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Struktur und Genesis der Fremderfahrung bei Edmund Husserl

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Zusammenfassung

In seiner Fünften Cartesianischen Meditation entwickelt Husserl eine transzendentale Theorie der Fremderfahrung, der sogenannten ,,Einfühlung“. Diese Theorie charakterisiert er in dieser Schrift als ,,statische Analyse“. Genau besehen werden darin jedoch mehrere genetische Momente der Fremderfahrung in Betracht gezogen. In diesem Aufsatz versucht der Verfasser, zuerst aufgrund einiger nachgelassener Texte Husserls die wesentlichen Charaktere der statischen und der genetischen Methode und auch den Zusammenhang der beiden festzustellen, um dann aus der Analyse der Fünften Meditation die statischen und die genetischen Momente konkret herauszuarbeiten. Aus dieser Untersuchung wird deutlich, dass die Theorie der Fremderfahrung in der Fünften Meditation als statische Analyse angesehen werden kann, insofern sie die ,,Fundierungsstruktur“ der Fremderfahrung klärt. Es ergibt sich aber auch, dass sie bereits in die genetische Sphäre eingetreten ist, sofern sie durch den ,,Abbau“ der höheren Sinnesschicht der Fremderfahrung die primordiale Eigenheitssphäre als Unterschicht freilegt, und wenn sie dann versucht, von dieser Eigenheitssphäre her die höhere Konstitution des fremden Leibes und des alter ego durch die ,,paarende Assoziation“ als ,,passive Genesis“ aufzuklären. Dieser halb-genetischen Theorie fehlt jedoch ein weiteres notwendiges Verfahren der genetischen Methode (das der Rückfrage nach der ,,Urstiftung“), das überprüfen soll, ob und wie alle zur primordialen Sphäre gehörigen Sinne (,,mein Leib“, ,,mein Menschen-Ich“ usw.) wirklich ohne konstitutive Leistungen der auf fremde Subjektivität bezogenen Intentionalität “urgestiftet” werden können. Einige Stellen der Fünften Meditation weisen darauf hin, dass eine solche Urstiftung unmöglich wäre. In der Tat hat der späte Husserl seine ehemalige Konzeption, die die statische Fundierungsabfolge zugleich als notwendiges genetisches Nacheinander auffasste, revidiert.

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Notes

  1. Als Beispiele der bisherigen Untersuchungen über die statische und die genetische Methode und über die Beziehung der beiden nenne ich Lee (1993, S. 17–28) und Steinbock (1995, S. 37ff.).

  2. Zu einem sachlichen Ursprung der genetischen Phänomenologie vgl. Sakakibara (1997).

  3. In den Cartesianischen Meditationen definiert Husserl die ,,Urstiftung“ als eine Bewusstseinsleistung, in der der Sinn eines Gegenstandes sich seinem ,,Typus“ nach ,,erstmalig konstituiert“ (Hua I, 141). Die Urstiftung steht aber im innigen Zusammenhang mit der aktiven und passiven Genesis. Husserl zufolge sind die aktiven Genesen diejenigen ,,Ichakte“ oder ,,geistigen Aktivitäten“, in denen sich ,,auf dem Untergrunde schon vorgegebener Gegenstände […] neue Gegenstände ursprünglich konstituieren“ (Hua I, 111f.). Im Gegensatz dazu wird die Leistung, die der aktiven Genesis gerade den Untergrund bietet, eine ,,vorgebende Passivität“ oder eine ,,Konstitution durch passive Genesis“ genannt (Hua I, 112). Die ,,geistigen Charaktere“, z.B. als ,,Hammer“, als ,,Tisch“, als ,,ästhetisches Erzeugnis“, sind fundiert in dem Sinn des ,,bloßen Dinges“. Wenn aber die geistigen, solche fundierten Sinne gebenden Aktivitäten (= aktive Genesen) vollzogen sind, muss die ihnen den Sinn (,,bloßes Ding“) liefernde ,,passive Synthesis“ (= passive Genesis) ,,immer weiter im Gang“ sein. Wenn aber ein solches ,,bloßes Ding“, ein ,,Gegenstand“ als ,,Substrat kennenzulernender Prädikate“, dank dieser passiven Genesis immer schon dem ,,entwickelten ego“ vorgegeben ist, weist diese Form der Bekanntheit (,,Gegenstand“, ,,Raumding“ usw.) weiter auf ihre ,,Urstiftung“, auf ihr ,,ursprüngliches Kennenlernen“ zurück (Hua I, 112f.). Husserl sagt: ,,Es liegt an einer wesensmäßigen Genesis, dass ich, das ego, und schon im ersten Blick, ein Ding erfahren kann“. Wir ,,mussten“ ,,in früher Kindheit das Sehen von Dingen überhaupt erst lernen“ und dergleichen ,,musste“ ,,allen anderen Bewusstseinsweisen von Dingen genetisch vorangehen“ (Hua I, 112).

  4. In diesem Artikel zitiere ich dieses Adjektiv in der richtigen Form ,,primordial“, obwohl das Wort im Text der Hua I immer in der Form ,,primordinal“ auftritt. Dazu vgl. Held (1972, S. 31, Anm. 37).

