1 Einleitung

Dass der englische Begriff „white-collar“ in der VR China heute zum Alltagsvokabular zählt, ist auf C. Wright Mills zurückzuführen, genauer: auf die 1987 erschienene Übersetzung seiner berühmten Studie White-Collar. The American middle class von 1951 (Zheng 2008). Anfang der 2000er-Jahre zählte „white-collar“ bereits zu den 55 wichtigsten chinesischen Wirtschaftsbegriffen (People’s Daily Online, o. J.; Duthie 2005, S. 1). Unverkennbar spiegelt die rasche Popularisierung des unübersetzten Mills’schen Begriffs den Zeitgeist der Hochwachstumsjahre wider: Staat und große Teile der Bevölkerung sahen sich seit den späten 1980er-Jahren auf dem Weg in eine wohlhabende Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft. Das US-amerikanische Modell war zwar nicht explizites Vorbild, fungierte aber durchaus als das bevorzugt Andere, an dem man sich assoziativ orientierte (Chow 1997, S. 147; Conceison 2004). Der hochbezahlte urbane „white-collar“-Bürojob galt als Zielwert individueller Aufstiegsbemühungen in die entstehende chinesische Mittelklasse. Jahrzehnte nach der Originalveröffentlichung lieferte Mills’ soziologische Darstellung der „Menschen im Büro“ – so der deutsche Titel – die Blaupause eines chinesischen Entwicklungsnarrativs.

Als besonders erfolgreiche Vorreiter dieser Bestrebungen galten (und gelten teilweise nach wie vor) die in multinationalen Unternehmen (MNU) arbeitenden Chinesen, auch „waiqi white collars“ genannt, übersetzbar als „Weißkragen in ausländischen Unternehmen“. In der englischsprachigen Literatur wurde diese Beschäftigungsgruppe auch als „white-collar professionals with Chinese characteristics“ (Duthie 2005), „China’s new business elite“ (Pearson 1997) oder „Chinese yuppie“ (Zhang 2005) bezeichnet. Die Mehrheit der Forschung der 1990er- und 2000er-Jahre tendierte dazu, sie als ein neues Kollektivphänomen der Wirtschaftsreformperiode und der damit verbundenen Öffnungspolitik der Volksrepublik zu behandeln. Als privilegierter Beschäftigungsgruppe „born out of global capitalism“ (Duthie 2005, S. 9, 2007) maß man ihnen zentrale Bedeutung für eine prospektive politische Liberalisierung Chinas bei (Pearson 1997). Vor allem im US-amerikanischen Diskurs galten die waiqi white collars lange Zeit als Hoffnungsträger mit Blick auf einen möglichen politischen Wandel in China.Footnote 1

Spätestens nach den jüngsten Ereignissen in Hongkong ist von Hoffnungen hinsichtlich Demokratisierungs- und Verwestlichungstendenzen in China jedoch nicht mehr viel übrig – und damit scheinen auch die waiqi white collars stark an Projektionspotenzial eingebüßt zu haben. Aihwa Ong kam schon Ende der 2000er-Jahre zu dem Schluss, westliche Beobachter würden „the flashy and fashionable urban elites as harbingers of a free-spoken civil society in China“ (Ong 2008, S. 196) verkennen. Als nur vermeintliches Kollektivsubjekt begreife man sie irrtümlich als historisches Scharnier im binären Schema von „socialist authoritarianism and global markets“ (ebd.). Andere Studien (Yang 2002; Hird 2016) verweisen auf die Konstruiertheit der waiqi-white-collar-Identität und grenzen sich von konventionellen Arbeiten ab, die ein kollektives „Wesen“ der Gruppe beschreiben zu können glauben. Sie deuten darauf hin, dass der Topos des waiqi-Angestellten in erster Linie dazu diene, der Hoffnung auf individuellen und nationalen Aufstieg durch aufholendes „Modernwerden“ ein Gesicht zu geben. Das Image des waiqi white collars präge Handeln, Denken und Selbstverständnis und bezwecke leistungsorientierte Selbstformung sowie gesellschaftliche Einpassung. Insofern galt (und, mit Abstrichen, gilt) der waiqi white collar als verdichtete Sozialfigur, die zwecks Modernisierungsmobilisierung staatlicherseits idealisiert und dementsprechend in den Medien dargestellt wurde.

Die empirischen Befunde zeigen aber, dass die mediale Darstellung der waiqi white collars heute einer umgekehrten Richtung folgt: Wurden sie bis vor kurzem noch als Leitinspiration einer sich modernisierenden Nation dargestellt, so präsentiert die staatliche Medienberichterstattung sie heute zunehmend als Opfer des „Westens“Footnote 2. Durch Berichterstattung über Diskriminierungserfahrungen von waiqi white collars werden die Missstände in westlichen resp. ausländischen MNU dramatisiert, um negative Affekte gegenüber dem „Westen“ auszulösen.Footnote 3 Diese Veränderung lässt sich ohne Berücksichtigung des Erfolgs der chinesischen Wirtschaftsreform wie auch des aktuell stattfindenden Übergangs von der vierten zur fünften Führungsgeneration nicht verstehen. Deng Xiaopings „low-profile“-Strategie (tāoguāngyǎnghuì) hat die Xi-Regierung zugunsten einer proaktiven und leistungsorientierten Außenpolitik unter dem Motto „Streben nach großen Erfolgen“ (wèi chéngjiù ér fèndòu) aufgegeben (Buzan und Lawson 2020, S. 28). Innenpolitisch propagiert die Regierung den „chinesischen Traum“ mit dem Ziel, das nationale Selbstbewusstsein zu stärken (Bislev 2015; Mahoney 2014). Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, welcher Funktionslogik die dynamische Darstellung von waiqi white collars in den staatlichen Printmedien folgt – und was wir daraus lernen können, etwa in Hinblick auf die Sicht Chinas auf den „Westen“ und den chinesischen Nationalismus im Allgemeinen.

