Einleitung

Nach wie vor werden in Deutschland 4/5 der rund 5 Mio. Menschen mit Pflegebedarf (im Sinne des Sozialgesetzbuches (SGB) XI) zuhause begleitet. Die Versorgung erfolgt zumeist durch pflegende An- und Zugehörige mit Unterstützung durch ambulante Pflegedienste (Statistisches Bundesamt 2022). Auf der Suche nach weiterer, kostengünstiger Entlastung und Unterstützung, die gleichzeitig den Verbleib zu Hause ermöglicht (Hoens und Smetcoren 2023), greifen informell pflegende An- und Zugehörige sowie pflegebedürftige Menschen auch auf die Beschäftigung von „Live-In Migrant Care Workers“ zurück. Diese sind in Deutschland zumeist Frauen aus Osteuropa (v. a. Polen), die mit der pflegebedürftigen Person und ggf. deren An- und Zugehörigen in einem Haushalt leben („living in“).Footnote 1 Angaben darüber, wie viele Live-Ins in Deutschland tätig sind, schwanken aufgrund der z. T. immer noch ungeregelten Beschäftigungsverhältnisse zwischen 300.000–700.000 (Sachverständigenrat für Integration und Migration 2022, S. 77). Die Tätigkeit als Live-In wird insbesondere aufgrund finanzieller Motive aufgenommen. Dazu zählen das Überkommen finanzieller Notlagen und finanzieller Absicherung ebenso wie der Wunsch danach, die eigenen und familiären Lebensverhältnisse zu verbessern (Kniejska 2016). Diesen unterschiedlichen Bedarfen entsprechend basieren die Live-In Arrangements auf diversen Mobilitätsmustern. Die genannte Schätzung der Live-Ins in Deutschland ist deshalb besonders auch davon abhängig, ob hierbei die Haushalte oder die Zahl arbeitender Live-Ins zugrunde gelegt werden. In manchen Modellen wechseln sich mehrere Live-Ins in Intervallen von Wochen oder wenigen Monaten in einem Haushalt ab und kehren in den Zwischenzeiten – ohne Lohnfortzahlung – zu ihren eigenen Familien zurück (sog. Pendel-Arbeitsmigration). Außerdem bestehen Unterschiede hinsichtlich der Vermittlung: Neben privater Vermittlung über Annoncen, Mundpropaganda und informelle Netzwerke sind im „grauen Pflegemarkt“ (Emunds und Habel 2020) auch Vermittlungsagenturen tätig (Habel und Tschenker 2022; Leiber et al. 2019). Diese sind auf die Vermittlung von Live-Ins an (west-)europäische Haushalte spezialisiert. Der fehlenden Regulierung und der damit einhergehenden semi- oder illegalen Beschäftigung der Live-Ins ist auch geschuldet, dass es keine Informationen über die Vertragsbedingungen gibt. Einem Verfahren vor dem Bundesarbeitsgerichts zufolge erhielt die klagende Live-In 950 € netto/Monat und war laut Arbeitsvertrag zu einer Wochenarbeitszeit von 30 h verpflichtet (5 AZR 505/20, 24.06.2021). Das Gericht ging in seinem Urteil jedoch von einem weit höheren Gehaltsanspruch aus, da Mindestlohn nicht nur für Vollarbeit, sondern auch für Bereitschaftszeiten gezahlt werden muss. Die Kosten für die An- und Zugehörigen oder die*den Pflegebedürftige*n liegen, je nach Anstellungsmodell, Abgaben und Gebühren bspw. an die Vermittlungsagentur, bei 2000 € bis 3000 € pro Monat (Allianz 2023). Vermittlungsagenturen berufen sich in der Regel zwar auf die EU-Entsenderichtlinie, bieten den Live-Ins allerdings Verträge an, die die Möglichkeiten der Arbeitsgestaltung (u. a. Rotation, Arbeitszeit) stark einschränken und im Fall des vorzeitigen Vertragsaustritts hohe Strafzahlungen vorsehen (Satola und Schywalski 2016).

Live-Ins übernehmen eine Vielzahl an Aufgaben – von Haushaltsführung über Freizeitgestaltung bzw. Zeitvertreib bis hin zu Körperpflege (Rossow 2021, S. 21). Teils haben sie eine Pflegeausbildung oder ein Pflegestudium abgeschlossen, allerdings üben auch Live-Ins ohne professionelle Kompetenz pflegerische Aufgaben wie Wundversorgung, Messung von Vitalparametern, etc. aus (Rossow 2021, S. 22). Ob sie dazu von der Vermittlungsagentur, An- und Zugehörigen oder dem ambulanten Pflegedienst angehalten oder von sich aus tätig werden, kann nicht nachvollzogen werden.

Neben der inhaltlichen Entgrenzung der Tätigkeiten zerfließen auch die Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit (Satola und Schywalski 2016, S. 131; Steiner et al. 2020), und zwar sowohl zeitlich wie räumlich: Die durchgängige Nähe zu dem*der Gepflegten geht mit einem Mangel an Privatsphäre für die Live-In einher; die konstante Angewiesenheit des*der Gepflegten auf die Live-In, aber auch Sprachbarrieren und Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen aufgrund von Herkunft oder anderen Faktoren (Turnpenny und Hussein 2022; University of Nottingham Rights Lab 2022) führen zu sozialer Isolation (Schilgen et al. 2020). Diese wird in vielen Fällen dadurch verstärkt, dass die Live-In illegal angestellt und/oder nicht sozialversichert ist.

