruppe als kollektiver Lernraum

Gruppendynamische Trainingsgruppen (TG) stellen sowohl auf der Ebene des Settings als auch im Hinblick auf die Lernanforderungen eine Intervention per se darFootnote 4. Diese rekursiven Lernsysteme tragen auf mehreren Ebenen ein hohes Potential in sich: Die Gruppe beschäftigt sich mit sich selbst, beobachtet das Geschehen der eigenen Gruppe, bearbeitet die auftauchenden Themen und reflektiert Phänomene sowie Entwicklungsschritte. Insbesondere wird der Umgang mit Fremdheit, Unterschiedlichkeit und Führungserwartungen in unsicheren Situationen einer metareflexiven Kommunikation unterzogen. Angesichts der eingangs beschriebenen gesellschaftspolitischen Herausforderungen ist dies notwendiger denn je, zumal das Zurechtkommen mit Unterschieden und Widersprüchen generell eine hohe Anforderung an Individuen und Gruppen stellt. Dies deshalb, weil „die menschliche Spezies Veränderung widersteht, sie sucht nach Homöostase. Das macht die ständige Anpassung, die Diversity erfordert, schwierig für Menschen, die sich bereits von überwältigenden Übergangssituationen bedroht fühlen. (…) Menschen finden Trost und Zuversicht in Gleichheit. Wir alle teilen die Tendenz, die Gesellschaft jener zu suchen, die uns ähnlich sind“ (Gardenswartz & Rowe zit. n. Vater 2008, S. 145). In Anbetracht der aktuellen Gegebenheiten bedarf es also einer neuen Art von Sicherheit, eine, die sich aus der Auseinandersetzung mit dem Fremden generiert und die ein gewisses Maß an interkultureller Kompetenz voraussetzt. Eine Anforderung, die nicht ganz neu ist.

Die Wurzeln der Gruppendynamischen Trainingsgruppe finden sich beim Gestalt- und Sozialpsychologen Kurt Lewin. Lewin war geprägt von den gesellschaftspolitischen Entwicklungen Deutschlands in den dreißiger Jahren und floh – von den Nationalsozialisten vertrieben – in die Vereinigten Staaten. In Boston widmete er sich der experimentellen Feld- und Gruppenforschung und konzentrierte sich auf die Frage, „wie der Ausprägung autoritärer Führungsstrukturen und der Dynamik rassistischer Diskriminierung entgegengewirkt werden kann“ (Wimmer 2006, S. 38).

Die Forschungsergebnisse Lewins, die jene Effekte beschreiben, die eine Institutionalisierung von Selbstreflexion hervorbringen, können nach wie vor als Grundlage für die gegenwärtige Lernform der Trainingsgruppe gesehen werden. „Es zeigte sich nämlich, dass Gruppen mit Hilfe dieser institutionalisierten „Metakommunikation“ (d. h. der Kommunikation im Hier und Jetzt über das laufende Kommunikationsgeschehen) die Fähigkeit entwickeln, störende Selbstblockaden wieder aufzulösen, schwelende Konflikte zu bereinigen, stabile Machtasymmetrien zu relativieren, d. h. feste emotionale Abhängigkeiten in Führer-/Gefolgschaftsbeziehungen zu lockern, wechselseitige Vorurteile meist rassistischer und geschlechtsspezifischer Natur nachhaltig zu verflüssigen“ (Wimmer ebd.).

4.1 Gruppendynamische Trainingsgruppen als Differenzierungs- und Integrationssetting

Trainingsgruppen als Labor und Lerncontainer weisen als spezifisches Settingelement das „soziale Nichts“, eine Einstiegsleere, ein Führungsvakuum auf: „The t‑group trainer creates a leadership vacuum from the outset of the group. He or she does not assume the traditional, directive leadership role. Instead, she states the purpose of the group – to study it’s own behavior – and then remains silent. The perceived ambiguity of the stated purpose instantly creates anxiety in members and leads them to seek further clarification from the trainer. He resists their efforts to entice him to lead“ (Wheelan 1990, S. 29).