Um diese Fragen zu thematisieren, betrachte ich im Folgenden die mediale Darstellung der waiqi white collars im engen Zusammenhang mit der vom chinesischen Staat angestrebten nationalen Modernisierung, die ich als diskursives Hegemonieprojekt verstehe. Im Zentrum dieses Projektes steht der Versuch, das „Modernwerden“ als Deutungsmuster gesellschaftlich durchzusetzen und als Handlungs- und Wahrheitshorizont zu gestalten. Kurz gesagt geht es um die politische Konstruktion des „modernen Chinesen“. In Anlehnung an Nonhoffs (2006, S. 140 f.) Definition des „hegemonialen Projekts“ gehe ich davon aus, dass diese politische Konstruktion im Medium einer populistischen Hegemoniepolitik erfolgt, welche das „Modernwerden“ nicht vorwiegend durch präzise Zielstellungen definiert, sondern ein diffuses kollektives Begehren adressiert, das chinesische Modernisierungsdefizit im Vergleich zum sogenannten Westen zu überwinden und zugleich Letzteren als Maßstab eigener Entwicklungsbemühungen zu entthronen (ebd. S. 117, 121, 138 f.).Footnote 4

Diese These kann im Folgenden zwar nur tentativ untersucht werden. Das Beispiel der medialen Darstellung von waiqi white collars in den staatlichen Printmedien mag aber die Logik dieses hegemonialen Projekts exemplarisch veranschaulichen. Die zentrale Vermutung lautet, dass die mediale Darstellung der waiqi white collars als verklausulierter Aufruf zur Behebung eines politisch deklarierten Modernisierungsdefizits dient und damit als Mittel zur politischen Mobilisierung und Lenkung zu interpretieren ist. Zentral dafür, so die Annahme, sind die Elemente „waiqi white collar“, „modern werdende Chinesen“ „Westen“ und „rückständiges China“ als verweisungsreiche symbolische Verdichtungen. Diese Elemente werden um einen zu behebenden Mangel herum positioniert und in Beziehung gesetzt. Erst diese diskursiv-performative Konstruktion ermöglicht es, die staatspolitische Forderung „Modernisiert euch!“ zu artikulieren.

2 Theoretischer Zugang

2.1 Hegemoniekämpfe und die Herstellung von Äquivalenzketten

Die für die folgenden Ausführungen grundlegende Prämisse haben Laclau und Mouffe (2015) in ihrem einschlägigen Werk Hegemonie und radikale Demokratie herausgearbeitet. Diese postmarxistische diskurstheoretische Perspektive gilt als anschlussfähig und fruchtbar für die Forschung zu politischen Identitätsbildungsprozessen (Keller 2011). Sie besagt, dass die Gesellschaft als ein Ensemble diskursiver Räume zu verstehen ist, das beständig mit Strukturierungs- bzw. Ordnungsbemühungen konfrontiert ist. Letztere sind jedoch als „prekäre und letztlich verfehlte Versuche, das Feld der Differenzen zu zähmen“ (Laclau und Mouffe 2015, S. 129), zu begreifen. Gleichwohl sind partielle und temporäre Fixierungen möglich. Die Praxis solcher Fixierungen nennen Laclau und Mouffe „Artikulation“, die „aus der artikulatorischen Praxis hervorgehende strukturierte Totalität“ (ebd., S. 139) bezeichnen sie als „Diskurs“. Laclau und Mouffe identifizieren Diskurse mit symbolischen Sinnordnungen per se, die „sowohl konkrete, materiale Objekte wie [auch] Handlungsweisen bzw. Praktiken und Subjektpositionen für menschliche Akteure“ umfassen (Keller 2011, S. 54). Die „Beziehungen zwischen den Elementen dieser Ordnung“ werden den beiden Autoren zufolge „durch Bedeutungszuschreibungen hergestellt und stabilisiert“ (Laclau und Mouffe 2015, S. 139). Laclau und Mouffe sprechen in diesem Zusammenhang von der „Transformation der Elemente in Momente“ (ebd., S. 140). Als Elemente bezeichnen sie „jede Differenz, die nicht diskursiv artikuliert ist“ (ebd.) und somit einen flottierenden Charakter aufweist. Demgegenüber verweist der Begriff der Momente auf „die differentiellen Positionen [sprich: Elemente], insofern sie innerhalb eines Diskurses artikuliert erscheinen“ (ebd.). Insofern sind die Momente identisch mit sämtlichen im Diskurs mit Bedeutungen fixierten Elementen. Als Prozess der Bedeutungszuschreibung führt die bereits genannte Artikulation dann zur Herausbildung einer Sinnordnung verbundener Momente, die indes aufgrund des Überschusses an Deutungsmöglichkeiten in der Wirklichkeit nie abgeschlossen wird und immer prekär bleibt.

Den Schlüssel zur relativen Stabilisierung des Netzes von qua Artikulation erzeugten Momenten liefert das konstitutive Zusammenspiel der beiden Logiken der Differenz und der Äquivalenz. Laclau und Mouffe zufolge lassen sich differenzielle Momente nur zu einem Ganzen verbinden, indem sie von einem „konstitutiven Außen“ abgegrenzt werden, das sich der differenziellen Beschreibung entzieht. Daher erfolgen bei jeder politischen Diskursproduktion unausweichlich radikale Ausschließungen, welche indes die Herstellung einer Äquivalenzkette im Inneren erst ermöglichen. Gegenseitige Ausschließungen sind somit Teil der Artikulationspraktiken sämtlicher gesellschaftlicher Akteure und ihres Strebens nach diskursiver Hegemonie. Gelingt es bestimmten gesellschaftlichen Akteuren, bestimmte Bedeutungen im Rahmen einer Sinnordnung soweit zu fixieren, dass diese als soziale Realität wahrgenommen werden, so lässt sich mit Laclau (1990, S. 35) von „sedimented forms of ‚objectivity‘“ sprechen.

Den Relationstypen der Äquivalenz und der Differenz fügt Nonhoff (2006, 2017) mit Kontrarität einen dritten Typ hinzu, um die Dynamik innerhalb der Sphäre der Äquivalenz zu beschreiben. Während Äquivalenz sich nach Nonhoff (2017, S. 92 f.) dadurch auszeichnet, dass „x anders ist als y, aber in Bezug auf a Hand in Hand geht mit y“, meint Kontrarität ein Verhältnis von x und y, das sich dadurch auszeichnet, dass „x in Bezug auf a durch y blockiert wird“. Äquivalenz leistet also die Assoziation verschiedener Elemente in Bezug auf ein markiertes Außen, während Kontrarität ein ungünstiges Verhältnis innerhalb der Äquivalenzkette impliziert, das es zu überwinden gilt. Wir werden im vorliegenden Beitrag sehen, dass die Beziehung zwischen China (x) und „dem Westen“ (y) nach dem wirtschaftlichen Erfolg Chinas in Bezug auf Überwindung der „chinesischen Rückständigkeit“ (a) zunehmend als Kontrarität betrachtet wird, während sie in der frühen medialen Darstellung der waiqi white collars als bloße Äquivalenz definiert wurde.