Aufbauend auf der sozialempirischen Arbeit von van Bochove und zur Kleinsmiede (2020) ebenso wie Ayalon (2022), die die Bedeutung von Interaktionen in „care networks“ für Erfahrungen, Lebens- und Arbeitsumstände der Live-Ins darlegen, wird die Beziehungsgestaltung zwischen den Beteiligten hier als ein zentrales Element der Live-In Arrangements verstanden. Das Arbeits- und letztlich Lebensmodell der Live-Ins ist also nicht ohne einen Blick auf ihre Interaktionen und rechtlich-vertragliche, fachliche, persönliche und soziale Beziehung zum*zur Pflegebedürftigen und zu den An- und Zugehörigen zu verstehen (Kriegsmann-Rabe et al. 2023). Im Folgenden soll deshalb mit Hilfe empirischer Studien zur Live-In-Versorgung und einer Care-ethischen Perspektive die Beziehungsgestaltung der Beteiligten im Microsetting der Arrangements analysiert und kritisch reflektieren werden. Ausgehend von der Prämisse, dass Live-Ins über die „dyadischen Beziehungen“ zwischen einzelnen Individuen hinaus in ein Beziehungsnetz eingebunden sind, konzentrieren wir uns in dem vorliegenden Beitrag auf die InteraktionenFootnote 2, die sich „hinter der Türschwelle“ im Empfängerland, d. h. in der Häuslichkeit im engen Sinne, abspielen. Der Beitrag fokussiert auf ein- oder gegenseitige AbhängigkeitFootnote 3 der am Live-In Arrangement Beteiligten und damit einhergehend ihre Verantwortung. Im Zentrum stehen zwei ineinandergreifende Fragen: 1) Wie lassen sich die Abhängigkeiten im Live-In Arrangement auf der Basis des bisherigen Korpus empirischer Studien charakterisieren? 2) Wie sind die empirisch zutage tretenden Strukturen mit Fokus auf die drei Beziehungselemente Macht, Abhängigkeit und Vertrauen in der Care-ethischen Reflexion einzuordnen?

Methode und Ziel

Die Beschreibung des Care-Netzwerks (vgl. Abschnitt „die Akteur*innen“) und der darin bestehenden Beziehungen (vgl. Abschnitt „Die vielen Facetten der Beziehungsgestaltung: Empirische Evidenz“) bildet die Grundlage dafür, die innerhalb der Live-In-Beziehungen zu Tage tretenden Strukturen von Macht, Abhängigkeit und Vertrauen ethisch zu reflektieren (vgl. Abschnitt „Eine theoretische Annäherung: Care-Ethik als Praxis“). Diese drei Aspekte wurden bereits von C. Delmar (2012) als Basis einer Care-ethischen Analyse der Beziehungen im Ausgang von K. E. Løgstrup (2020) und K. Martinsen (2006) – allerdings zwischen Pflegefachpersonen und Patient*innen – genutzt. Da die ethische Reflexion zur Klärung von Verantwortung und Vermeidung von Machtmissbrauch grundlegend im Verständnis einer Care-Ethik als Praxis ist, werden in einem ersten Schritt die praxisbezogenen Phasen von Joan Tronto (1993) (caring about, caring for, care receiving, care giving) herangezogen, um die in der empirischen Literatur beschriebenen Abhängigkeiten, die sowohl multilateral als auch multidirektional sind, zu erfassen. Die Beziehungen werden in einem zweiten Schritt dabei aus der Beobachter-Perspektive – auf Basis empirischer Studien – beschrieben und anhand der vier ethischen Dimensionen der Care-Ethik Trontos, d. h. Achtsamkeit (attentiveness), Verantwortlichkeit (responsibility), Kompetenz (competence) und Resonanz (responsiveness) beleuchtet.

Die Auswahl der empirischen Literatur erfolgte anhand einer systematisierten Recherche im Juni 2023 mit den Suchworten „Live-In“, „migrant live-in“, „migrant live-in care“, „migrant care worker“ AND „live-in“ in den Datenbanken Medline (via Pubmed), Cinahl (via EBSCO) und LIVIVO. Ergänzt wurde diese Suche durch eine Recherche in Google und Google scholar sowie durch Schneeballsuche (Screening der Literaturverzeichnisse identifizierter Studien) und Handsuche in potenziell relevanten bzw. einschlägigen Zeitschriften. Vor dem Hintergrund, dass Live-In-Arrangements in Deutschland bislang nur punktuell empirisch untersucht wurden, wird im Folgenden insbesondere auf Studien rekurriert, die in anderen Ländern durchgeführt wurden. Diese können dennoch – gerade bei dem Blick „hinter die Türschwelle“ – die Situation der Live-Ins in Deutschland entscheidend erhellen.

Die „hinter der Türschwelle“ agierenden Personen sind in jedem Fall die Live-In selbst und der Mensch mit Pflegebedarf. Hinzu kommen, je nach Fallkonstellation, weitere (mit-pflegende oder mit zu pflegende) An- und Zugehörige, die in demselben Haushalt leben und/oder Pflegefachpersonen eines ambulanten Pflegedienstes. Eine umfassende Übersicht von Akteur*innen, die auf Mikro‑, Meso- und Makro- bzw. Public Health-Ebene Einfluss auf die Situation der Live-In haben (können), findet sich bei Seidlein und Kuhn (2023) sowie Kuhn und Seidlein (2023). Auf weitere, lediglich intermittierend und punktuell anwesende Akteur*innen (wie bspw. Hausärzt*innen, Ergo- oder Physiotherapeut*innen und weitere Dienstleistende wie Podolog*innen) wird im Folgenden kein Bezug genommen, da diese nicht routinehaft über längere Zeiträume hinweg im Alltag anwesend und involviert sind.

Hinsichtlich des Zusammenspiels der Personen, die „hinter der Türschwelle“ agieren, und etwaiger Herausforderungen der Beziehungsgestaltung sind die Erwartungen der Akteur*innen von ihrer subjektiven Wahrnehmung der Beziehung zu unterscheiden.

Die vielen Facetten der Beziehungsgestaltung: Empirische Evidenz

Live-In – Pflegebedürftige*r

Wie eingangs bereits beschrieben, ist die Beziehung zwischen Live-In und Pflegebedürftigem*r durch Asymmetrie geprägt, da mindestens die soziale und wirtschaftliche Machtverteilung ungleich ist. Zugleich besteht jedoch auch eine ausgeprägte gegenseitige Abhängigkeit.

