1 Einleitung

Versteht man unter einer Krise eine ereignisreiche Zuspitzung, die über Fortbestand oder Zerfall, Fortschritt oder Niedergang entscheidet, so lässt sich der Europäischen Union problemlos eine Dauerkrise attestieren (Webber 2014). Gleichbedeutend wäre indes die gegenteilige Behauptung: Die Normalität des krisenhaften Zustands macht den Begriff der Krise selbst hinfällig. Krisenhaft im Sinne eines existenzgefährdenden Ausnahmezustandes wäre dann paradoxerweise vielmehr die Abwesenheit einer Krise als Modus des Voranschreitens der europäischen Integration (Immerfall 2018b). Als eine Entität, die sich, wie mit Walter Hallsteins Fahrradmetapher prophezeit, nur im Zustand der Dynamik und Bewegung stabilisiert, würde die EU demnach bei Ausbleiben ereignisreicher Zuspitzungen einfach „umfallen“.

Die Dauerdebatte darüber, ob die EU sich in einer Krise befindet oder nicht, ist nicht nur insofern relativ unergiebig, als sich die Nichtexistenz von etwas grundsätzlich schwer beweisen lässt, sondern auch, als sie notwendig in einem logischen Zirkelschluss endet. Soziologisch ergiebiger sind zwei andere Zugänge. So lässt sich zum einen mit Georg Vobrubas (2019) Idee von der Soziologie als Beobachtung zweiter Ordnung fragen, warum so viele Beobachter so viel Krise erkennen, wenn sie die EU in den Fokus nehmen. Andrew Moravcsik zufolge liegt es daran, dass sowohl EU-Skeptiker als auch EU-Enthusiasten ein genuines Interesse haben, den Krisendiskurs hoch zu halten: die Kritiker aus Prinzip, denn sie wollen ja zeigen, dass die EU dabei ist zu scheitern; die überzeugten Föderalisten wiederum halten an der Vorstellung fest, dass die EU nur durch Krisen zusammenwächst (van Middelaar 2019). Sie sind daher Moravcsik zufolge die härtesten Kritiker der EU, weil sie sich nie mit dem Erreichten zufriedengeben, sondern immer mehr Integration wollen, durch die sie sich dann die Lösung dieses oder jenes Problems versprechen (Kirchner 2017). Diese Perspektive fragt mithin nach den politischen und ideologischen Motivationen jener Akteure, die den Krisendiskurs betreiben und forcieren.

Ein zweiter Zugang weist die Behauptung der Krisenhaftigkeit vorab zurück. Gefragt wird hier nicht nach etwaigen Integrationsdefiziten, sondern nach den Gründen der unwahrscheinlichen Stabilität der Europäischen Integration. Dies ist der Ansatz, der im Folgenden gewählt wird. Den Ausgangspunkt bildet die Annahme, dass die EU nicht nur krisenresistent, sondern geradezu krisenresilient zu sein scheint. Krisenresilienz meint dabei mehr als den bloßen Fortbestand trotz Krisen, sondern konstatiert eine systemische Rigidität der institutionellen Ordnung der EU, die flexible Reaktionen in Krisensituationen erschwert. Eine zentrale Rolle spielt hier die Beobachtung, dass Kompetenzen, die einmal auf die europäische Ebene wanderten, auch dort verblieben sind, also nicht wieder auf die nationale (oder regionale) rückübertragen wurden. Das ist selbst innerhalb von Nationalstaaten nicht selbstverständlich, denken wir beispielsweise an das 2006 eingeführte und 2019 wieder zurückgenommene Kooperationsverbot im bundesdeutschen Bildungsbereich. Ferner lässt sich konstatieren, dass das Spektrum von Themenbereichen, in denen die EU Entscheidungsbefugnisse innehat, niemals verkleinert wurde. Wann immer es zu einer Neuaustarierung politischer Befugnisse kam, wurde zu Gunsten der europäischen Ebene entschieden (siehe zu beiden Dimensionen die instruktive Grafik bei Schimmelfennig 2016, S. 189). Angesichts der immer wieder drohenden Rückschläge im Verlauf der Integrationsgeschichte (Vollaard 2014; Eppler, 2017; Cross 2017; Dinan et al. 2017; Webber 2019) muss diese institutionelle „Einbahnstraße“ (Immerfall 2018a) erstaunen.

Woher diese Besonderheit? Der folgende Abschnitt (2) versucht eine institutionshistorische Erklärung mit besonderem Fokus auf der Rolle ökonomischer Faktoren im Verlauf des Einigungsprozesses. Im Ergebnis wird eine politische, institutionelle und juridische Pfadabhängigkeit konstatiert, die dazu führt, dass einmal getroffene Weichenstellungen kaum mehr korrigiert werden können ohne das institutionelle Gefüge der EU insgesamt zu gefährden. Dies wird für die Einheitswährung (3.1.), die Prä-Brexit-Verhandlungen (3.2.) und – als Gegenprobe – für das Corona-Hilfspakt (3.3.) veranschaulicht. Das vermeintliche Erfolgsmodell, so zeigt sich, hat seinen Preis: Wie im finalen Abschnitt 4 argumentiert, lässt sich das Unionsmodell zugespitzt als „überstabil“ bezeichnen, mithin als strukturell wenig fähig zur Selbstkorrektur. Krisenresilienz, so das Fazit, könnte sich paradoxerweise als Achillesferse der europäischen Integration erweisen.