Aus der Sicht von Laclau und Mouffe ist jegliche dem Anspruch nach abschließende Bestimmung kollektiver Identität – sei es die Identität einer Protestbewegung (Marchart 2013) oder die Identität eines Nationalstaats (Sarasin 2003) – zum Scheitern verurteilt, da jede Identität unweigerlich überdeterminiert ist und nicht allein über positive Eigenschaften beschrieben werden kann. Vielmehr konstituierten sich kollektive Identitäten notwendig durch Antagonismen und seien daher immer durch einen „Mangel an vollem Sein, an Positivität“ (ebd, S. 37) gekennzeichnet. In Anlehnung an Lacan argumentiert Laclau in diesem Zusammenhang, dass gerade diese stetige Erfahrung des Mangels den Wunsch nach Erfüllung antreibt. Politische Diskurse, die sich um die Formierung des Kollektiven bemühen, versuchen Laclau zufolge, qua Artikulation unterschiedliche Elemente in politisch präferierten Bedeutungen zu fixieren. Sie sind deswegen ihrer Operationslogik nach unweigerlich hegemonial, weil sie immer dazu tendieren, abschließende Weltbilder zu entwerfen, die sämtliche sozialen Verhältnisse symbolisch integrieren – qua Artikulation differentieller Elemente zu einer Äquivalenzkette, „deren prekäre Einheit durch gemeinsame Abgrenzung ihrer Elemente gegenüber einem sie negierenden Außen, das mit einem verallgemeinerten Mangelzustand identifiziert wird, vorübergehend stabilisiert wird“ (Marchart 2017, S. 62). Dazu gehören auch solche Elemente bzw. Positionen, die erst nachträglich über „Anrufung“ in die Äquivalenzkette rekrutiert werden (ebd., S. 67).Footnote 5

Ideen wie „Freiheit“, „Volk“, „Unabhängigkeit“, „Ordnung“, „Soziale Marktwirtschaft“ oder auch, wie im chinesischen Fall, „Modernwerden“ können Laclau zufolge nur dann zur politischen Steuerung eingesetzt werden, wenn sie an Bedeutung so weit entleert sind, dass sie „einem großen Adressatenkreis Identifikationsmöglichkeiten“ bieten und integrativ wirken können (Göhler et al., 2010, S. 696). Bei der De- oder Restabilisierung politischer Diskurse spielen dann dislozierende Ereignisse eine zentrale Rolle (Laclau 1990).Footnote 6 Sie verkörpern sozialen Wandel und liegen sozialen Transformationen zugrunde (Nabers 2017, S. 422). Krisenereignisse wie 9/11 sind solche dislozierenden Ereignisse; sie stellen die üblichen Erwartungen radikal infrage und führen zur Veränderung von individuellen und gesellschaftlichen Identitäten (ebd.). Zur Reaktion politischer Diskurse auf solche dislozierenden Ereignisse gehört Torfing (1999) zufolge die Reorganisation von vormals artikulierten Momenten, die Eingliederung von flottierenden Elementen und gar die Erneuerung eines Antagonismus. Danach kann erneut eine Äquivalenzkette zwischen einzelnen differentiellen Elementen etabliert werden, deren Einheit durch gemeinsame Abgrenzung von einem Außen organisiert wird.

2.2 Chinesisches „Modernwerden“

Mit Blick auf die Entwicklung des chinesischen Nationalstaats, die historisch mit dem Eindringen der europäischen Kolonialmächte einsetzte und traditionell eng mit der Idee einer Vervollkommnung hin zu einer modernen Nation (Duara 1996) verknüpft ist, haben wir es immer wieder mit einer vermeintlichen chinesischen Rückständigkeit zu tun (Meinhof 2021). Diese bezieht sich nicht in erster Linie auf eine wie auch immer geartete faktische Rückständigkeit, sondern auf eine mit der chinesischen Selbstwahrnehmung verknüpfte „verspürte Rückständigkeit“ (Kraatz 2020, S. 68; Hervorh. i. Orig.). In den aufeinanderfolgenden Regierungsphasen der modernen chinesischen Geschichte lässt sich daher eine diskursive Konstellation ausmachen, in der die Chinesen selbst als defizitär fungieren (Meinhof 2021). Das zeigte sich nicht zuletzt in der Rückkehr des Topos chinesischer Rückständigkeit in den Diskurs der 1980er- und 90er-Jahre, in deren Verlauf er einen erneuten Höhepunkt erreichte (Huang 2021). Hintergrund war das Projekt einer ideologischen Umerziehung nach Maos Tod, in deren Mittelpunkt die kollektive Identifikation mit der Notwendigkeit des „Modernwerdens“ stand.Footnote 7

Dengs politische Doktrin, China werde sich noch für lange Zeit im Anfangsstadium des Sozialismus befinden, gab der politisch-gesellschaftlichen Problemartikulation seit seinem Aufstieg eine neue Richtung vor. Diese Artikulation bestand darin, dass sich das noch in einem frühen ökonomischen Entwicklungsstadium befindende China modernisieren müsse, um sich in der Weltordnung zu positionieren – und somit seine „wiederentdeckte“ Rückständigkeit zu überwinden.Footnote 8 Im Anschluss an Laclau könnte man argumentieren, dass, idealtypisch gesehen, die Re-Artikulation der eigenen Rückständigkeit in der Phase nach 1976 den Versuch darstellte, einen Antagonismus zu rekonstituieren, indem man neue Äquivalenzbeziehungen zwischen Elementen herstellte, die durch die Krise der maoistischen Ordnung zu flottieren begonnen hatten. Der Rückständigkeit des kollektiven Selbst wurde die Schuld an einem krisenhaften Gegenwartszustand zugeschrieben, den man zugleich unmittelbar mit einer Überwindungsphantasie verknüpfte. Entsprechend nahm das „Modernwerden“ die Funktion eines leeren Signifikanten ein, um die Einheit der Bevölkerung zu stärken und deren Identifikationsbegehren zu befriedigen. Ein inhärentes Element des politischen Narrativs des „Modernwerdens“ war dabei der „Westen“, der von der Anfangszeit der Wirtschaftsreform und der Öffnungspolitik bis in die jüngere Vergangenheit stark romantisiert und überschätzt wurde. „[F]ascination and enchantment with the West swept the country“, so Huang (2021, S. 114) über die frühen Reformjahre, „and gave rise to the popularity of the colloquial expression ‚the moon is rounder abroad‘“.

Diese aus dem chinesischen Modernisierungsnarrativ resultierende unreflektierte und unkritische Romantisierung und Bewunderung des „Westens“ wird jedoch aktuell zunehmend durch dessen Entzauberung und die Überschätzung des eigenen Ansehens und der eigenen Popularität in der Welt ersetzt. Wie Huang (ebd., S. 120) weiter anmerkt, spricht man heute statt von „Im Ausland ist der Mond runder“ (yuèliàng shì wàiguó de yuán) von „Bravo, mein Land“ (lìhàile, wǒ de guó). Für Huang spiegelt das zum einen den ökonomisch-politischen Aufstieg der Volksrepublik wieder, ist zum anderen aber auch die Folge einer vordem über-positiven Stereotypisierung des „Westens“ und somit Ausdruck eines Backlash-Effekts. Sowohl die Selbstprimitivierung als auch die Selbstüberschätzung führten ihm zufolge zu erheblichen negativen Konsequenzen für die chinesische gesellschaftliche Entwicklung (ebd.). Für uns stellt sich nun die Frage, wie der Aufstieg Chinas in das bestehende Narrativ des „Modernwerdens“ integriert wird.