Dieses Verhalten der Trainerin, des Trainers ist vor allem für Menschen, die Anleitung gewohnt sind, überraschend und führt zu unterschiedlichen (Gruppen)Reaktionen wie Rückzug, vermehrte Aktivität, vermehrte Kontaktaufnahme, Flucht etc. Agierende Personen können als Sprachrohr der Gruppe gesehen werden. Ihre Reaktionen sind weder gut noch schlecht, sondern Ausdruck der Dynamik des Systems. Dieser Ausdruck ist wertvolles Kommunikationsmaterial, das es gilt gemeinsam in das Bewusstsein des Systems zu bringen. Speziell am Beginn ist es die Aufgabe der Trainerin, des Trainers dieses Setting und den freien Raum offen zu halten, bis er von den Mitgliedern der Gruppe getragen werden kann. Dieses „Vakuum“ ist nicht nur ein leeres Nichts, es enthält die Fülle des Potentials der gemeinsamen und nicht top-down gesteuerten Entwicklung eines Begegnungsraumes. Erst unter diesen Voraussetzungen ist soziales Lernen möglich und die Gruppe kann als Resonanzkörper dienen.

Dies klingt vorerst positiv, jedoch reagieren Gruppen erfahrungsgemäß zu Beginn ängstlich auf das durch den Trainer/die Trainerin verursachte Führungsvakuum. Struktur- und führungsgewöhnte Menschen treffen auf einen unstrukturierten sozialen Raum voller Differenzen, (eine erste und sehr spezifische Herausforderung, der man sich stellen muss) wir verweisen an die zweite Fallvignette zu Beginn, in welcher gezeigt wird, dass diese spezifischen Ängste und Unsicherheiten überwunden werden können, die Gruppe und die Menschen in solch ungewohnten Räumen erst langsam handlungs- und bewegungsfähig werden.

4.2 Gemeinsames Arbeiten im Hier und Jetzt – die Trainingsgruppe als Lernform für gesellschaftliche Transformation

Diese direkte Bearbeitungsform über sich selbst ist möglich, weil die Form zum Inhalt wird. Damit weist die Trainingsgruppe eine nicht alltäglich gewohnte Arbeitsform auf. Sowohl die Inhalte als auch die Form, ihr Erleben und Gestalten werden zu zentralen Themenstellungen. Das ermöglicht, dass die Gruppe sich a) das Material, das sie untersuchen will, in der gemeinsamen Interaktion im Hier und Jetzt selbst generiert, indem sich die Mitglieder über Wahrnehmungen, Phänomene, Verhaltensweisen, Reaktionen, unbewusste Standards und inhaltliche Themen verständigen und b) gleichzeitig ihre Entwicklung auf einer Metaebene reflektiert. (vgl. Heintel 2008; König und Schattenhofer 2012; Spindler 2013a; Lerchster 2011). Durch die Pendelbewegung zwischen Aktion und Reflexion, kommt das Andere, die Differenz, das Neue in den Blick und die Gruppe durchläuft einen permanenten Suchprozess nach Anhaltspunkten für ihr gemeinsames Vorankommen. Diese Referenz auf sich selbst erfordert und erzeugt ein Hier und Jetzt. Sie ist eine riskante und gleichzeitig ermöglichende Ausrichtung für Selbstwahrnehmung, Selbstaufklärung, Selbstgestaltung und Sinngenerierung. Im Hier und Jetzt kann die gemeinsame Vergangenheit und die gemeinsame Zukunft erkundet werden.

„Sense-making“ (vgl. Spindler und Wagenheim 2013) gewinnt an Boden: Was macht Sinn für uns als Gruppe? Wie wollen wir unsere Situation gestalten? Welche Bedingungen für unser individuelles Handeln schaffen wir uns mit welchen Bildern und Normen? Gleichzeitig wird Sinn für Individuen generiert: Welchen Einfluss hat diese Kooperationsform auf mich und auf andere? Was ist mein Beitrag zu diesem System mit welchen Auswirkungen? Welche Position habe ich in diesem System und welche will ich haben?

Mutige Schritte in das Neue und Unbekannte sind Voraussetzung für die Gestaltung des Hier und Jetzt. Beharrlichkeit, sich Orientierung verschaffen, Hinterfragen und Erfragen sind Qualifikationen, die erlernt werden können und die für die Ausdifferenzierung und das Wachsen des Systems erforderlich sind.

Im positiven Gelingen ist die Trainingsgruppe eine Lernform für die Bearbeitung von Differenzierungs- und Integrationsprozessen, für gesellschaftlich-soziale Themen wie die Exploration und Inklusion von Unterschieden. Sie kann mit den oben dargestellten Rahmensetzungen aktive und kollektive Zukunftsgestaltung eröffnen und dynamisch-integrativ durch Unterschiede lernen (vgl. Scala 2013). Der Fokus auf Ganzheit und Integration als System fördert die Nutzung der Unterschiede als Ressource. Diese können in einem ersten Schritt als unbekannte Hürden wahrgenommen werden und sich durch Vergemeinschaftung als Lernmöglichkeiten erweisen. Die eine Wahrheit der Emotion, der Wahrnehmung, der Perspektive verbindet sich und wird durch das größere Ganze transformiert und das System wird weiterentwickelt. Die Trainingsgruppe wird ein Raum für Transformation durch Differenzierung und Integration der Unterschiede nicht nur in Worten, sondern im tiefen Erfühlen in der Wahrnehmung. Forsyth und Burnette (2010) nennen diese Anforderung an den individuellen und gemeinsamen Lernprozess „multi level perspective“.