2 Ein Blick zurück nach vorn

Der Blick zurück in die 1950er-Jahre, in die Geburtsstunde der drei Europäischen Gemeinschaften für Kohle und Stahl (EGKS), Atom (Euratom) und Wirtschaft (EWG), zeigt schnell, wie sehr die in den Römischen Verträgen formulierte, teleologische Vorstellung eines immer engeren Zusammenschlusses („ever closer union“) in die Irre führt. Es handelte sich zunächst nur um drei von mehreren vom „großen Bruder“, den Vereinigten Staaten, wohlwollend geförderten Gründungen internationaler Institutionen, wie sie in der Nachkriegszeit gang und gäbe waren (Patel 2018). Die führenden Vertreter der westeuropäischen Staaten, darunter allen voran Frankreich, teilten nach dem Zweiten Weltkrieg die Überzeugung, dass man Frieden und Wohlstand nur durch eine intensivierte und langfristige Zusammenarbeit erreichen und sichern können würde, die nicht zuletzt das westliche Nachkriegsdeutschland einzuschließen habe (Anderson 2009, S. 8 ff.). Zu den damals gegründeten Organisationen gehörten etwa die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) oder die ebenfalls verteidigungspolitisch ausgerichtete Westeuropäische Union (WEU), die beide nicht mehr existieren. Andere Nachkriegsgründungen müssen sich heute mit weit weniger Einfluss begnügen als einst erwartet, wie z. B. der Europarat. Wieder andere mussten sich ein neues Betätigungsfeld schaffen, um zu überleben, wie die als Exekutivkommission des Marshallplans gegründete OEEC, die sich zur OECD weiterentwickelte. Unser unscheinbares Dreigestirn trotzte indessen allen Stürmen und Fährnissen, erweiterte in der Folgezeit scheinbar unbeirrt seine Machtbefugnisse und ist heute, vereint in der 1992 gegründeten EU, zu einem Mitspieler im Konzert der Großen geworden. Seit längerem ist von einer Softpower-Weltmacht die Rede (Moravcsik 2010), nicht zuletzt angesichts der globalen Folgen von EU-Regulationsvorschriften (Bradford 2020).

Diese Entwicklung war dem Dreigestirn nicht in die Wiege gelegt und wurde von den Zeitgenossen auch keineswegs vorausgesagt (Immerfall 2018b, S. 20; Patel 2018, S. 27). Die politische Integration in Europa war immer nur eine mögliche Zukunft unter vielen (Patel 2022, S. 59). Über alle Etappen hinweg gab es Gegentendenzen, Differenzierungen, verschiedene Geschwindigkeiten und Ausnahmeregelungen. Die Integrationsgeschichte kennt daher nicht nur Wendepunkte, sondern auch Rückschritte, wie z. B. das Scheitern des so genannten Grünen Dollars zu Zeiten des gemeinsamen Agrarmarktes in den 1970er-Jahren. Selbst Austritte, wenngleich in der Bedeutung nicht mit Brexit vergleichbar, gab es schon: Algerien 1962 und Grönland 1982. Mit dem europäischen Einigungsprozess verhält es sich daher keineswegs so wie mit Hallsteins Fahrrad. Und doch ist ein zentraler Umstand nicht zu bestreiten: Trotz Stagnation und Krebsgang gibt es seit Entstehung des Dreigestirns kein einziges Beispiel für die Rückverlagerung supranationaler Kompetenzen an die Mitglieder. Was also ist das Geheimnis des langen Lebens des in den Römischen Verträgen von 1957 begründeten Organisationswegs? Ohne die nicht vorhersehbaren Zufälle des Glücks und Geschicks zu missachten, die der Europäischen Gemeinschaft immer wieder zu Hilfe kamen, verdienen mindestens drei Gesichtspunkte oder Eigenheiten hervorgehoben zu werden.

Da ist erstens von Beginn an der Fokus auf den gemeinsamen Wirtschaftsraum. Das war durchaus nicht so vorgesehen: Dass der „ökonomischen Schiene“ überhaupt eine derart bedeutsame Rolle für das Integrationsprojekt zukommen konnte, wäre ohne das Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 1954 kaum möglich gewesen. Es sei auch daran erinnert, dass Jean Monnet der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zunächst ablehnend gegenüberstand, weil er eine überzeugende politische Zielsetzung vermisste (Moravcsik 1998, S. 139). Ökonomische Bedenken wurden stets hintangestellt, wenn es darum ging, das europäische Projekt politisch voranzutreiben, etwa durch die Aufnahme ärmerer Mitgliedsstaaten. Trotz Differenzen im Detail begriff die politische Führungsschicht der EU die Ökonomie durchweg immer auch als Instrument zum Zweck der politischen Integration – die Aufnahme Griechenlands in die europäische Einheitswährung ist dafür vielleicht das berühmteste Beispiel. Der Euro ist indes nur ein später Nachzügler der drei Hauptetappen Zollunion, gemeinsamer Markt und Binnenmarkt. Letzterer bildet bis heute das stabile Zentrum des europäischen Projekts. Vom Binnenmarkt leitet sich alles ab: Er ist attraktiv, weil wohlstandsverheißend, ohne die Souveränität der Einzelstaaten direkt negativ zu tangieren. Mit wenigen Ausnahmen gab es bis dato in sämtlichen Mitgliedstaaten immer deutliche demokratische Mehrheiten für eine Mitgliedschaft des jeweiligen Landes in der Wirtschaftsgemeinschaft; das galt selbst für Großbritannien auf dem Höhepunkt der Brexit-Debatte (Vasilopoulou und Talving 2019).

Aus dem Binnenmarktprojekt konnten die Promotoren der Europäischen Union unterschiedlichste Teilvorhaben ableiten und immer mehr gesellschaftliche Bereiche europäisch politisieren (Immerfall 2018b, S. 73). Arbeitsplatzsicherheit, portable Sozialversicherung, die wechselseitige Anerkennung von Berufsabschlüssen, Geschlechtergleichheit oder Technologieförderung sind nur einige Beispiele für Politikfelder, deren europaweite Angleichung mittelbar auf dem freien Verkehr von zunächst Waren, dann Kapital, Menschen und Dienstleistungen basiert. Als unverzichtbarer starker Schiedsrichter, der aufpasst, dass niemand ausschert, fungieren in Arbeitsteilung die Kommission und zunehmend der Europäische Gerichtshof. Seit seiner in den Verträgen keineswegs vorgesehenen Selbstermächtigung in den Fällen van Gend und Loos sowie Dijon de CassisFootnote 1 ist der EuGH mit seiner extrem integrationsfreundlichen Rechtsprechung einer der wichtigsten Motoren der Integration geworden (van Middelaar 2016, S. 98 ff.). Mehr noch als vergleichbaren Diskursen wohnt dem europäischen Rechtsdiskurs ein visionärer Impetus inne, Recht in eigener Sache zu schaffen, durchaus qua gezielter Usurpation nationalstaatlicher Rechtsschöpfung (Höpner 2011; Schmidt 2018).