Im Folgenden wird die mediale Darstellung der waiqi white collars als Miniatur des politischen Narrativs des „Modernwerdens“ betrachtet, die der hegemonialen Logik politischer Diskurse folgt. Waiqi white collars, „modern werdende Chinesen“ und der „Westen“ werden im Sinne von Laclau und Mouffe als differenzielle Elemente verstanden, die über die Artikulation staatspolitischer Forderungen in Beziehung zueinander gesetzt werden. Die weiteren Ausführungen zeigen, wie die waiqi white collars im Diskurs repräsentiert, welche gesellschaftlichen Zustände als zu behebender Mangel problematisiert werden und wie die Darstellung des Verhältnises zwischen China und dem „Westen“ zur Konstruktion des modernen Chinesen als Subjekttypus beiträgt.

3 Datenerhebung und Vorgehen der Auswertung

Wenn wir die mediale Darstellung der waiqi white collars im Folgenden aus hegemonietheoretischer Perspektive betrachten, bedeutet das auf der einen Seite zu unterstellen, dass der hier zu betrachtende Fall der funktionalen Logik politischer Diskursproduktion folgt. Nonhoff (2014, S. 189; Hervorh. i. Orig.) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Diskursfunktionsanalyse, die mit Hilfe eines theoretisch etablierten Idealtyps der ‚hegemonialen Strategie‘ im empirischen Material hegemoniale Prozesse herausarbeitet“. Auf der anderen Seite heißt es aber nicht, dass wir den empirischen Fall nur zur bloßen Bestätigung hegemonialer Logik heranziehen. Stattdessen geht es darum, den spezifischen Gehalt der politischen Forderung des „Modernwerdens“ am Beispiel der medialen Darstellung der waiqi white collars herauszuarbeiten und die Beziehung und Relevanz der in der medialen Darstellung artikulierten Elementen angemessen einzuschätzen (vgl. Marchart 2017, S. 63).

Mit Hilfe der chinesischen Datenbank China Academic Journals wurde eine systematische Suche gestartet, um alle relevanten Zeitungs- und Zeitschriftenartikel zum Thema waiqi white collars zu finden. Diese Datenbank ist nach Noesselt (2012) eine geeignete Quelle, um Diskurse in China zu analysieren, da sie nahezu alle öffentlich zugänglichen Dokumente zur Verfügung stellt. Sie umfasst nicht nur wissenschaftliche Texte, wie ihr Name suggeriert, sondern auch Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, die in staatlichen und staatlich kontrollierten Printmedien veröffentlicht wurden. Für die Ermittlung relevanter Zeitungs- und Zeitschriftenartikel wurde nach Begriffen wie wàiqǐ báilǐng (外企白领, waiqi white collars), wàiqǐ (外企) und kuàguó qǐyè (跨国企业, Multinationales Unternehmen, MNU) gesucht. Nach dem Ausschluss von Doppelungen blieben 110 Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, die zwischen 1991 und 2013 erschienen sind. Sie bilden die Basis für die folgende Analyse. Es ist bemerkenswert, dass die Berichterstattung über waiqi white collars seither erheblich abgenommen hat.

Im ersten Schritt wurden die gesammelten Artikel gelesen und mit Stichwörtern versehen, die jeweils die Kernbotschaft, die Hauptthemen und die Unterthemen des Artikels zusammenfassen. Aus dem Materialkorpus wurde ein Dossier erstellt, das „die qualitative Bandbreite“ (Jäger 2004, S. 192) der medialen Darstellung umfasst. Es erschien sinnvoll, die Metanarrative der chinesischen Modernisierung und den Wandel der politischen Leitbilder als unmittelbaren Kontext der medialen Darstellung der waiqi white collars in den Blick zu rücken. Von entscheidender Bedeutung waren hier diskursive Ereignisse wie die Reise des chinesischen Reformführers Deng Xiaoping in den Süden Chinas im Jahr 1992, Chinas Beitritt zur WTO im Jahr 2001, die globale Wirtschaftskrise 2008/09 und der chinesische Führungswechsel gegen Ende des Jahres 2012, die den Diskurs der waiqi white collars maßgeblich beeinflussten. Anhand der ersten, groben Sichtung lässt sich das Material in zwei zeitliche Abschnitte unterteilen. Der erste Abschnitt beginnt mit Deng Xiaopings Reise und endet grob mit Chinas Beitritt zur WTO. Der zweite Abschnitt beginnt mit diesem Beitritt, umfasst die globale Wirtschaftskrise der späten 2000er-Jahre und endet mit dem Jahr 2013.

Im zweiten Analyseschritt wurden Medienberichte aus den prominenten staatlich geförderten Zeitschriften für die laufende Auswertung ausgewählt. Dazu gehören die bekanntesten staatlich geförderten Zeitschriften South Reviews, Chinese Youth Journal, China Economic Weekly und China New Time von CAFST (China Association of Foreign Service Trades), deren Vorläufer namens China Foreign Service bereits 1995 entstand. Dabei werden die artikulierten Elemente – „waiqi white collar“, „modern werdende Chinesen“ und der „Westen“ (verkörpert durch die MNU) – identifiziert und wird der Frage nachgegangen, in welcher Weise Themen mit dem jeweiligen Element verknüpft werden. Welche spezifischen Ausdrücke, Aussagen und Formulierungen werden verwendet? Welche Bilder werden benutzt und wie werden sie kommentiert? Als hilfreich erwies sich dabei, auf die Kriterien Textoberfläche, sprachlich-rhetorische Mittel und inhaltlich-ideologische Aussagen (Jäger 2004, S. 175 f.) zu achten. Zudem ging es um die Frage, wie die Beziehungen zwischen den artikulierten Elementen hergestellt werden und wie sie in der politischen Forderung des „Modernwerdens“ verankert sind. In einem anschließenden Schritt wurde dieselbe Analyse für den zweiten Zeitabschnitt des Diskurses wiederholt und dabei auf die Veränderung der Beziehugen zwischen den artikulierten Elementen fokussiert. Es interessieren dabei vor allem analytische Fragen: Wie werden die in Beziehung gesetzten Momente reakzentuiert? Inwiefern kann die Diskursverschiebung als Reaktion auf eine Dislokation gedeutet werden, die sich infolge des chinesischen Modernisierungserfolgs ereignete?