Dennoch kann sich offenbar eine emotionale Beziehung zwischen der Live-In und dem*der Pflegebedürftigen sowie, wenn vorhanden, mit im Haushalt lebenden An- und Zugehörigen entwickeln, die mit gegenseitiger Achtung einhergehen und von der Familie des*der Pflegebedürftigen sowohl positiv als auch negativ bewertet werden kann. Wie Baldassar et al. (2017) feststellen, ist der Ausgangspunkt dieser emotionalen Verbundenheit oft schlichtweg „sharing the minutiae of everyday life“ (Baldassar et al. 2017, S. 525). Es können sich auf der Basis dessen, was im Alltag getan und ausgetauscht wird, familiäre/verwandtschaftliche Beziehungen zwischen Live-In, Pflegebedürftiger*m und mitlebenden Angehörigen entwickeln; ein Prozess der häufig als „Kinning“Footnote 4 bezeichnet wird. Die Häuslichkeit der Pflegebedürftigen, welche zugleich Arbeits- und Lebensort der Live-In und damit gemeinsamer Haushalt ist, kann sich so zu einem mit ambigen Gefühlen verbundenen „Zuhause“ für die Live-In entwickeln (Boccagni 2018). Es ist allerdings möglich, dass die Live-In zugleich spürt, nirgendwo mehr (richtig) hin zu gehören und zuhause zu sein (Hopfgartner et al. 2022, S. 309). Die forcierte Nähe durch ständige Ko-Präsenz (gerade bspw. bei Menschen mit Demenz, für die Live-Ins insbesondere auch zur Beaufsichtigung beschäftigt werden) spielt dabei eine entscheidende Rolle. Live-Ins werden zu Vertrauenspersonen, die Sicherheit und Orientierung geben, so dass der*die Pflegebedürftige*r diese Nähe im Verlauf auch einfordert:

“I mean, granma is good, but it’s hard—she’s got used to me so much, she trusts me. She doesn’t even stay in a room without me. If I go to my room she follows me, if I go to the bathroom she follows me. […] And of course, when she’s without me, she feels lost. But this is a hard thing, it’s hard for a worker. It drives you crazy … […] it’s not easy to go away although you would like to, you see what you mean? If you didn’t care about her, then, it would be different” (Boccagni 2018, S. 821).

Es scheint demnach einen unauflösbaren Widerspruch zu geben zwischen der gleichzeitigen Existenz einer Arbeitgeber-Arbeitnehmerin-Beziehung, die durch strukturelle Ungleichheit gekennzeichnet ist, und der offenbar vorhandenen Möglichkeit, dass die Beziehung sowohl für die Arbeitnehmerin als auch für diejenigen, die sie beschäftigen (Angehörige, Pflegebedürftige), emotional bedeutsam und mehr als eine vertragliche Beziehung ist. Untersuchungen mit philippinischen Live-Ins in Neuseeland haben ergeben, dass sie anfällig für das Verschwimmen emotionaler GrenzenFootnote 5 und die Forderung der Pflegebedürftigen nach einem größeren emotionalen Engagement sind (Lovelock und Martin, 2016). Von der Live-In geht demnach oft ein starkes Verantwortungsgefühl gegenüber dem pflegebedürftigen Menschen aus. Allerdings – so zeigt die Arbeit von Boccagni (2018) – bedeutet eine „bessere“ und „engere“ persönlichen Beziehung nicht, dass die ursprüngliche Rollenverteilung in Frage gestellt wird. Auch das Bedürfnis der Live-In, sich abzugrenzen und Privatheit aufrecht zu erhalten, kann dabei weiter bestehen bleiben (Boccagni 2018).

“I feel like one of the family … as I’m in charge of all this. But I don’t want to be one of the family! This is a job—and that’s all. I do it with my all my heart but … I don’t want to feel like one of the family” (Boccagni 2018, S. 824).

Live-In – Pflegebedürftige*r – Angehörige

Die Care-Beziehung wird sowohl von Pflegebedürftigen als auch von Live-Ins selbst als zentral für die „Pflegequalität“ verstanden; die (formale) Qualifikation und fachliche Kompetenzen eher als zweitrangig (Walsh und Shutes 2013). Diese Live-In Care-Beziehungen können vielmehr, anhand der Studienergebnisse von Walsh and Shutes (2013), entlang der Themen „Bedarfsorientierung“ (Beziehung orientiert sich an den Sorge-Bedürfnissen des*der Pflegebedürftigen), „Freundschaft und familienähnliche Beziehungen“ (mehr als Beziehung zwischen Dienstleisterin und Dienstleistungsnutzenden), „Gegenseitigkeit“ und „Diskriminierung“ beschrieben werden, wobei sich die Aspekte nicht gegenseitig ausschließen, sondern parallel existieren.

Auch die impliziten und expliziten Erwartungen von mitlebenden Angehörigen an Live-Ins stellen ein für die Beziehungsgestaltung relevantes Moment dar. Lauxen (2011) untersuchte bspw. aus Sicht pflegender Angehöriger (n = 8), welche Faktoren zu einem gelingenden Live-In Pflegearrangement beitragen. Pflegende Angehörige stellen demnach hohe Erwartungen sowohl an pflegefachliche (z. B. Mobilisation, Körperpflege, krankheitsspezifisches Wissen und Wissen zu Prophylaxen) als auch persönliche Kompetenzen (z. B. Geduld, Einfühlungsvermögen) und erwarten ebenso bestimmte Charaktereigenschaften bzw. Tugenden (z. B. Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Genügsamkeit und Tatkraft). Entsprechend bewerten sie das Pflegearrangement als „misslungen“, sofern sie der Live-In das Fehlen dieser Kompetenzen attestieren (vgl. dazu auch Gerhards et al. 2022).