Diese institutionell abgesicherte Verhaltenswirksamkeit ist als zweite Besonderheit des europäischen Einigungsprozesses zu nennen. In den Einigungsverträgen verpflichten sich die jeweiligen Mitgliedsstaaten zur Durchsetzung von Gemeinschaftsrecht auf ihren Territorien unter der Maßgabe, dass alle anderen Mitgliedsländer dies auch tun. Wohlfahrts- und Sicherheitsgewinne durch Selbstbindung, nicht Unterwerfung unter eine noch so wohlmeinende zentrale Gestaltungsmacht entspricht dem europäischen Gedanken. Um das dennoch stets drohende Ausscheren einzelner Mitgliedstaaten zu verhindern, gibt es neutrale überwachende Institutionen mit einer gewissen Unabhängigkeit von nationalen Interessen, aber zum Großteil geringer direkter Exekutivgewalt. Sie fungieren als institutioneller Bezugspunkt des Binnenmarktes und bewirken, dass dieser weit über den wirtschaftlichen Bereich hinaus verhaltenswirksam wird, wie Rainer Lepsius (2013) als einer der Ersten ausführte. Zunächst weitgehend unbestimmt gebliebene Ideen europäischer Konvergenz fanden ihre konkrete Manifestation in binnenmarktbedingter Wohlfahrtssteigerung durch Angleichung und Marktvergrößerung. Damit gewann der „europäische Gedanke“ auch zunehmend Relevanz für Unternehmen und Verbände sowie nationalstaatliches Regierungs- und Verwaltungshandeln (ebd., S. 204 ff.; Bach 2014, 2015, S. 43 ff.) – und schließlich auch für die „einfachen Leute“ (Heidenreich 2019).

Nicht zuletzt in dieser Hinsicht unterscheidet sich die EU wesentlich von anderen internationalen Organisationen. Es handelt sich nicht nur um eine Vertragsgemeinschaft, die in technokratisch-juridischer Manier die erreichten Vereinbarungen festschreibt und damit institutionelle Kontinuität garantiert, sondern die Gemeinschafts- und Unionsverträge konstituieren ein verfassungsähnliches „eigenes und eigenständiges Gefüge an Institutionen mit speziellen Organen, spezifischen Funktionen und Kompetenzen“ (Gehler 2010, S. 505). An Stelle einer Verfassung gründet das Policy-System der Europäischen Union auf völkerrechtlichen Verträgen mit Quasi-Verfassungsrang. Trotz fehlender Verfassung spricht Dieter Grimm (2016) sogar von einer „Überkonstitutionalisierung der EU“: Eine einmal beschlossene Kompetenzaufteilung kann nur unter prohibitiven Schwierigkeiten geändert werden, da sie Einstimmigkeit erfordert. Diese ist nicht zu erwarten, solange auch nur ein Mitglied von der bestehenden Regel profitiert, was wegen der mitgliedstaatlichen Heterogenität häufig der Fall ist. Somit konstituiert jedes Verhandlungsergebnis de facto einen weitgehend änderungsresistenten Status quo. Dazu kommt das Interesse von EU-Akteuren an der Akkumulation und Verteidigung einmal errungener Kompetenzen (Vaubel 2009).

Somit lässt sich drittens festhalten, dass die europäische Gemeinschaft als „Hemmwerk“ konzipiert ist: Kompetenzen, die einmal europäischen Institutionen übertragen wurden, sind kaum rückholbar. Fritz Scharpf (2015) spricht von einem „Sperrklinken-Effekt“, beispielhaft zu erkennen in der gemeinsamen Agrarpolitik, die seit 1958 beständig den größten Etatposten ausmacht, auch im derzeitigen Finanzrahmen der Jahre 2021 bis 2027.Footnote 2 Hinzu kommt, dass Entflechtung teuer und riskant ist. Selbst wenn sinnvoll, wäre etwa eine Rückkehr zu nationalen Währungen innerhalb eines flexibleren Währungsverbunds wie dem früheren ESM (Höpner und Spielau 2016) mit unabsehbaren Kosten verbunden (Scharpf 2016). Ebenso wenig wahrscheinlich, wenngleich immer wieder gefordert, ist auf absehbare Zeit ein umfassender Reformvertrag. Dazu sind die Differenzen zwischen den Regierungen – die zudem vor anderen Herausforderungen stehen, die ihre volle Aufmerksamkeit erfordern – zu groß und ist die öffentliche Unterstützung in den Mitgliedsländern zu gering.

3 Mangelnde Fähigkeit zur Selbstkorrektur

Die Europäische Union ist mithin durch eine juridische, politische und institutionelle Pfadabhängigkeit gekennzeichnet, die Änderungen einmal geschlossener Verträge unwahrscheinlich macht. Dabei ist es naturgemäß keineswegs so, dass die vertragsschließenden Parteien die Effekte ihrer Vereinbarungen immer absehen können. Dies allein deswegen schon nicht, weil das europäische Projekt zwar ein Gemeinschaftsprojekt, aber zugleich auch ein Konglomerat von Einzelprojekten und unterschiedlichen Interessen ist, die in eine kompromisshafte Vielzahl völkerrechtlicher Verträge gegossen wurden (Nußberger 2017). Dazu kommen Herausforderungen, die niemand voraussehen konnte.Footnote 3 Was aber passiert, wenn statt einer für sicher geglaubten Entwicklung unerwünschte Wirkungen und Nebenfolgen eintreten? Die hier vertretene These lautet: Die Europäische Union ist als institutionelles Hemmwerk zur Selbstkorrektur strukturell unfähig. Einmal vorgenommene Weichenstellungen können nur um den Preis umfangreicher Entflechtungen rückgängig gemacht werden, die mit prohibitiven Kosten verbunden sind. Die zentrale Stärke der EU, nämlich ihre institutionelle Stabilität, ist somit zugleich ihre zentrale Schwäche, insofern sich eingeschlagene Entwicklungsrichtungen als korrekturbedürftig erweisen. Diese These soll im Folgenden für den Binnenmarkt und die Einheitswährung sowie – in aller Kürze – für den Brexit veranschaulicht werden. Als Gegenprobe dient das Corona-Hilfspaket, da es als präzedenzloser Fall europäischer Solidarität jenseits der Pfadabhängigkeit gilt.