  5. Wenn man aber diese Analyse als genetische betrachten wollte, wäre sie so zu interpretieren, als Analyse zum ,,Problem einer fiktiven Genesis: Angenommen, eine originale Umwelt sei ohne fremde Subjekte, bzw. ohne in ihr auftretende fremde Leiber konstituiert, es gebe in ihr nur meinen Leib und Aussendinge; angenommen, es trete nun in dieser originalen Umwelt für mich ein ,fremder Leibkörper’ auf, was muss dann durch die Erfahrung der Ähnlichkeit dieses Fremdkörpers mit dem eigenen Leibkörper motiviert sein?“ (Hua XIV, 477). Fiktiv ist sie, weil die ,,Genesis der Fremdappräsentation“ ,,die vorangegangene Genesis einer Umwelt ohne Fremdsubjektivität“ nicht voraussetzt (ebd.). Dazu vgl. auch Steinbock (1995, S. 68): ,,Husserl offers a static examination of phenomena that have already been disclosed genetically“.

  6. Es ist bekannt, dass Held in der Formel ,,wie wenn ich dort wäre“ eine doppeldeutige Verwicklung der quasi-positionalen Vergegenwärtigung mit der positionalen entdeckt hat (Held 1972, S. 34ff.). Diese Zweideutigkeit zeugt dafür, dass die thematische Fremderfahrung ohne die je schon vollzogene passive Konstitution der Mitsubjekte, ohne das unthematische Bewusstsein von den immer mitfungierenden Anderen, unmöglich ist. Meiner Meinung nach muss man jedoch ferner nach dem Uranfang dieser passiven Konstitution in der Geschichte des Bewusstseinslebens zurückfragen. Wir sehen später, dass die Sinne Ich und Andere erst durch die Weckung von den Eltern gleichursprünglich urgestiftet sein müssten. Diese Urstiftung müsste auch der Uranfang der passiven Konstitution der mitfungierenden Anderen sein. Daraus folgt aber nicht, dass am Anfang des Bewusstseinslebens ein transzendentaler wacher Robinson stünde. Denn es könnte vor jener Urstiftung nur ein dumpfes, noch unindividualisiertes allgemeines Bewusstsein von der Welt geben, aber noch kein waches Ich.

  7. Vgl. Mach (1922, S. 15, Fig. 1).

  8. Husserl zufolge ist die primäre Selbstzeitigung ,,noch nicht das spezifisch Eigentümliche des Ichlichen“, sondern ein ,,im allgemeinen Bewusstsein sich vollziehende[s] Zeitigen“ (A V 5/7a).

  9. In einem nachgelassenen Text von 1934 (C 1) spricht Husserl von dem ,,zeitigenden Ineinander“ der Monaden (Hua XV, 668). Zu diesem Punkt vgl. auch Held (1966, S. 159f.).

  10. Zur thematischen und unthematischen Fremdbeziehung vgl. Zahavi (1996, S. 41ff.).

  11. Vgl. Lee (2002, S. 174ff.); vgl. auch Hua XV, 635. Aufgrund seiner Erfahrungen in der psychiatrischen Therapie behauptet auch ein japanischer phänomenologischer Psychopathologe, Bin Kimura, dass das ,,Selbst“ erst durch die Begegnung mit dem ,,Anderen“ in dem von vornherein intersubjektiven ,,Zwischen, das als solches nicht Selbst ist“, zum Selbst wird (Kimura 2006, S. 271f.).

  12. Zu diesem inneren Bewusstsein des phänomenologisierenden Ich vgl. Sakakibara (2004); vgl. auch Zahavi (1996, S. 59f.) und Zahavi (2005, S. 65ff.).

  13. Zur ,,absoluten Selbstverantwortung“ des Phänomenologisierenden vgl. Landgrebe (1963, S. 198f.); vgl. auch Hua VIII, 197f., Hua VI, 272f.; vgl. weiter Watanabe (1978, S. 57, 60f.).

  14. Zu diesem Punkt vgl. Taguchi (2006).

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Correspondence to Tetsuya Sakakibara.

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Der vorliegende Beitrag beruht auf dem Text, den ich an der fünften Jahrestagung der nordischen Gesellschaft für Phänomenologie vom 20. bis 22. April 2007 an der Universität zu Kopenhagen vorgetragen habe. Für die Einladung zur Tagung möchte ich hiermit Herrn Professor Dr. Dan Zahavi, der Nordischen Gesellschaft für Phänomenologie und dem Center for Subjectivity Research herzlich danken. Auch dem Direktor des Husserl-Archivs zu Löwen, Herrn Professor Dr. Rudolf Bernet, möchte ich für die Erlaubnis danken, aus einem unveröffentlichten Manuskript zu zitieren.

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Sakakibara, T. Struktur und Genesis der Fremderfahrung bei Edmund Husserl. Husserl Stud 24, 1–14 (2008). https://doi.org/10.1007/s10743-007-9029-8

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