Rossow bezeichnet in diesem Kontext das in ihrer Studie mit Angehörigen von pflege- und/oder betreuungsbedürftigen Personen aufgedeckte Phänomen, dass die Live-In „als genuin Fremde (…) das Intime bewahren oder herstellen“ (Rossow 2021, S. 201) soll, als „Intimitätsparadoxon“ (Rossow 2021, S. 200ff.). Sie kommt zu dem Schluss, dass „[d]ie Erwartungen und Projektionen der Arbeit gebenden Familien (…) im Prinzip der Fortsatz ihrer Gewohnheiten [sind, d.Verf.], die sich in eine (An‑)Forderung an die Live-ins übersetzt und die per definitionem (zunächst) nicht einlösbar ist“ (Rossow 2021, S. 201). Ob und inwiefern die Beziehung sich in triadischen Konstellationen, in denen auch der*die mitlebende An‑/Zugehörige erkrankt und/oder pflegebedürftig ist oder im Verlauf der Beschäftigung der Live-In krank und/oder pflegebedürftig wird, anders gestaltet, kann anhand derzeit vorliegender empirischer Arbeiten noch nicht eingeschätzt werden. Dass dieses Szenario nicht unwahrscheinlich ist, da auch pflegende Angehörige – unabhängig von der Pflegeübernahme, aber auch durch die Pflegeübernahme – von chronischen (Mehrfach‑)Erkrankungen betroffen sein können, zeigen Studien aus dem Kontext der häuslichen Langzeitpflege (Fuchs et al. 2023; Janson et al. 2022; Seidlein et al. 2020); jedoch bislang ohne Live-In Arrangements in den Blick genommen zu haben.

Live-In – Pflegebedürftige*:r – Angehörige – ambulanter Pflegedienst

Abhängig vom konkreten Care-Arrangement wird die Care-Dyade oder -Triade punktuell durch einen ambulanten Pflegedienst unterstützt (Sell 2019). Auch die Mitarbeiter*innen eines solchen Dienstes treten regelmäßig, einmal oder mehrfach täglich über die Türschwelle und sind meist in besonders intimen Situationen (bspw. Körperpflege, Verbandswechsel bei chronischen Wunden, Pflege von Zu- und Ableitungen wie PEG, Colostoma o. ä.) zugegen.

Empirische Studien über das Verhältnis zwischen ambulantem Pflegedienst, Live-In und pflegebedürftigen Menschen in der Häuslichkeit sind rar. Ostermann (2020) identifiziert vier Erscheinungsformen des Zusammenwirkens von Live-In und ambulantem Dienst: Aufeinandertreffen, Nebeneinanderher, Konfrontation und Kooperation. Abhängig vom Pflege-Arrangement können Live-In und Pflegedienst die einzigen sein, die bezüglich der Pflege des*der Pflegebedürftigen miteinander in Dialog treten und sich austauschen. Dieser Austausch bzw. die von Ostermann so genannte „Interessenallianz“ (Ostermann 2020), ist dabei zumeist funktional, und gründet in der subjektiven Realität der Care-Gebenden.

Auch eine Studie von Ayalon et al. (2013), die Live-In Arrangements in Israel – allerdings in der besonderen Situation eines Krankenhausaufenthaltes – untersuchte, zeigt, dass das Zusammenspiel bei hospitalisierten pflegebedürftigen Menschen und den sie begleitenden Live-Ins sowie den Angehörigen und Pflegefachpersonen aufgrund unklarer Rollenverständnisse und nicht konsentierter Aufgaben schwierig ist. Während pflegende Angehörige in diesem Kontext das „Management“ der Pflege als ihre Hauptaufgabe verstehen, erwarten die anderen Akteur*innen (u. a. auch Pflegefachpersonen des Krankenhauses) von den Angehörigen stattdessen vor allem Präsenz durch Besuche, emotionale Unterstützung und auch die Übernahme kleinerer Aufgaben in der „hands-on“-Pflege. Es sind allerdings die Live-Ins, die während der Hospitalisierung in Gegenwart der besuchenden Angehörigen die Körperpflege, das Anreichen der Mahlzeiten und vieles mehr übernehmen. Lediglich Ehefrauen berichten über sich selbst (und werden auch von den anderen Beteiligten so wahrgenommen), dass sie die Live-In während Ruhezeiten ablösen und dann „stellvertretend“ eine aktive Rolle bei der direkten Pflege übernehmen. Misstrauen der pflegenden Angehörigen gegenüber der Live-In und ihrer Zuverlässigkeit, unterschiedliche und damit enttäuschte Erwartungen an die Rolle des*der jeweils anderen stellten in dieser Studie weitere zentrale Ergebnisse dar. Die Untersuchung gibt jedoch nur Auskunft über Live-In Arrangements in einer Ausnahmesituation (d. h. der Hospitalisierung des*der Gepflegten) und außerhalb des deutschen Gesundheitssystems. Die Beziehungsgestaltung zwischen den Akteur*innen im Alltag von Live-In Arrangements steht nicht im Fokus. Dennoch wird deutlich, dass die Erwartungen der Beteiligten aneinander sehr unterschiedlich und entscheidend sind, und damit auch ein für die Beziehungsgestaltung relevantes Moment darstellen.

Eine theoretische Annäherung: Care-Ethik als Praxis

Zwischen denjenigen, die Hilfe anbieten und denjenigen, die auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind bzw. diese empfangen, besteht in der Regel ein grundsätzliches, am Gesundheitsstatus und an Fachkompetenz gebundenes Ungleichgewicht. Pflegefachpersonen verfügen in der Regel über mehr professionelle Kompetenz als die Care-Empfangenden, z. B. Patient*innen im Krankenhaus. Letztere sind in der Regel von kompetenten Tätigkeiten, einschließlich Kommunikation und technischen Handhabungen, abhängig. Dadurch entsteht ein Ungleichgewicht an Kompetenz bzw. Wissen und Macht. Live-Ins sind jedoch zu einem großen Teil keine Pflegefachpersonen. Sie verfügen über ein Grundwissen für eine pflegerische Versorgung, sind meist jedoch nicht formal qualifiziert. Dennoch besteht ein Machtungleichgewicht auf der Basis von Angewiesenheit, d. h. der*die Care-Empfangende*n sowie An- und Zugehörige sind auf die Live-In angewiesen, weil sie selbst nicht über das Grundwissen in der Pflege verfügen, das die Care-Gebende Live-In zur Verfügung stellt. Deutlich ist: Im Care-Arrangement unter Einbeziehung von Live-Ins gehört die asymmetrische Machtbeziehung zwischen Care-Gebenden und Care-Empfangenden zur Alltagsrealität.