3.1 Einheitswährung und Transfezwang

Die außergewöhnliche politische Konstellation der 1990er-Jahre erleichterte ein spezifisches Konstrukt, das sowohl Deutschlands wie auch Frankreichs Intentionen bezüglich der schon informell beschlossenen Einheitswährung Rechnung trug. Frankreich wollte lediglich eine einheitliche Geldpolitik, Deutschland die Unabhängigkeit der neu zu schaffenden Europäischen Zentralbank gewahrt wissen. Im Ergebnis wurde die Geld- und Währungspolitik zentralisiert, die sonstige Wirtschaftspolitik aber bei den Nationalstaaten belassen, wobei die Fiskalpolitik der Mitgliedsländer durch strikte Regeln eingeschränkt werden sollte. Da nun die Kompensation divergierender Wirtschaftsentwicklungen qua Wechselkursanpassung entfiel, es auf europäischer Ebene aber weder – wie in der Bundesrepublik – bedeutende Umverteilungen durch eine Zentralregierung noch – wie in den USA – eine quasi automatische Stabilisierung durch übergreifende Sozialversicherungssysteme gibt, funktioniert dieses Modell nur bei einer halbwegs gleichlaufenden wirtschaftlichen Entwicklung in den Mitgliedsländern und/oder bei genügender Flexibilität der nationalen Arbeits- und Gütermärkte (de Grauwe 2020, S. 148 ff.).

Von diesen Bedingungen war und ist die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion weit entfernt. Die Mehrzahl der Ökonomen warnte denn auch vor der Einführung des Euro, wenngleich aus unterschiedlichen Motiven und zum Teil auf der Grundlage von Erwartungen, die nicht eintraten. Während vor allem deutsche Volkswirte einen Inflationsschub befürchteten, gaben angelsächsische Ökonomen der Einheitswährung von vornherein kein langes Leben (Jonung und Eoin 2009), womit sie die Entschlossenheit der europäischen Eliten, den Euro zu bewahren, unterschätzten. Diese Entschlossenheit ist indes nicht etwa fehlendem Verständnis der politischen Führungsfiguren für wirtschaftliche Zusammenhänge geschuldet (de Grauwe 2020, S. ix). Vielmehr war den Architekten des Euros sehr wohl bewusst, dass die unvollständige Währungsunion Probleme und Krisen erzeugen würde. Diese würden aber, so das Kalkül, weitere Schritte zur Vergemeinschaftung erzwingen, da man den Weg zurück zu den Nationalwährungen als versperrt begriff. Wie die entsprechenden Zitate bei Elliot und Atkinson (2017, S. 11 f.) zeigen, verstand man den Euro als eine Lokomotive, welche die Gemeinschaft weiter in Richtung ökonomischer Konvergenz und politischer Union ziehen würde.

Diese Lokomotiventheorie ist im ersten Teil, der Hoffnung auf mehr Konvergenz unter den Mitgliedstaaten, gescheitert. Gemäß zentralen Kennziffern haben sich die Euro-Länder vor allem auf der Nord-Süd-Achse sogar seit der Eurokrise wieder auseinanderentwickelt (Franks et al. 2018; Heidenreich 2022). Überdies sind vergleichbare Nicht-Euroländer stärker gewachsen (König 2017; Heidenreich 2019; Gräbner et al. 2020). Die makroökonomischen Kosten und Gewinne des Euro sind somit umstritten und letztlich wohl auch kaum zu beziffern, da dies einen Vergleich mit seiner Nicht-Einführung erfordern würde (Lane 2006; Beetsma und Giuliodor 2010; de Grauwe 2020, S. 72 ff.). Besonders schlimm kam es für das europäische Kernland Italien, das dank seiner potenten nördlichen Hälfte vor Einführung des Euro eines der wettbewerbsfähigsten Länder war und nun seit zwei Jahrzehnten stagniert (Santambrogio 2018).

Scheinbar etwas besser sieht es mit dem zweiten Teil der Lokomotiventheorie aus, der Hoffnung auf Entstehung einer politischen Union. Da die Ökonomien der Euroländer heterogen blieben, hätte der Ausgleich ihrer unterschiedlichen Wettbewerbsfähigkeiten und Konjunkturzyklen über die Regeln und Regulierungen zur Haushaltsdisziplin erfolgen sollen, welche zusammen mit der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion eingeführt und immer wieder reformiert und verschärft wurden – zuletzt mit der Einführung der „Fiskalunion“ 2012. Zu ihrer Überwachung sind verschiedene Kontrollinstanzen – darunter die EU-Kommission – und Verfahren wie das „Europäische Semester“ oder der „Sixpack“ vorgesehen.Footnote 4 Diese Koordinierungsinstrumente der Wirtschafts‑, Fiskal- und Haushaltspolitik haben jedoch den Nachteil, dass sie im Ernstfall nicht greifen. Souveräne Staaten lassen sich eben nicht „wie Odysseus an den Mast binden, das heißt glaubwürdig auf ein Verhalten in der Zukunft festlegen“ (Becker und Fuest 2017, S. 130). Ein striktes Festhalten an Artikel 125 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der Nichtbeistandsklausel, wird unter oben geschilderten Bedingungen immer wieder „exorbitante Anpassungsleistungen“ (Scharpf 2017, S. 297) von den Bevölkerungen der südlichen Länder verlangen. Im Konfliktfall mit den Kontrollinstanzen werden sich die nationalen Regierungen eher ihrer eigenen Wählerschaft verantwortlich fühlen als Gremien, deren demokratische Legitimierung nicht unmittelbar einsichtig ist. In so einem Fall den bedrängten Mitgliedsländern, wie eigentlich vorgesehen, die Unterstützung zu verweigern, lässt sich politisch und ökonomisch kaum durchhalten. Somit stellt sich im Krisenfall eben stets die Frage, ob nur eine (partielle) Vergemeinschaftung von Schulden oder schon eine deutliche Erhöhung der Transfersummen die Währungsunion zusammenhalten kann (Immerfall 2013).