4 „Modernisiert euch!“

In den späten 1970er-Jahren ließ die neue Führung erstmals nach der Kulturrevolution wieder ausländische Investitionen in China zu. Zweck dieser Entscheidung der Reformer um Deng war es, das Wirtschaftswachstum und die infolge der Kulturrevolution brachliegende Modernisierung Chinas zu beschleunigen. Die Begünstigung ausländischer Investitionen war dabei direkt verknüpft mit einer schrittweisen Abkehr vom planwirtschaftlichen Arbeitsdelegationsprinzip der Mao-Zeit, dessen man sich im Zuge der großen Arbeitsreform 1986 zugunsten eines weitgehend marktwirtschaftlichen „Arbeitsvertragssystems“ entledigte (Dietrich 1993, S. 108 ff.). Die „kapitalistischen“ Arbeitsbeziehungen in den neu entstandenen MNU dienten als eine Art Feldexperiment für die Liberalisierung der Arbeitsverhältnisse insgesamt (Li et al. 2007). Über den Import kapitalistischer Arbeitsmodelle verbreitete sich nun zunehmend das marktwirtschaftliche Leistungsprinzip nach dem Motto „Zeit ist Geld, Effizienz ist Leben“ (shíjiān jiùshì jīnqián, xiàolǜ jiùshì shēngmìng) (Gallagher 2004; Du 2020, S. 69 f.), das die Arbeitsreform begleitete (Hebel 2005).

Die Beschäftigungsgruppe der waiqi white collars hatte also seit Beginn der Wirtschaftsreform einen Pionierstatus inne und eignete sich gerade wegen ihrer Schnittstellenposition zwischen China und dem „Westen“ zeitweise für die Artikulation von spezifisch chinesischer Modernität. Von früheren negativen Konnotationen befreit, mystifizierte man sie nun im Umkehrschluss öffentlich als paradigmatische „modern werdende Chinesen“. In deutlichem Kontrast zur „verabscheuungswürdigen Kategorie“Footnote 9 (Liang 2011, S. 151) der Mao-Zeit betonten Medienberichte die Rolle der waiqi white collars als Modernisierer und Erneuerer des chinesischen Wirtschaftslebens. Man erkannte, dass „die Politik der Reform und Öffnung im städtischen China zur Entstehung einer neuen Gruppe beigetragen hat: Es sind die in ausländischen Unternehmen arbeitenden chinesischen Angestellten.“ (Tie 1999, S. 14)Footnote 10 Der neuen Beschäftigungsgruppe wurden Werte wie individuelle Karriereorientierung zugeschrieben, die die Staatsführung noch während der Kulturrevolution als kollektivfeindlich gebrandmarkt hatte.

Im Jahr 1995 berichtete die Youth Daily, eine der wichtigsten staatlich kontrollierten Zeitungen, über die erste repräsentative Befragung von waiqi white collars. Die chinesischen Sozialwissenschaftler Xu und Li (1995), die die Befragung von 1000 Angehörigen dieser Beschäftigtengruppe durchgeführt hatten, betonten die Funktion der waiqi white collars für das chinesische Modernisierungsprojekt. In ihrem Kommentar schließen sie sich dem Kernargument der US-amerikanischen Soziologen Alex Inkeles und David H. Smith (1974, S. 9) an, die in ihrer Studie Becoming modern knapp und bündig konstatieren: „[A] nation is not modern unless its people are modern.“ Medienberichte dieser Art verweisen darauf, wie sozialwissenschaftliche Theorien genutzt wurden, um die politische Forderung des „Modernwerdens“ zu legitimieren, worauf ja auch die eingangs angesprochene Übernahme des „white collar“-Begriffs von C. W. Mills selbst hindeutet.Footnote 11 Die Pionierarbeit in den MNU wurde öffentlich mit der Geburt des „modernen Chinesen“ identifiziert, auch mit Blick auf die Geisteshaltung, die man den waiqi white collars pauschal unterstellte. So berichtete z. B. ein Artikel aus South Reviews, eine der bekanntesten staatlich geförderten Zeitschriften, in den späten 1990er-Jahren von den Personalanforderungen in den MNU und erklärte diese zum Maßstab erstrebenswerter Charaktereigenschaften moderner Menschen überhaupt:

Unsere Reporter haben Personalmanager in 18 multinationalen Konzernen befragt und fanden heraus, dass außer fachlichen Kenntnissen noch folgende Fähigkeiten gefordert wurden: Hochschulbildung, zwei- oder mehrsprachige Kommunikationsfähigkeit, Lesen und Schreiben auf Englisch, Fähigkeit zur Simultanübersetzung, auch Vertrautheit mit dem westlichen Geschäftsmodell, Zuverlässigkeit und Professionalität, Eigenmotivation, gute EDV-Kenntnisse in Windows, Word, Excel und anderen Softwaresystemen. (Zhang 1997, S. 42)

Eine Vielzahl der Medienberichte fokussierte dementsprechend individuelle Narrative, deren Schlüsselmoment jeweils der Wechsel eines Arbeitnehmers von staatlichen Unternehmen und Institutionen in ein westliches MNU darstellte. Im Zentrum dieser Narrative stand über die persönliche Karrieregeschichte hinaus der Wandel der Arbeitsideologie von der sozialistischen Planwirtschaft hin zum Staatskapitalismus bzw. zur sozialistischen Marktwirtschaft mit chinesischer Prägung. Das herkömmliche chinesische Arbeitsleben wird als bürokratisiert, entfremdet und inspirationslos dargestellt und mit dem individualistischen, subjektivierenden und dynamischen Arbeitsleben in den MNU kontrastiert. Zwar bezeichnen die Portraitierten ihr früheres Arbeitnehmerdasein im staatlichen Unternehmen als sicher und harmonisch, Selbstverwirklichung und Ehrgeiz aber seien nicht gefördert worden, im Gegenteil. Letzteres wird in den Berichten als zentrales Motiv junger Chinesen für den Arbeitsplatzwechsel dargestellt und als Narrativ fortlaufend wiederholt und adaptiert. Die Berichte problematisieren so zugleich gegenwärtige gesellschaftliche Zustände, rufen eine konkrete Dislokation hervor und ermuntern zu entsprechender individueller Nachahmung. Die waiqi white collars verkörpern eine in Aussicht gestellte Kompensation für das Risiko, einen sicheren aber perspektivlosen Arbeitsplatz im alten System aufzugeben. Oft kombinieren Medienberichte die Karriereporträts mit inspirierenden Fotos von Geschäftsreisen ins Ausland oder von der ritualisierten Heimkehr wohlhabender waiqi white collars an ihren provinziellen Heimatort (Abb. 1a,b). All dies dient dazu, diskursiv den individuellen Erfolg und Aufstieg als Kernmerkmal des „Modernwerdens“ der Chinesen zu etablieren.