Ungleichheit und asymmetrische Beziehungen stellen für universalistische Moraltheorien, die Gleichheit postulieren, bisher kaum lösbare Probleme dar (Benhabib 1995). Entsprechend der einleitenden Schilderungen würde somit eine rein auf Handlungspflichten oder -folgen abzielende, an Vernunft und Logik ausgerichtete, generalisierende moralphilosophische Betrachtung die Situation und moralischen Motive aller involvierten Personen verkürzt darstellen. Feministische Theoretikerinnen kritisierten dies als eine Leerstelle (Ganguli-Mitra 2022).

Care-Ethik, in Deutschland auch Sorge-Ethik genannt (Henkel et al. 2016; Kohlen 2016), ist ein ethischer Ansatz, der nicht abstrakte Reflexionen anhand von ethischen Prinzipien in den Vordergrund stellt, sondern das Anerkennen von Abhängigkeiten, historischen, sozialen und situativen Kontexten sowie Beziehungen, Verantwortlichkeiten und Emotionen. Aus einer Care-ethischen Perspektive ist Abhängigkeit der conditio humana inhärent und nicht von vornherein negativ konnotiert.

Vertreter*innen der Care-Ethik sind sich einig, dass sie dem traditionellen Verständnis von Moraltheorie und normativer Ethik widerspricht. Ein zentraler Unterschied liegt darin, dass die meisten Positionen explizit an eine feministische Tradition anknüpfen. Sie eint, dass eine Individualethik weder der Praxis von Pflege, Sorge und Verantwortung noch den in ihr tätigen Personen gerecht werden kann. Wer nur von einer übergeordneten Rationalität geleitet wird oder die Interessen eines Individuums in den Mittelpunkt stellt, verliert den Blick für die Bedürfnisse der Menschen, für die Beziehungen zwischen ihnen sowie für die Kontexte der jeweiligen Praktiken (Schües 2016).

Die Relevanz der prinzipiellen Bezogenheit zwischen Menschen und die Sensibilität für Kontexte sind zentral für die Care-Ethik. Die Frage aber, wie die Beziehung, Verbundenheit und Bezogenheit zwischen Menschen gestaltet, gelebt und verstanden werden kann, ist eine, die in der Diskussion von Beteiligten, in der Gesellschaft und in den verschiedenen Versionen der Care-Ethik selbst stets erneut zu stellen und zu verhandeln ist. Was passiert ganz konkret zwischen denen, die pflegen, und jenen, die gepflegt werden oder etwa auch zwischen denjenigen, die sich gegenseitig um einander kümmern? Was für Beziehungen gibt es? Diese zentrale Frage der Care-Ethik wenden wir unter Bezugnahme auf die Care-Ethik Joan Trontos auf das gewählte Untersuchungsfeld an.

Joan Tronto, als eine Vertreterin der Care-Ethik, versteht Care als einen gehaltvollen und umfassenden Prozess, in dem es zunächst darum geht, dass Menschen bedürftig sein können. Es gilt zu bemerken (Phase 1), wenn eine Bedürftigkeit existiert, die nach einer entsprechenden Aktivität verlangt (caring about) (Tronto 1993, S. 106). In dieser ersten Phase geht es darum, die Perspektive des Gegenübers einzunehmen, für die identifizierten Bedürfnisse Verantwortung zu übernehmen sowie darüber nachzudenken, wie eine Unterstützung für die konkrete Person aussehen kann. Für die nächste Phase (Phase 2) ist die Wahrnehmung der eigenen Handlungsmächtigkeit erforderlich (caring for). Im Anschluss vollzieht sich das eigentliche Versorgen, d. h. die Umsetzung pflegerischer Aktivitäten (care giving) (Phase 3). Dies beinhaltet körperliche Aktivitäten und das In-Kontakt-Treten mit dem bedürftigen Menschen. Schließlich folgt eine Reaktion auf die Aktivitäten (care receiving) (Phase 4). Das Gegenüber zeigt, ob und wenn ja, inwiefern, die Aktivitäten für sie*ihn gelungen sind. In den vier Phasen konstituieren sich vier korrespondierende ethische Dimensionen: Achtsamkeit, Verantwortung, Kompetenz und Resonanz. Durch Achtsamkeit (attentiveness) wird erkannt, dass ein Bedürfnis vorliegt, das Aufmerksamkeit verlangt. Ignoranz wird als moralisches Übel betrachtet. Verantwortung (responsibility) als zweite ethische Dimension unterscheidet sich bei Tronto von einer Erfüllung von Pflichten. Es gelte, die Hintergründe und die Entstehung von Konflikten (und Verletzungen) bei einer Verantwortungsübernahme zu klären. Auch eine Kritik an hierarchischen Vorstellungen von Klasse, Geschlecht und ethnischer Zugehörigkeit gehört hierzu (Tronto 1993). Weiterhin erhalten Fragen der Kompetenz (competence) im Rahmen von Trontos Ansatz eine ethische Dimension. Schließlich umfasst Care als Praxis, die immer Fragen nach einer möglichen Verletzlichkeit der beteiligten Personen beinhaltet, auch Resonanz (responsiveness) im Sinne des Antwortverhaltens auf die Sorge, die erfahren wird/wurde: „The moral precept of responsiveness requires that we remain alert to the possibilities for abuse that arise with vulnerability“ (Tronto 1993, S. 135).