3.2 Wenig Flexibilität in den Prä-Brexit-Verhandlungen

Die Heterogenität in der – sich, wie es lange Zeit schien, stetig erweiternden – Europäischen Union hat zugenommen. Das gilt wirtschaftlich, denn die Hoffnung auf Konvergenz qua Währungsunion hat, wie gesehen, erkennbar getrogen. Speziell angesichts deutlicher Unterschiede zwischen West- und Osteuropa, etwa mit Blick auf Familienpolitik und Minderheitenrechte, gilt es aber auch kulturell (Coman 2017; Krăstev 2017). In gewisser Weise haben sich die Raumdimensionen Stein Rokkans (2000) umgedreht: Die ökonomischen Spannungen verlaufen jetzt in Nord-Süd-, die kulturellen Spannungen in Ost-West-Richtung. In einer solchen Situation würde man mehr Flexibilität bei der rechtlichen Vereinheitlichung erwarten, um den nationalstaatlichen oder auch regionalen Spezifika besser Rechnung zu tragen.

Flexibilisierung war in den Prä-Brexit-Verhandlungen mit Großbritannien ab 2016 denn auch das zentrale Thema (Eppler 2018). Doch Camerons Hoffnung auf stärkere deutsche Unterstützung für mehr Flexibilität erwies sich als vergebens (Webber 2019, S. 195 f.). Dabei war diese Hoffnung nicht unberechtigt: Um zu verhindern, dass Empfängerländer in Versuchung geraten könnten, höhere Leistungen zulasten der wenigen Geber zu beschließen, hat die EU 2009 im Lissabon-Vertrag Abstimmungsregeln vereinbart, wonach bei vielen Fragen eine doppelte Mehrheit von mindestens 55 % der Mitgliedstaaten und 65 % der in diesen Ländern lebenden Bevölkerung zusammenkommen muss. Dadurch kamen Deutschland, Großbritannien, Österreich, die Niederlande, Finnland und die baltischen Staaten, die vermehrter EU-Umverteilung ebenfalls skeptisch gegenüberstehen, im Ministerrat nicht ganz zufällig auf eine Sperrminorität von 35,85 % der Bevölkerung. Mit dem Wegfall Großbritanniens fällt diese austarierte Machtstruktur: Deutschland kann nun leichter überstimmt werden. Doch die EU kam den britischen Petenten nur in Nuancen entgegen, z. B. mit Zugeständnissen bei der Indexierung von Kindergeldzahlungen ins Ausland und der zeitlichen Streckung des Zugangs von EU-Zuwanderern zu wohlfahrtsstaatlichen Leistungen. Aus britischer Sicht war die erzielte Übereinkunft so mager, dass sich Camerons Team entschloss, sie in der Kampagne für den Verbleib gar nicht zu erwähnen (Webber 2019, S. 199).

Es ist daran zu erinnern, dass der Ausgang des Brexit-Dramas zu keinem Zeitpunkt vorherbestimmt war. Sicher wird man den Hauptteil der „Schuld“ bei David Cameron und seiner riskanten Spekulation verorten müssen, mittels eines Referendums die innerparteiliche Auseinandersetzung zu entscheiden – eines Referendums überdies, das dem parlamentarischen System Großbritanniens widersprach, dessen Alternativen nicht klar benannt waren und das rechtlich auch gar nicht bindend war, wenngleich dies allgemein so verstanden wurde. Auch nach dem knappen Ausgang blieben die Anhänger eines harten Brexits in der Minderheit (Vasilopoulou und Talving 2019). Da aber die Befürworter einer engen Bindung an die EU sich nicht einigen konnten, ebnete das Scheitern Theresa Mays den Weg für den Aufstieg Boris Johnsons, der die Parlamentswahlen 2019 als unbeliebter Kandidat gegen Jeremy Corbyn, den noch unbeliebteren Führer einer in der EU-Frage gespaltenen Oppositionspartei, gewann. Dieser Sieg gründete vor allem darauf, dass die Bevölkerung der taktischen Winkelzüge in der Brexit-Frage offenbar überdrüssig war.

Die EU konnte in dieser innenpolitischen Auseinandersetzung nur ungläubiger Zuschauer sein. Insbesondere in Deutschland, dem Hauptprofiteur des Binnenmarktes, tat man sich schwer, zu verstehen, dass offenbar beträchtliche Teile der britischen Bevölkerung im Gegenzug für nationale Selbstbestimmung resp. „Souveränität“ Wohlstandsverluste zu akzeptieren bereit waren (Elliott und Atkinson 2017). Eine in Deutschland wenig verstandene Rolle spielte dabei auch die Furcht vor der zunehmend starken Stellung des EuGH sowie vor weiteren Verlagerungen von Entscheidungsbefugnissen auf juristischer Ebene. Dieser Vorrang der Gerichtsgewalt ist Ländern wie Großbritannien oder der Schweiz, wo politische Entscheidungen in der Regel in der politischen Arena getroffen werden, strukturell fremd.Footnote 5