Abb. 1
figure 1

Yāngháng lǐ de lǎo fǎshī [Leitende Büroangestellte]. (Gu 1999, S. 95, 98)

Als Identifikationsfolien für den „modern werdenden Chinesen“ inszeniert, wurden die waiqi white collars somit im Zusammenhang der wirtschaftlichen Liberalisierung vor allem der 1990er-Jahre diskursiv an den zentralen Nahtstellen der gesellschaftlichen Transformation positioniert. Bei den Medienberichten über sie ging es erkennbar nie allein um eine rein portraitierende Darstellung, sondern durchweg um „einen inklusivistischen Aufruf“ (Marchart 2017, S. 71), diese „Avantgarde“ der Modernisierung eigeninitiativ und aktiv zu imitieren. Die mediale Darstellung der waiqi white collars adressierte die gesamte Bevölkerung, deren tradierte Identität als gehorsames, selbstloses und befehlsempfangendes, aber auch abgesichertes Kollektivsubjekt eine strategische diskursive Dislozierung erfuhr. Durch diskursive Anrufung wurden sie für die Subjektposition der eigenverantwortlichen und risikobereiten Chinesen der Zukunft rekrutiert. Idealtypisch gesprochen traten andere Beschäftigungsgruppen somit per Anrufung gemeinsam mit den waiqi white collars in die politisch-hegemonial gesetzte Äquivalenzkette ein, die durch den leeren Signifikanten des „Modernwerdens“ repräsentiert wurde.

Solche Formen der Anrufung zeigen sich zuweilen schon im Titel, wie z. B. im Falle von „Sei ein internationaler Mensch“ (zuò yīgè guójì rén) (Zhang 1997). Neben diesem Text ist eine über einem Globus stehende menschliche Figur im Anzug abgebildet (Abb. 2), die Chinas internationale Positionierung symbolisiert. Die zweite Abbildung in demselben Artikel arbeitet mit dem Stereotyp eines westlichen Vorgesetzten (Abb. 3), der im Laufe der 1990er-Jahre in der chinesischen Öffentlichkeit immer wieder als „well-mannered and upright citizens of the world whose presence in China is welcomed and sought after“ (Lee 2006, S. 517) dargestellt wird. Die kommentierende Bildunterschrift lautet: „Ausländische Vorgesetzte legen Wert darauf, ihre chinesischen Angestellten mit globalen Geschäftsregeln und westlicher Unternehmenskultur vertraut zu machen.“

Abb. 2
figure 2

Zuò yīgè guójì rén [Sei ein internationaler Mensch]. (Zhang 1997, S. 41)

Abb. 3
figure 3

WTO láile, báilǐng xiǎng fēile [WTO kommt, white-collars wollen fliegen]. (Sun 2000, S. 57)

Besonders deutlich lässt sich aus diesem Kommentar die Position des „Westens“ ablesen, der China als Lehrersubjekt bei der Überwindung des Entwicklungsdefizits beisteht. Offensichtlich kann dessen Position nicht unmittelbar in die Äquivalenzkette des „Modernwerdens“ integriert werden. Allerdings entsteht zwischen China und dem „Westen“ eine Quasi-Äquivalenzverbindung in Hinblick auf die zu überwindende chinesische Rückständigkeit. So gesehen scheint Hulmes (2014, S. 322) Bemerkung plausibel: „Whereas previously [unter Mao, d. A.] the Chinese populace had been told it was downtrodden by foreigners, under Deng it was also told that it had a rightful place that was as yet unoccupied.“

Im Zuge des wirtschaftlichen Erfolgs der Volksrepublik änderte sich die Lage jedoch rasant. Wenn China der oberste Platz in der globalen Weltordnung aus der Sicht der neuen Führung um Xi Jinping nicht nur zusteht, sondern schon längst erreicht ist, kann man dann noch von der Beseitigung eigener Rückständigkeit sprechen? Falls nicht, so stellt sich die Frage, worin nun der Antrieb eines aktualisierten Populismus besteht.

5 Verkennung durch den „Westen“ als Dislokation

Vergleichen wir die Darstellung von MNU und waiqi white collars in den 2000er- und 10er-Jahren mit jener in den 1980er- und 90er-Jahren, so lässt sich eine Verschiebung leicht feststellen: Zwar wurden beide in den chinesischen Medien auch vordem bei weitem nicht immer nur positiv dargestellt, aber doch nicht so negativ wie seit der Jahrtausendwende – und insbesondere seit der globalen Finanzkrise und Xis Machtantritt 2013. Dies deutet auf eine Reakzentuierung der im Diskurs artikulierten Elemente hin.

Der diskreditierende Unterton in diesen vermehrt anzutreffenden negativen Medienberichten lässt sich unschwer in Beziehung setzen zur gesamtgesellschaftlichen Diskussion über die veränderte weltpolitische und wirtschaftliche Positionierung Chinas. Immer wieder ist in diesem Zusammenhang von einer „post-ausländische[n] Unternehmensepoche“ (Future 05 2010) die Rede. Die Medienberichte lassen durchblicken, dass das Image der MNU zunehmend negativer wurde und sie ihren Ruf als Garant sozialen Aufstiegs hochqualifizierter städtischer Chinesen einbüßten. So wird behauptet, dass die MNU in der Frühphase der chinesischen Wirtschaftsreform von China als Günstlinge behandelt worden seien und im Übermaß von staatlicher Förderung in Form etwa von Steuerbefreiungen und -erleichterungen oder Subventionen profitiert hätten. Jüngere Medienberichte betonen zudem, dass die MNU zwar in dieser marktwirtschaftlichen Frühphase der Marktwirtschaft eine dominante Rolle auf den chinesischen Märkten spielten, nun aber zunehmend mit zum Teil überlegener chinesischer Konkurrenz konfrontiert sind. Mit der wachsenden Zahl chinesischer Unternehmen als potenziellen Arbeitgebern verlieren die westlichen Unternehmen demzufolge an Attraktivität für immer mehr Chinesen (Zhang 2010). Ausgeschmückt wird die Berichterstattung über die schwindende Bedeutung der MNU mit melancholischen Illustrationen, die z. B. durch eine spezifische Symbolik oder Lichtdramaturgie (Abb. 4) den Eindruck der Krise hervorzurufen versuchen. Sie unterstellen, dass das goldene Zeitalter der MNU in China vorbei und ihre gegenwärtige Lage problembehaftet ist. Das dadurch suggerierte Elend des „Westens“ kommt dem Selbstbild der chinesischen Gesellschaft zugute: Die Rückschrittlichkeit scheint nicht nur überwunden, sondern die Rollen scheinen die Seiten gewechselt zu haben (Abb. 5).