Im Hinblick auf die Situation der Live-Ins finden sich Ansätze des Einbezugs Care-ethischer Überlegungen bspw. bei Gerhards et al. (2022). In ihrer Untersuchung von Äußerungen pflegender An- und Zugehöriger zu osteuropäischen Live-Ins in Online-Foren diente eine „Kritische Care Ethik“ als Analyserahmen, um „sozialethische Aspekte“ herauszuarbeiten. Darüber hinaus stützt sich Olena Hankivsky (2014) in ihrer Analyse auf eine um intersektionale Perspektiven erweiterte Care-ethische Betrachtung der Situation von Live-Ins, um aufzuzeigen, wie miteinander verschränkte Machtungleichheiten die Verwirklichung von Care-Praxis in nationaler und internationaler Politik unterminieren.Footnote 6 Trotz dieser vielversprechenden Ansätze wurde die Situation der Live-Ins bislang noch nicht systematisch entlang einer Care-ethischen Theorie durchdacht.

Im Folgenden werfen wir deshalb einen Care-ethischen Blick auf die im Hintergrund-Kapitel dargestellten empirischen Befunde. Dabei dienen die vier ethischen Dimensionen Trontos als Strukturhilfe – wohlwissend, dass dies eine analytisch-theoretische Trennung ist.

Achtsamkeit

Die ethische Dimension der Achtsamkeit ist zentral für das Erkennen von Bedürfnissen (caring about). Dass die Live-InsFootnote 7 die Bedürfnisse des*der Pflegebedürftigen aufmerksam erfassen und sich dieser annehmen, wurde bereits im vorhergehenden Kapitel anhand der Ergebnisse empirischer Studien dargestellt. Live-Ins erfahren emotionalen Druck, der daraus resultiert, dass sie eng in das tägliche Leben ihrer „Klient*innen“ und deren Familien eingebunden sind. Dies verstärkt die einseitige Bedürfnisorientierung und führt dazu, dass bspw. auch im Krankheitsfall gearbeitet wird (University of Nottingham Rights Lab 2022, S. 31 ff.). Diese Unachtsamkeit der Live-In gegenüber den eigenen Bedürfnissen kann mit zunehmender Vertrautheit, Nähe und Beziehung zu dem*der Pflegebedürftigen und/oder seinen*ihren An- und Zugehörigen auch derart gesteigert werden, dass eigene Bedürfnisse dauerhaft zurückgestellt werden. Als Folge dieser dauerhaften und bis zum Äußersten getriebenen Achtsamkeit und übersteigerten Anteilnahme – sei sie intrinsisch motiviert und/oder durch das Umfeld erwartet bis sogar forciert – bestimmen im Extremfall letztlich nur noch die Interessen des*der Pflegebedürftigen den Arbeits- und Lebensalltag. Achtsamkeit kann (und sollte) mit Tronto jedoch nicht einseitig sein. Sie entsteht vielmehr zwischen den Menschen, so dass Selbstsorge immer notwendige Voraussetzung ist, um Offenheit für die Bedürfnisse der jeweils anderen erhalten zu können und Care zu verwirklichen. Einseitige Bedürfnisorientierung schränkt die Autonomie der Live-In stark ein und geht weit über eine rein „marktwirtschaftliche[n] Beziehung“ hinaus (Boccagni 2018, S. 821).

Abhängig von seiner*ihrer physischen und psychischen Konstitution ist es denkbar, dass auch der*die Pflegebedürftige die Bedürfnisse der Live-In wahrnimmt. Je nach Präsenz, Mental Load und anderen Einflussfaktoren schenken ggf. auch An- und Zugehörige und Pflegedienst-Mitarbeiter*innen den Bedürfnissen von Live-In und/oder Pflegebedürftiger*m Aufmerksamkeit und nehmen diese ernst.

Achtsamkeit in einer gelingenden Care-Beziehung würde bedeuten, diese nicht nur gegenüber der pflegebedürftigen Person, sondern gegenüber allen am Care-Arrangement Beteiligten und ihren jeweiligen Bedürfnissen zum Ausdruck zu bringen. Damit würde auch die Vulnerabilität und Sorgebedürftigkeit der Live-In in den Blick rücken. Rossow (2021, S. 245) beschreibt als Positivbeispiel, wie An- und Zugehörige vereinzelt Achtsamkeit kultivieren und als Reaktion auf die von ihnen wahrgenommene Bedürftigkeit der Live-In reagieren, indem sie sich aktiv nach deren Wohlbefinden erkundigen und Angebote unterbreiten, z. B. räumlich strukturelle Anpassungen, kulturelle Angebote.

Auch Gefühle von Einsamkeit könnten in Anbetracht der empirischen Daten in Live-In Arrangements Anlass und leitend für gegenseitige Achtsamkeit sein, da sie bei allen in der Care-Dyade und Triade involvierten Personen eine grundlegende Erfahrung und damit geteiltes Moment zu sein scheint. So fühlen sich die Pflegebedürftigen aufgrund ihres Alters und möglicherweise fehlender sozialer Kontakte allein und in den eigenen vier Wänden in ihrer Freiheit begrenzt (Larsson et al. 2019). Demgegenüber haben die Live-Ins Sehnsucht nach Zuhause (im Sinne der Heimat) und fühlen sich in der sprachlich wie kulturell fremden Umgebung ebenfalls einsam (Baldassar et al. 2017). Die Pflegenden An- und Zugehörigen wiederum erfahren durch die Pflegeverantwortung und die damit verbundenen Einschränkungen ihrer eigenen sozialen Kontakte und ihres reduzierten Aufenthaltsradius Einsamkeit (Hajek et al. 2021). Diese Einsamkeit auf Seiten aller Beteiligten hat einen appellativen Charakter für erhöhte gegenseitige Achtsamkeit. Ursache und Intensität des Einsamkeitsgefühls können unterschiedliche Bedürftigkeit bedeuten bzw. auf unterschiedliche Bedürfnisse hinweisen. In jedem Fall verdeutlicht die unterschiedliche und zugleich geteilte Einsamkeit in paradigmatischer Weise das aufeinander Angewiesensein aller Beteiligten.