Beide Seiten, sowohl „Leave“ als auch „Remain“, argumentierten im Vorfeld des Referendums mit Un- und Halbwahrheiten. Am weitesten ging dabei sicherlich die Behauptung der Brexiteers, ein reibungsloser Zugang zum EU-Markt sei ohne Abstriche möglich. Das konnte die EU natürlich nicht erlauben, ohne die Integrität des Binnenmarktes als Herzstück der Union zu gefährden. Insofern war es aus EU-Sicht ein Erfolg, dass sich die Mitgliedstaaten im Verlauf der Brexit-Verhandlungen nicht – wie von Großbritannien erwartet – spalten ließen. Dabei spielte auch die u. a. von Manfred Weber (2020), Vorsitzender der EVP-Fraktion im EU-Parlament, artikulierte Angst eine Rolle, der Brexit könnte Nachahmer finden: „Wenn der Brexit gefühlt zum Erfolg wird, dann ist das der Anfang vom Ende der EU.“ Großbritannien müsse die Folgen des Austritts zu spüren bekommen. Das wurde erreicht: So wurde beispielsweise Großbritannien der Wiederbeitritt zum Lugano-Übereinkommen verweigert, das grenzüberschreitende Gerichtsverfahren vereinfacht (Kohler 2021). Solch kleines Karo spricht nicht für eine von der eigenen Stärke und Attraktivität überzeugte Union.

Wenn das zweitgrößte Mitgliedsland, der drittgrößte Beitragszahler, die führende Militärmacht Westeuropas, ein Mutterland moderner demokratischer Institutionen und die Heimat Sitz einiger der weltweit besten Universitäten die Exit-Karte zieht – wie unklug das auch immer sein mag –, spätestens dann wäre es an der Zeit für Selbstreflexion. Abwanderungen signalisieren Mängel. Die Führungskräfte der in Rede stehenden Organisation sollten versuchen, Prozesse einzuleiten, um die mutmaßlichen Fehler zu beheben (Hirschman 1974, S. 18 ff.). Doch die Karawane zieht unbeirrt weiter (Munin 2016).

3.3 Der Wiederaufbaufonds als „Hamilton-Moment“?

Die spezifische Konstruktion der Währungsunion erfordert im Krisenfall eine mindestens partielle Schuldenvergemeinschaftung und/oder deutliche Transfersummen.Footnote 6 Ein solches Instrument stellt der auch als „Rettungsschirm“ bekannte Europäische Stabilitätsmechanismus dar, der bei den Empfängerländern jedoch unbeliebt blieb, da mit harten Auflagen verbunden (Matthes 2015). Immer wieder diskutiert wurden Euro-Bonds, insbesondere in der Form einer Aufteilung in sogenannte European Safe Bonds (ESBies) und spekulative „Junior Bonds“ (Brunnermeier et al. 2017). Dadurch würde das Problem der Gemeinschaftshaftung ein Stück weit entschärft. Zwar müssten Deutschland und die anderen Euroländer mit guter Bonität in diesem Fall bereit sein, höhere (Zins‑)Kosten zu tragen, dem stünden aber auch Vorteile gegenüber. So könnte durch zwischenstaatliche Risikoteilung der gemeinsame Währungsraum robuster gemacht werden (Schelkle 2017). Außerdem würde der europäische Kapitalmarkt, der gegenüber dem US-amerikanischen stark unterentwickelt ist, gestärkt. Dies würden nicht nur die großen Finanzmarktakteure als neue Investitionsmöglichkeit begrüßen, sondern auch Länder wie China oder die Ölstaaten, die ihre Schuldenbewirtschaftung diversifizieren möchten.

Mit und in der Corona-Krise wurde eine etwas andere Lösung gefunden. Sie beruhte im Wesentlichen auf Vorschlägen von Frankreichs Präsident Macron, die von Deutschland lange mit Stillschweigen bedacht worden waren (Uterwedde 2019). Erst mit der Corona-Krise kam es zu einer der berühmten Merkel-Volten, dem „Sprung der Bundeskanzlerin“ (van Middelaar 2021, S. 99) in Form eines gemeinsamen Vorschlags der deutschen und der französischen Regierung zur Schuldenaufnahme durch die EU-Kommission. Hatte die Kanzlerin in der Eurokrise stets betont, mit ihr werde es, „solange sie lebe“ (Isenson 2012), keine Gemeinschaftsschulden geben, wurde nun einmal mehr deutlich, dass die ökonomischen und politischen Kosten, bedrängten Mitgliedsländern die Unterstützung zu verweigern, untragbar sind. Dies konnte auch als Zeichen europäischer Solidarität gefeiert werden, nachdem zu Beginn der Pandemie die Zeichen auf Abschottung standen (ebd., S. 67 ff.).Footnote 7 Vergleichsweise rasch – nämlich bereits auf einer außerordentlichen Tagung im Juli 2020 – einigte sich der Europäische Rat auf eine komplexe Änderung der EU-Finanzverfassung, die in der Folgezeit in verschiedene Gesetzesvorhaben gegossen wurde. Kern ist ein Extra-Haushalt der EU im Umfang von 750 Milliarden Euro, von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen als Aufbauinstrument „Next Generation EU“ (NGEU) präsentiert. Das Geld wird auf den Finanzmärkten aufgenommen und soll bis 2058 zurückgezahlt werden. Ein Teil geht in Form verlorener Zuschüsse, ein anderer Teil in Form von Krediten an die Mitgliedsländer (jeweils zu Preisen von 2018, siehe die Grafiken bei Berschens 2020).

Kleinere Teile des Paktes sollen mittels EU-Steuern – wie einer „Plastiksteuer“ – getilgt werden oder stammen aus anderen EU-Fonds; der Löwenanteil („Aufbau- und Resilienzfazilität“) ist jedoch kreditfinanziert. Da aber die Kommission ohne Vertragsänderung eigentlich keine Schulden aufnehmen darf, wurde die EU-Eigenmittel-Obergrenze „vorübergehend“ um 0,6 auf 2 % der Wirtschaftskraft der EU-Staaten angehoben. Dies hat den schönen Nebeneffekt, dass das Instrument die Schuldenlast der Mitgliedsländer haushaltstechnisch nicht erhöht. Der Bundestag stimmte dem neuen Eigenmittelsystem trotz Bedenken des Bundesrechnungshofs am 25. März 2021 mit deutlicher Mehrheit zu. Der Rechnungshof hatte darauf hingewiesen, dass die Mitgliedstaaten gemeinschaftlich für die Schulden des Fonds haften, sodass Deutschland ggf. über seinen Anteil von derzeit rund 27 Prozent am EU-Haushalt hinaus nachschusspflichtig werden könnte.Footnote 8