Vater (2008) betrachtet die Trainingsgruppe als einen Lernort für Diversity. Welche Unterschiede behandelt werden, hängt auch von der Zusammensetzung der Teilnehmenden ab. Eine Trainingsgruppe mit Managerinnen und Managern aus Nigeria hat andere Möglichkeiten als eine mit Jüdinnen und Juden aus Israel, den USA und Österreich. Eine Gruppe von Asylsuchenden aus Syrien wird andere Unterschiede behandeln als eine Gruppe von ExekutivbeamtInnen aus Österreich. Eine gemischte Gruppe, die aus Asylsuchenden und Exekutive besteht, wird wieder zu anderen Lösungen kommen, weil sie mehr Unterschiede zu bearbeiten hat, um die Menschen in ihrer Gesamtheit in das gemeinsam zu schaffende System zu integrieren. Gelernt wird auch, dass Tendenzen der Ausgrenzung von Unterschieden und damit unbewusste Angst und Irritationen gleichzeitig die Grenze der Entstehung des lernenden Kollektivs darstellen.

5 Diskussion und Conclusio

Die TG ist ein Fremdheits- und Irritationscontainer, der Ängste und kulturelle Selbstverständlichkeiten bewusst macht. Individuelle Unsicherheiten und Angst, wie sie im erstenFallbeispiel sichtbar wurden, können bspw. im Kollektiv der Trainingsgruppe exploriert und dem Kollektiv als Gestaltungsdimension dienen. Der eigene konstruktive Umgang mit Unterschieden, Fremdem und Unbekanntem und neuer Information ist Entwicklungsvoraussetzung und zugleich Resultat für Musterwechsel. Die Verschränkung des individuellen und kollektiven Lernens in Aktion und Reflexion ermöglicht den gemeinsamen Aufmerksamkeits- und Schöpfungsprozess. Es formt eine Einheit und Differenz von Denken, Fühlen, intentionalem Handeln und Beobachtung der Auswirkungen des individuellen und kollektiven Handelns.

Die Individuen und mit ihr der Sozialkörper Gruppe als Gesamtes gestalten sich neu, lösen sich aus unbewussten Mustern, Fixierungen, Vorurteilen und erblicken den Umgang mit Schattierungen zwischen den schwarz-weiß-Polen – wie Fallvignette 2 zeigte. Prozesse kommen in Gang, in denen die Gegensätze aufeinandertreffen, sich wechselseitig erkennen und anerkennen und beginnen, so ihr Verhältnis zueinander neu zu leben. Diese Prozesse erneuern den Sozialkörper Gruppe, seine sozialen Relationen und vernetzen sich neu mit den Individuen.

Die maßgeschneiderte Transformation für eine gemeinsam erschaffene Zukunft von Teams, Organisationen und Gesellschaft im Hier und Jetzt kann als Entwicklungsprinzip erfahren und erlernt werden. Dies kann für die Anforderungen der gesellschaftlichen Bewegungen wie Migration und ihren Auswirkungen einen Beitrag leisten. Vergemeinschaftete Transformation ist Voraussetzung für die Nutzung von Möglichkeiten, für die Schaffung von neuem und für eine positive Zukunftsgestaltung.

Jede Verfremdung, jede Überfremdung trägt Potential für eine gemeinsame Weltgestaltung in sich. Die aktuelle europäische und globale spezifische Situation ist schwierig und komplex für die Einzelnen und das System als Ganzes. Die aktive Auseinandersetzung mit Unsicherheiten und Ängsten bietet aber einerseits die Möglichkeit, Überkommenes aufzubrechen, Gewohnheiten zu hinterfragen und unsere integrativen Grenzen auszuloten. Andererseits fordert es Entwicklung: Unsere selbstkritische Frage, die wir hier stellen, lautet: Haben wir die kollektive Transformations- und Neuschaffungsqualität ausreichend erlernt, die der Quantität und Differenziertheit an Fremdem gegenüber steht, falls nicht, wie können wir dieses Lernen ankurbeln? Wo sind Grenzen zu ziehen und geschützte Räume zu schaffen?