Verantwortung

Verantwortung als zentrale ethische Dimension in der zweiten Phase des taking care of bedeutet für Tronto, die Frage zu klären, ob der*die Care-Gebende in der Lage ist, die jeweilige Care-Tätigkeit entsprechend vorhandener Kompetenz auszuüben (care giving) oder ggf. Absprachen zu treffen und zu koordinieren, wer dafür geeignet ist. Mit Blick auf die Mikroebene von Live-In Arrangements sind verschiedene Szenarien denkbar und in der Praxis vorzufinden: An- und Zugehörige und/oder der*die Pflegebedürftige übernimmt mit der Anstellung einer Live-In die Verantwortung für die Artikulation der eigenen Bedürfnisse, u. a. nach Entlastung oder Unterstützung. Zumindest in Vorbereitung auf die Anstellung einer Live-In kommt es zu einem Dialog, wer in der Lage ist, den Bedürfnissen sowohl des*der Pflegebedürftigen wie auch der informell Pflegenden am besten gerecht zu werden. Gegenüber der Live-In rekurrieren An- und Zugehörige oder der*die Pflegebedürftige selbst jedoch vielfach rein auf formelle und/oder juristische Verpflichtungen, die sich aus dem Arbeitsverhältnis ergeben (Rossow 2021, S. 158 ff.). Dies kann von der jeweilig eingenommenen Perspektive abhängen.

Wer in welcher Weise und für welche Fragen aus der Perspektive des*der Arbeitgeber*in Verantwortung gegenüber der Live-In als Arbeitnehmerin übernimmt, scheint in der Praxis sehr unterschiedlich wahrgenommen und bewertet zu werden. So gibt es An- und Zugehörige, die Bedürfnisse bei der Live-In wahrnehmen (Achtsamkeit), aber aufgrund ihrer Erwartungshaltung der Überzeugung sind, dass sie keine Verantwortung dafür übernehmen müssen. Sie betrachten die Live-In als „servant“ (dt. Dienerin), die sämtliche Aufgaben in Betreuung, Pflege und Haushalt alleine übernimmt, ohne dass ihr bspw. Raum für Kontakt mit der eigenen Familie in der Heimat bleibt (Munkejord et al. 2021). Begünstigt wird dies durch die Erwartungshaltung der An- und Zugehörigen an eine „natürliche“ – in geschlechter- und kulturspezifischen Stereotypen bzw. ethnischer Zugehörigkeit begründeten – und besondere Hingabe der Frauen (aus Osteuropa) (Giordano 2021).

Demgegenüber sind die offiziellen Leistungen und damit auch rechtlichen Verantwortlichkeiten des ambulanten Pflegedienstes klar umrissen. Durch den punktuellen Kontakt, die zeitliche Eingebundenheit in den übergeordneten Pflegeplan und klare vertragliche Absprachen, ergeben sich Auftrag und Entlohnung. Dazu gehört nicht die Übernahme von Verantwortung gegenüber den Bedürfnissen und Verantwortungsgrenzen der Live-Ins. Werden Aufgaben erfüllt, die über die vereinbarten Leistungen hinausgehen, ist wahlweise von „heimlichen“ oder „ergänzenden Leistungen“ (Ostermann 2020, S. 68) die Rede. Am ehesten denkbar ist, dass die Mitarbeiter*innen des Pflegedienstes dann auf das Arrangement einwirken, wenn die Bedürfnisse des*der Pflegebedürftigen aus Sicht des Pflegedienstes unterminiert werden.

Live-Ins hingegen können in ihrem Arbeits- und Beschäftigungsverhältnis nicht oder kaum auf Machtressourcen zurückgreifen (Becker 2016). An dieser Situation struktureller Machtlosigkeit und an möglicher Diskriminierung liegt es, dass die Live-In selbst nur in Ausnahmefällen Verantwortung für ihre eigenen Bedürfnisse übernimmt und für sich einsteht.

Kompetenz

Auch die Ausgestaltung der ethischen Dimension der Kompetenz, die eng mit der Phase des caregiving, also der eigentlichen Ausübung von Sorgearbeit verbunden ist, ist stark vom Einzelfall geprägt. Auch wenn die Live-In und An- und Zugehörige Verantwortung für den*die Pflegebedürftige*n übernehmen, kann es dennoch dazu kommen, dass aufgrund fehlender pflegefachlicher Kompetenz dem Pflegebedarf und den Pflegebedürfnissen nicht adäquat begegnet werden kann. Auch ein formaler Referenzrahmen des (professionellen) Austausches (Netzwerke, Fortbildungen), in dem Fachwissen ausgetauscht bzw. auch vermittelt wird, existiert in Deutschland nicht. Diese Fachkompetenz wird von den Beteiligten hingegen vom ambulanten Pflegedienst erwartet oder gar eingefordert, auch wenn die tatsächliche Fachkraftquote, die Einhaltung von Qualitätsstandards und damit verbunden auch das Auftreten von Komplikationen durch Unterversorgung (z. B. Mangelernährung, chronische Schmerzen) und Pflegefehlern (z. B. Entstehung von Dekubitalulcera) stark divergieren können (Raeder et al. 2019; Suhr et al. 2019). Auch auf Seiten der An- und Zugehörigen ist die fachliche Kompetenz für die von ihnen übernommene Funktion als „Quasi-Arbeitgeber“ (Rossow 2021) mangelhaft – arbeitsrechtlich problematische, unregulierte und semi- bis illegale Verhältnisse sind nicht selten. Zugleich überwachen sie in dieser Funktion die Pflegequalität und bringen dafür sehr heterogene Voraussetzungen mit. So mag es zwar An- und Zugehörige geben, die selbst Pflegefachpersonen sind, aber auch pflegende An- und Zugehörige, die ihr Wissen ausschließlich durch „learning by doing“ und ggf. ergänzende Pflegekurse erworben haben, schätzen die fachliche Kompetenz der Live-In regelhaft ein und entscheiden damit nicht nur über ihre Weiterbeschäftigung, sondern auch das Wohlergehen und/oder den (potenziellen) Schaden des*der Pflegebedürftigen. Hinzu kommt mit Blick auf die Bedürfnisse der ausländischen Live-In die Notwendigkeit interkultureller Kompetenz.