Um die Zuschüsse und Darlehen aus dem Aufbau-Instrument zu erhalten, müssen die Mitgliedsländer Pläne präsentierten, die zeigen, dass sie die Gelder nicht einfach in den regulären Haushalt stecken, sondern für Prioritäten der EU aufwenden. Zu diesen zählen in erster Linie der Übergang zu einer grünen Wirtschaft, der digitale Wandel, intelligentes, nachhaltiges und inklusives Wachstum, der soziale und territoriale Zusammenhalt, die Stärkung der Widerstandsfähigkeit und Krisenvorsorge sowie Strategien, die den kommenden Generationen zugute kommen. Die Kommission bewertet die Pläne und unterbreitet dem Rat für jedes Land einen Vorschlag, dem die Finanzminister zustimmen müssen – im Konfliktfall muss der Europäische Rat entscheiden. Da die ökonomisch am stärksten getroffenen Staaten am meisten aus dem Wiederaufbaufonds bekommen, wird logischerweise Deutschlands Beitrag zum EU-Haushalt steigen. Das war bereits mit dem Brexit absehbar. Neu ist, dass jetzt auch Italien Nettoempfänger wird.

„Next Generation EU“ wurde mit großen Worten bedacht. Der damalige Finanzminister Olaf Scholz sprach von einem „Hamilton-Moment“Footnote 9 (Dausend und Schieritz 2020), der den Alten Kontinent auf völlig neue Art zusammenrücken lasse. Selbst der ansonsten zurückhaltende Luuk van Middelaar (2021, S. 38, 178) meinte eine Metamorphose der Union zur europäischen Schicksalsgemeinschaft erkennen zu können (ähnlich Habermas 2020, S. 56; Fabbrini 2020). Laut Jens van Scherpenberg (2022, S. 30) ist das Programm „ein kaum zu unterschätzender integrationspolitischer Fortschritt für die EU“. Demgegenüber möchte ich die These vertreten, dass das Corona-Anleihepaket in der oben beschriebenen Logik des Zwangs zur partiellen Schuldenvergemeinschaftung gesehen werden muss und daher keinen Bruch im europäischen Integrationsprozess darstellt. Die unterschiedliche Interpretation hat Folgen für integrationspolitische Erwartungen. Ist das Coronahilfspaket Ausdruck einmaliger europäischer Solidarität oder „nur“ ein weiterer, wenn auch großer, Schritt zur unvermeidlichen Transfer- und Schuldenunion, dem weitere folgen werden?

Gegen die mit der Formel „Hamilton-Moment“ angedeutete Interpretation, das Corona-Hilfspakt stelle eine präzedenzlose solidarische Innovation infolge einer geteilten Notlage dar, welche die EU auf eine neue Grundlage stellt, sprechen zunächst einmal schon Ähnlichkeiten mit früheren Programmen. Die Idee, dass die Kommission besser als die nationalen Regierungen weiß, wie mit Finanzmitteln umzugehen ist, entspricht in den Grundzügen dem bereits oben diskutierten Europäischen Semester, wobei die bisherigen Erfahrungen nicht zu übermäßigem Optimismus Anlass geben.Footnote 10 Sodann war die Europäische Union auch bisher schon am Kapitalmarkt tätig, wenngleich in deutlich geringerem Umfang, wie im Falle des Europäischen Instruments zur vorübergehenden Unterstützung bei der Minderung von Arbeitslosigkeitsrisiken in einer Notlage (SURE).Footnote 11 Abweichend gegenüber der Euro-Staatsschuldenkrise werden die Gelder nicht durch neue zwischenstaatliche Institutionen, sondern über den EU-Haushalt zur Verfügung gestellt.

Als eine wirkliche Neuerung könnte sich indes die grundsätzliche, wenn auch mit zahlreichen Kautelen versehene Einigung der Staats- und Regierungschefs erweisen, dass künftig Gelder aus dem EU-Haushalt gekürzt werden können, wenn Mitgliedstaaten gegen Rechtsstaatsprinzipien verstoßen. Mag man dies in der selbsternannten „Wertegemeinschaft“ auch für eine pure Selbstverständlichkeit halten, so könnte genau dieser Gipfelbeschluss sich als folgenreich erweisen. Es wird sich zeigen, ob Ungarn und Polen, aber auch weniger offen widerspenstige Mitglieder wie Slowenien oder Bulgarien einer EU mit deutlich weniger Subventionen zugehörig bleiben wollen. Noch aber ist völlig unklar, ob der Rechtsstaatsmechanismus Zähne hat und wie rasch er greifen kann.

Mit der kreditfinanzierten Aufbau- und Resilienzfazilität hat die EU einmal mehr ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, in Krisen neue Instrumente zu entwickeln. Erstmals werden gemeinsame Anleihen im großen Stil ausgegeben. Das neue Instrument bewegt sich aber im vorgezeichneten Pfad, der in Richtung partieller Schuldenvergemeinschaftung und/oder deutlicher Erhöhung der Transfersummen weist. Eine Analyse, warum die Ziele der vorgängigen Lissabon-Strategie und der Strategie „Europa 2020“ verfehlt wurden, wurde nicht vorgelegt; hingegen hielt man an der Hoffnung fest, ein zentrales System zur Überwachung gemeinsamer Ziele würde europäischen Mehrwert schaffen. Letztlich sind es aber die nationalen Regierungen, die über Erfolg und Misserfolg der Modernisierung ihrer Volkswirtschaften entscheiden. Und diese werden sich in der nächsten Krise daran erinnern, dass EU-Schulden eine sehr praktische Idee sind.