Es wird künftig nicht ausreichen, Wertekataloge zu definieren und AsylwerberInnen anzuhalten, Wertevereinbarungen zu unterzeichnen. Kein Mensch einer anderen Kultur gibt seine Sozialisation, seine religiösen Überzeugungen, seine Wert- und Moralvorstellungen an der Grenze ab, wenn er diese überschreitet. Insofern wird ein umfassender kollektiver Entwicklungsprozess mit einer Aus-einandersetzung und Zu-einandersetzung unumgänglich.

Ein Dialog kann ein erster Schritt sein, Schattierungen und bunte Farben zwischen den schwarz-weiß-Polen erkennbar zu machen. Zudem gilt es, geschützte Räume zu eröffnen, die Prozesse der Beziehungsaufnahme durch Erblicken, Differenzieren und Anerkennen der Unterschiede zu nutzen um uns als System neu zu gestalten.

Dabei können wir folgende Bewusstwerdungserfordernisse erkennen:

  1. 1.

    Welche Auswahl treffen wir individuell und als Kollektiv aus der Vielfalt an Möglichkeiten in neuen, unsicheren Situationen und welche Wirkungen zeigen diese Entscheidungen. An welchen inneren Landkarten und emotional-kognitiven Mustern orientieren wir uns?

  2. 2.

    Unter welchen (geschützten Lern-)Bedingungen können diese inneren Unterscheidungen („Vorurteile“) erkannt und bearbeitbar werden?

  3. 3.

    Wie kann ein größeres Bewusstsein für den normalerweise impulsiven, eher vorurteilsbelasteten Umgang mit den irritierenden Unterschieden geschaffen werden?

Gelingt diese Bewusstseinserweiterung, entsteht im Laufe dieses Prozesses eine Atmosphäre der Zugehörigkeit, der Akzeptanz und eine sozial-emotionale Sicherheit gemeinsam Zukunft zu erfinden.

Aus unserer Sicht kann jene Kompetenzerweiterung, die innerhalb der Gruppendynamischen Trainingsgruppen erlangt werden kann, zur Bearbeitung der aktuellen Migrationsherausforderungen einen großen Beitrag für Punkt 1 und 2 leisten. Die Entwicklungserfahrungen, wie sich Räume für interkulturelle und kommunikative Begegnung, Metakommunikation und Reflexion öffnen lassen und wie Differenzen prozessiert, Konflikte bearbeitet und kollektives Verständnis generiert werden können, können in den gesellschaftspolitischen Entwicklungsprozess durch die Individuen transferiert und damit wirksam werden.

Abschließend fassen wir anhand von sieben Thesen zusammen, warum wir „mehr“ wollen und davon ausgehen, dass kollektive Entwicklung ein „Mehr“ an Pluralität und Verschiedenheit voraussetzt.

  • These 1: Entwicklung benötigt Divergenz, Negation und Irritation durch den Blick auf das neue Ganze.

  • These 2: Qualitative Erneuerung setzt die individuelle Überwindung von Angst vor Unterschieden voraus.

  • These 3: Je mehr Unterschiede vor dem Hintergrund der gesellschaftlich mitgebrachten Unterschiede explizit erkannt und bearbeitet werden, umso mehr Unterschiede können als Basis für die gemeinsame Zukunftsgestaltung genutzt werden.

  • These 4: Kollaboration für die Zukunft basiert auf Selbstverantwortung und Selbststeuerungskompetenz, um das Gemeinsame koevolutionär maßzuschneidern.

  • These 5: Kollektive Entwicklungen brauchen mehr gestaltende Orte und Vermittlung und Erfindung von Wirklichkeit, wo der Kontext eröffnet wird, wo Selbstorganisation gelehrt und gelernt werden kann. Von der Vermittlung zur gemeinsamen Gestaltung im Lern-Raum.

  • These 6: Spezifisch menschlich bedeutet, den Menschen in seiner Ganzheit zu begreifen, die Seele, der Geist, der Körper, die Emotion werden gesehen und für die gemeinsame Zukunft genutzt. Herzensbildung geschieht über die Öffnung und Bewusstwerdung der eigenen emotionalen Verfasstheit. Die eigene Angst sichtbar und verstehbar werden zu lassen, eröffnet Wege für die gemeinsame Wanderung und Gestaltung neuer Wege.

  • These 7: Gruppendynamische Trainingsgruppen sind kleine, qualitativ hochwertige, kollektive Lernformen und als Intervention im Hinblick auf die Notwendigkeit dieses aktuell drängenden Kompetenzzuwachses im Umgang mit Neuem und Fremdem zu sehen, davon werden wir künftig mehr brauchen.