Abb. 4
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Wài qí jīnglǐ rén huíguī [Die Rückkehr der Waiqi Manager]. (Tan 2011, S. 68)

Abb. 5
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Wú héngchǎn wú héngxīn wú héng yè báilǐng: „Sān wú“ yīzú [Keine konstante Beschäftigung, kein Durchhaltevermögen, keine Karriere: Die „drei Neins“ der White-Collar-Angestellten]. (Hou 2003, S. 38)

Die Medienberichte sprechen in diesem Zusammenhang auch vom Ende des bisherigen Wohlstands der waiqi white collars. Sie erklären dies mit der zunehmenden sozialen Deprivation, die diese erführen, wenn sie sich mit anderen sozialen Gruppen vergleichen. Diese anderen Gruppen sind Medienberichten zufolge vor allem Manager und Experten oder auch Regierungsbeamte, die bei mehr oder weniger staatlich finanzierten und gesteuerten Organisationen angestellt sind und daher Vorteile gegenüber anderen Statusgruppen der neuen Mittelschicht genießen. Medienberichte betonen immer wieder, dass diese Angestellten direkt vom Zugang zu wirtschaftlichen, sozialen und politischen Ressourcen profitieren, für die ausschließlich sie berücksichtigt werden. Die waiqi white collars seien dagegen eine zunehmend isolierte Statusgruppe außerhalb des chinesischen Systems. Als Profiteure der Frühphase der chinesischen Wirtschaftsreform und der einst verhältnismäßig weit ressourcenstärkeren MNU seien sie durch ihr überdurchschnittliches Einkommen und ihr öffentliches Ansehen lange in einer privilegierten Position gewesen. Dank des beispiellosen wirtschaftlichen Erfolgs der Volksrepublik sei dieser Vorteil jedoch dahin: Die waiqi white collars könnten mit dem wachsenden Wohlstand, aber nicht zuletzt auch den sozialen Ressourcen der oberen Angestellenschicht einheimischer Unternehmen nicht mehr mithalten. Daher sei der Vergleich mit diesen anderen Statusgruppen für sie deprimierend. In diesem Zusammenhang wurde die Gruppe der waiqi white collars schon vor fast zwanzig Jahren als „white-collars of no permanent estate, determination and career“ (Abb. 5) bezeichnet.

Die Alleinstellung der waiqi white collars als moderne und erfolgreiche Chinesen ist damit aus der medialen Darstellung verschwunden. Umgekehrt werden nun die Modernisierungserfolge der Angestellten einheimischer Unternehmen herausgestellt. Die Zeitschrift Invest Beijing verweist z. B. im Nachdruck eines Artikels aus The Economic Daily auf die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung, die zeige, „dass die waiqi white collars keine besondere Gruppe mehr darstellen, die hochqualifizierte Chinesen neidisch macht“, wobei ein wichtiger Grund sei, „dass die Abstände zwischen den waiqi white collars und der chinesischen Gesellschaft insgesamt deutlich reduziert wurden.“ (Invest Beijing 2004, S. 66) Dem werden nun die begrenzten Karrieremöglichkeiten und die fehlende Anerkennung der chinesischen Angestellten in MNU entgegengestellt. Letztere seien empört über die MNU, weil diese sie nicht in der gleichen Weise anerkennen und bezahlen würden wie ihre westlichen Kollegen. Diese Sichtweise manifestiert sich in den emotional gefärbten Titeln der Berichte, wie etwa „Ausländische Unternehmen – fliehen oder bleiben?“ (Sun 2006), „What’s wrong with foreign enterprises?“ (Yang 2012), „Ob das Arbeitsleben in ausländischen Unternehmen sonnig oder düster ist, musst du selbst beurteilen“ (He 2010), „Das Human-Ressource-Management-Dilemma in ausländischen Unternehmen“ (Zhang 2010), „Waiqi Manager wissen nicht, wann die Glasdecke herunterfällt“ (China Entrepreneur 2002), „Flucht aus ausländischen Unternehmen“ (Yu 2006) oder „Das beschämende mittlere Lebensalter der ersten waiqi-Generation“ (Hou und Tan 2013), um nur einige Beispiele zu nennen.

Diese emotionale Sprache macht die vorgebliche Krise der waiqi white collars auf eine besondere Art und Weise real. Als Ursache wird in dramatischen Plots unter anderem auf die Nationalität und Ethnizität der chinesischen Manager verwiesen, deren scheiternde Karrieren auf eine ethnozentrische Personalpolitik in MNU zurückgeführt werden:

In den meisten ausländischen Unternehmen bekommen Chinesen kaum verantwortungsvolle Positionen. Man hört häufig, dass dort Europäer und US-Amerikaner Menschen erster Klasse sind, die Singapurer sind Menschen zweiter Klasse, Hong Kong-Chinesen oder Taiwanesen sind Menschen dritter Klasse, danach kommen die Festlandchinesen. Zudem werden unter den Festlandchinesen die Chinese Returnees bevorzugt. (Sun 2006, S. 26)

Diese immer wieder geschilderten Umstände vermitteln der Öffentlichkeit nicht nur, dass es in Bezug auf die waiqi white collars Anlass zu Besorgnis gibt, sondern sie suggerieren dabei auch eine neue, die ganze Bevölkerung betreffende Dislozierungserfahrung: jene, dass es in der Weltordnung einen Platz gebe, der den modern gewordenen Chinesen im Zuge des ökonomischen Aufstiegs Chinas zusteht, ihnen aber verweigert wird.

Folglich kommt der Bildung der Äquivalenzkette der „modern werdenden Chinesen“ eine neue Qualität zu. Im frühen waiqi-white-collars-Diskurs in Hinblick auf die Beseitigung systeminterner Hindernisse konstruiert, wird sie nun offensichtlich mit Bezug auf eine externe Blockade, die der „Westen“ verkörpert, reorganisiert. Daran ist unschwer die Veränderung im Verhältnis zwischen China und dem „Westen“ zu erkennen. Meines Erachtens lässt sich die Quasi-Äquivalenzbeziehung nun in Anlehnung an Nonhoff (2017) als Kontraritätsbeziehung umschreiben, die zwar keinen Antagonismus darstellt, aber auf ähnliche Weise wie ehedem die Entgegensetzung von altem Kollektivismus und neuem Individualismus einen neuen Antrieb für nationalpolitische Zwecke ermöglicht.

6 Fazit und Ausblick

Ausgangsfrage dieser Forschungsnotiz war, mit welcher Funktionslogik sich die mediale Darstellung der waiqi white collars vollzieht und gewandelt hat. Vorgeschlagen wurde, diese Darstellung vor dem Hintergrund eines politischen Modernisierungs- und Entwicklungsnarrativs näher zu betrachten, das sich schlicht als Hegemonieprojekt des chinesischen „Modernwerdens“ beschreiben lässt. Die Hinwendung zur Diskurs- und Hegemonietheorie von Laclau und Mouffe hat es erlaubt, das Zusammenspiel von politischen Motiven, Praxis der Normalisierung und nationaler Identitätsstiftung zu beleuchten. Die mediale Darstellung der waiqi white collars in den staatlichen Printmedien liefert, wie gezeigt, ein gutes Beispiel für die staatspolitische Mobilisierung und Lenkung im Rahmen der chinesischen Modernisierungsagenda, indem sie immer wieder eine neue Disloziertheit thematisiert und ein Begehren nach deren Beseitigung artikuliert. Dieses Begehren ist stets auch das, was eine „chinesische nationale Identität“ zusammenführt, wobei der „Westen“ entweder als äquivalentes oder als konträres Element den Prozess der chinesischen Selbsterfindung begleitet.