4 Ist mehr Flexiblität möglich?

Die Europäische Gemeinschaft wurde in diesem Aufsatz als „Hemmwerk“ dargestellt, als eine Vertragsgemeinschaft, die in technokratisch-juridischer Manier die erreichten Vereinbarungen festschreibt und damit zwar institutionelle Kontinuität garantiert, aber Fehlentwicklungen nur schwerlich korrigieren kann. Die mit der heterogenen Währungsunion einhergehende ökonomische Unwucht soll mittels zentraler Überwachungsverfahren und Kontrollinstanzen repariert werden. Das Corona-Hilfspaket ist der jüngste Besserungsversuch. Es entspricht der oben in Abschnitt 2 angesprochenen Erwartung, dass die spezifische Konstruktion der Währungsunion im periodisch erwartbaren Krisenfall eine (partielle) Schuldenvergemeinschaftung und/oder deutliche Transfersummen erfordert.

Zwar ist denkbar, dass weitere Nettozahler aus dem Kooperationsgefüge aussteigen. So gab das niederländische Parlament kurz nach dem Brexit-Referendum beim Staatsrat eine Studie über die Möglichkeiten verbesserter Einhaltung der europäischen Vereinbarungen und damit über die Vor- und Nachteile verschiedener politischer und institutioneller Optionen die Zukunft des Euro betreffend in Auftrag (Raad van State 2017). Spieltheoretisch wahrscheinlicher ist, dass Mitglieder der Währungsunion im Anschluss an erhaltene Transfers freiwillig den Euro verlassen könnten (Woo und Vamvakidis 2012). Dagegen spricht, dass die Desintegration nicht nur die Währungsunion, sondern eine Vielzahl sich überlappender Vereinbarungen, die mit dem Binnenmarkt, der Zollunion Schengen, diversen Transfersystemen sowie Freihandelsabkommen mit Dritten im Zusammenhang stehen, betreffen würde. Zumindest anfänglich sind deutliche Wohlstandseinbußen gewiss (Felbermayr et al. 2022). „More of the same“ ist daher wahrscheinlicher. Hierfür bot das informelle EU-Gipfeltreffen in Prag im Oktober 2022 reichlich Anschauungsmaterial: Deutschlands 200 Milliarden Euro teures Hilfspaket zu Abfederung seiner in Teilen selbst verursachten Energiekrise wurde von Polens Regierungschef Morawiecki als „deutscher Egoismus“ und von und Italiens scheidendem Ministerpräsidenten Draghi als „Verzerrung des Binnenmarkts“ gebrandmarkt. Ein neues kreditfinanziertes Hilfsprogramm der EU wurde gefordert, noch bevor die Milliarden aus dem Corona-Hilfsprogramm überhaupt ausgegeben waren.

Was aber könnten Wege sein, einige der Rigiditäten in der vereinheitlichenden Logik der zunehmenden Integration zu entschärfen? Um selbstreflexiver zu werden, müsste die Europäische Union einen Weg finden, ihren Kritikern innerhalb des Gemeinschaftssystems eine Stimme zu geben. Diese Funktion sollte vornehmlich das Europäische Parlament erfüllen. Diese auszuüben fällt den Parlamentariern aber schwer, da es an einer europäischen Öffentlichkeit mangelt. In einer Politik der großen Koalition bemühen sich die christlich-konservative Europäische Volkspartei (EVP) und die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE), meist flankiert von Liberalen und Grüne, um „mehr Europa“. Das Fehlen klassischer Opposition kann indes leicht Fundamentaloppositionen begünstigen (van Middelaar 2021, S. 141 f.). Wenn der Stimmenzuwachs populistischer und europakritischer Abgeordneter kaum Auswirkungen auf die Entscheidungen des Parlaments hat, dann stellt sich die Frage, inwieweit sich ihre Wähler repräsentiert fühlen (Treib 2021).

Bislang ist es weder gelungen, dem Subsidiaritätsprinzip verlässlich Wirksamkeit zu verleihen, noch der Zentralisierungsdynamik Einhalt zu gebieten (von Kielmansegg 2015, S. 23 ff.). Immerhin wurde mit dem Vertrag von Lissabon die Rolle nationaler Parlamente gestärkt. Sie müssen regelmäßig unterrichtet werden, um frühzeitig mögliche Verstöße der europäischen Gesetzgebung gegen das Subsidiaritätsprinzip rügen zu können (Europäische Kommission 2021). Es wurde ihnen ein Klagerecht beim EuGH eingeräumt, das sich allerdings ausschließlich auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips beschränkt. Bislang blieb die Möglichkeit der Subsidiaritätsrüge jedoch folgenlos (Bünnemann 2017). Vor allem müsste der EuGH in seiner Rechtsprechung zurückhaltender, und das heißt: weniger quasi-legislativ, tätig sein (Schmidt 2018; Höpner und Schmidt 2020). Politische Entscheidungen als Gebote des Rechts der politischen Auseinandersetzung zu entziehen, schneidet die Fähigkeit der Integrationspolitik zur Selbstkorrektur ab.

Als entscheidende Frage ergibt sich daraus, ob mehr „flexible Geometrie“ – sprich: Abstriche am Grundsatz der Einheitlichkeit der Integration – zugelassen werden kann. Differenzierte Integration ist im Kern weder neu (Schimmelfennig und Winzen 2020) noch mit dem EU-Vertrag unvereinbar (Deutscher Bundestag 2020). Wo möglich, so mein Fazit, gilt es Abschied von der europäischen Integration qua Einheitslösung zu nehmen. Dies würde auch das Problem entschärfen, dass eigentlich unstrittige Beschlüsse immer wieder blockiert werden, um Zugeständnisse und Sonderwünsche zu erreichen, die mit dem Abstimmungsgegenstand inhaltlich nichts zu tun haben. Die Einheitslösung entspricht weder der europäischen Geschichte, noch der gegenwärtigen Heterogenität der sozialen Strukturen, der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit oder der politischen Präferenzen der Mitgliedsländer. Richtig ist: Die Europäische Union beruht auf gemeinsam beschlossenen Regeln und deren gemeinsamer Anwendung und Auslegung. Aber nur auf diesen Regeln und nicht solchen, die darüber hinausgehen.