Möglich wurde diese Beobachtung mit den Mitteln einer empirisch und analytisch als politische Diskursforschung betriebenen Hegemonieanalyse, die insbesondere die diskursive Funktion des „Westens“ innerhalb des chinesischen Artikulationssystems um die waiqi white collars intelligibel macht – und damit dessen Status im Zusammenhang einer populistisch-nationalistischen Identitätspolitik. Die öffentliche Identität der waiqi white collars, so hat sich dabei gezeigt, wäre jenseits der kontextspezifischen Darstellungen dieser Gruppe nicht verstehbar. Die hegemonietheoretische Diskursanalyse hat das kritische Augenmerk in diesem Zusammenhang zudem auf die Unabgeschlossenheit jeglichen Bestimmungsversuchs der waiqi-white-collar-Identität gelenkt. Hegemonietheoretisch gesprochen ist letztere auf eine dynamische, aber politisch nicht willkürliche Art und Weise in Bedeutungen fixiert und wird per Artikulation transformiert. Gemeinsam mit den weiteren artikulierten Elementen des „Westens“ und der „modern werdenden Chinesen“ wird eine symbolische Sinnstruktur der medialen Darstellung der waiqi white collars herausgebildet, die auch jenseits der medialen Sphäre zur politischen Konstruktion des modernen Chinesen als staatlicherseits gewünschter Subjekttypus beiträgt. Im Zuge des In-Beziehung-Setzens der genannten Elementen wird den waiqi white collars eine fremde Identität verliehen, die sich unter wandelenden politischen Rahmenbedingungen inhaltlich laufend verändert.

Der Rückblick auf die mediale Darstellung im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte hat diesen Zusammenhang klar offenbart, wobei sich retrospektiv zwei unterschiedliche diskursive Arrangements unterscheiden lassen, in denen die Elemente „waiqi white collar“, „MNU“, „modern werdende Chinesen“ und „rückständiges China“ jeweils auf spezifische Weise zueinander in Beziehung gesetzt wurden und werden. So bildeten die ersten drei Elemente in der medialen Darstellung der 1980- und 90er-Jahre eine Äquivalenzkette in Abgrenzung zur „chinesischen Rückständigkeit“, die als Antagonismus den Mangel repräsentierte, den es durch kollektive Anstrengung zu überwinden galt. Die waiqi white collars nahmen in diesem Zusammenhang eine „role model“-Funktion ein: Sie repräsentierten eine an „modernen“, mit dem „Westen“ assoziierten Werten orientierte Avantgarde des Fortschritts, die das „rückständige China“ hinter sich gelassen hat und daher als nachzuahmendes Identifikationsobjekt inszeniert wurde. In der gegenwärtig anhaltenden zweiten Phase hingegen ist dieser Kontrast zum „rückständigen China“ zwar nach wie vor virulent, jedoch stehen die „waiqi white collars“ und die „modernwerdenden Chinesen“ nun auch in einer konträren Beziehung zum durch die MNU repräsentierten „Westen“. Dies deutet auf eine zunehmende diskursive Tendenz hin, dem „Westen“ eine symbolische Blockade des rasanten Aufstiegs Chinas vorzuwerfen, wodurch eine generalisierbare nationale Dislozierungserfahrung hervorgerufen wird. Die waiqi white collars werden zum übermittelnden Träger dieser Erfahrung. Auch weiterhin ist ihre mediale Darstellung dabei eingebunden in ein politisches Narrativ des „Modernwerdens“, in dem sich national mobilisierende Identitätsstiftung und Mangelbehebung verknüpfen; jedoch werden sie nicht mehr eindeutig mit dem identifikatorischen Ort dieser Behebung assoziiert, sondern sind als vermeintliche Opfer westlicher Bevormundung nun selbst latent mangelbehaftet.

Es lässt sich somit eine programmatische Verschiebung erkennen, insofern der „Westen“ zunehmend die konträre Position innerhalb der Äquivalenz einnimmt. So spiegelt sich in der medialen Darstellung von waiqi white collars ein postwestliches Bestreben Chinas wider, das paradoxerweise zumindest partiell erneut der narrativen Logik sozialistischer Modernisierung folgt. Zugleich wäre die Deutung der medialen Darstellung als Beleg für eine insgesamt „neomaoistische“ antiwestliche Ausrichtung des gegenwärtigen China ohne Zweifel reduktionistisch. Vielmehr ist anzunehmen, dass die Regierung in einem aus ihrer Sicht bereits aufgekommenen postwestlichen Zeitalter eine assemblageartige Regierungsrationalität herauszubilden versucht, die prowestliche, antiwestliche und postwestliche Frames gleichermaßen verwendet. Die zunehmend krisenhafte Darstellung der waiqi white collars unterfüttert dabei die kollektive Vorstellung, dass das Zeitalter der nachholenden Entwicklung mit Blick auf den „Westen“ der Vergangenheit angehört. Als konträr zum „rückständigen China“ positionierte Avantgarde sind die waiqi white collars obsolet geworden. Nicht zuletzt die Betonung ihrer dauerhaften Benachteiligung in den MNU verweist negativ auf die Notwendigkeit, sich institutionell von der Orientierung am „Westen“ zu emanzipieren, ohne dass damit freilich eine umfassende Rückkehr zu antikapitalistischen Wertorientierungen impliziert wäre.

Abschließend muss betont werden, dass die Entwicklung der kollektiven Identität der waiqi white collars trotz allem nicht als einseitig und ausschließlich von externen Einflüssen determinierter Prozess missverstanden werden darf. Denn kollektive Identitätsbildung ist nach Stuart Hall (2004, S. 173) immer eine kulturelle Praxis des „Vernähens“ von „Diskursen und Praktiken auf der einen Seite – die Anrufung, uns als diskursiv bestimmtes gesellschaftliches Wesen zu verorten – und Prozessen, die Subjektivitäten produzieren, auf der anderen Seite – die uns als Subjekt konstruieren, die sich ‚sprechen‘ lassen, die verständlich sind“. Diese andere Seite wäre in diesem Fall das „Sprechen“ der waiqi white collars und ihre Selbstbeschreibung als „moderne Chinesen“, die jedoch nicht im Fokus der vorliegenden Studie standen. Dies wäre ein interessanter Ausgangspunkt für weitere empirische Untersuchungen – mitsamt der Frage, ob und wie sich waiqi white collars hegemonialer Fremdkonditionierung des „Modernwerdens“ widersetzen.