Stehen zur Versorgung (pflege-)fachliche Ressourcen nicht zur Verfügung, oder besteht eine eigene Unzulänglichkeit auf Seiten des*der (potenziellen) Care-Gebenden, so ist im Sinne Trontos dafür zu sorgen, dass eine andere fachkundige Person die Versorgung bzw. Pflege übernimmt. So sind Live-Ins zwar bereit, Handlungen zu vollziehen, die außerhalb ihrer Fachkompetenz liegen, eine ethisch basierte Care-Praxis können sie damit jedoch nicht verwirklichen. Grenzen zeigen sich in Live-In Arrangements bei der Beurteilung von Kompetenz im weiteren Sinne. Live-Ins leisten enorme Emotionsarbeit, das Unterdrücken und gezielte Herbeiführen von Emotionen ist Teil ihrer beruflichen Alltagspraxis (Ho et al. 2019) und verweist auf eine hohe Sozial- und Personalkompetenz. Die einseitige Überbetonung von Beziehungsarbeit, Sympathie und Mitgefühl ist jedoch problematisch, da starke emotionale Verbundenheit mit höheren (moralischen) Ansprüchen der Live-In an sich selbst einhergehen kann (s. auch Ausführungen zu Resonanz). In Ermangelung einer formalen Rolle verfügen die An- und Zugehörigen der Pflegebedürftigen – sowie auch Live-Ins ohne pflegerische Ausbildung – nicht über einen professionsethischen Ethikkodex oder andere klare Regeln, die ihr Handeln leiten könnten; vielmehr sind ihre Entscheidungen – auch bestimmte (Unterstützungs‑)Angebote für die Live-In zu unterbreiten – in kulturellen, familiären und persönlichen Werten begründet (Arieli und Yassour-Borochowitz 2023).

Resonanz

Resonanz im Sinne des Antwortverhaltens auf die Sorge, die erfahren wird/wurde hat für Tronto eine ethische Dimension, weil Care eine Praxis ist, die immer Fragen nach einer möglichen Verletzlichkeit der beteiligten Personen beinhaltet: „The moral precept of responsiveness requires that we remain alert to the possibilities for abuse that arise with vulnerability“ (Tronto 1993, S. 135). Bezüglich dieser letzten Dimension, der Resonanz, welche mit der Phase des care receiving korrespondiert, enthalten bisherige empirische Arbeiten wenige bis keine Anhaltspunkte. Entsprechend werden im Folgenden verschiedene Szenarien gedanklich hypothetisch beleuchtet. Auch wird deutlich, dass sich in der Dimension der Resonanz ein Rückbezug zu den Dimensionen der Verantwortung und Kompetenz vollzieht, indem Verantwortlichkeiten entsprechend der Effekte und Reaktion auf die Sorge immer wieder neu ausgehandelt und zugeschrieben werden.

Durch den steten Abgleich der Erwartungshaltung mit der tatsächlich erbrachten Leistung äußert sich die Antwort des*der Pflegebedürftigen und seiner/ihrer An- und Zugehörigen wesentlich in Rückmeldungen in Form von Lob oder Kritik. Diese zeigt, ob den Ansprüchen genüge getan und die Erwartung erfüllt wird. Lob und Kritik können dabei explizit, aber auch implizit zum Ausdruck gebracht werden. Denkbar ist beispielsweise Lob in Form einer Vertragsverlängerung, die bei auf Pendel-Migration aufbauenden Pflege-Arrangements regelmäßig ansteht. Auch die Annahme der von der Live-In erbrachten Care als Selbstverständlichkeit (ggf. mit Ausweitung ihrer Tätigkeiten) ist eine mögliche Antwort. Dies kann sich auch auf Seiten des Pflegedienstes zeigen, der die Live-In als zweite Pflegefachperson mit Möglichkeit der Delegation pflegerischer Aufgaben (einvernehmlich oder nicht) zur eigenen Entlastung behandelt. Dies kann in der Folge nicht nur zu Kompetenzfragen und Verantwortungsdiffusion, sondern auch zu der Betrachtung der Live-In als kostengünstige Alternative zum Pflegedienst führen.

Die Antwort der Live-In auf die von ihr ausgeübte Sorge kann in einer Stärkung ihres (Selbst‑)Vertrauens, Verstärkung ihrer Bemühungen, um (weiterhin) zu gefallen, und einem Gefühl des Gebrauchtwerdens (in positivem wie negativem Sinn) bestehen. Die Resonanz verändert damit (un‑)mittelbar auch die Aufmerksamkeit aller Beteiligten für eigene wie fremde Bedürfnisse.

Es ist davon auszugehen, dass alle Beteiligten zudem im Verlauf mit stärkerer emotionaler Verbundenheit auf die Sorge reagieren. Der ambulante Pflegedienst ist davon je nach Pflegekonzept und Personalplanung sowie bspw. bei hoher Fluktuation ausgenommen. Emotionale Verbundenheit kann sich in Dankbarkeit und/oder dem Aufbau einer freundschaftlichen oder familien-ähnlichen Beziehung zeigen. Ebenso denkbar ist jedoch auch eine Intensivierung ablehnender Gefühle oder emotionalen Drucks. Die Resonanz geht also weit über die „Care-Work Beziehung“ zwischen Arbeitgeber*in und Arbeitnehmer*in hinaus. Näre (2011), zeigt dass die sich darin abspielende Care-Arbeit neben einer vertraglichen Beziehung, auf der sie beruht, auch mit einem „moralischen Vertrag“ („moral contract“Footnote 8) einhergeht, d. h. auf Vorstellungen von gut/schlecht und gerecht/ungerecht basiert. Die konkrete Bewertung der Erfahrung dieser komplexen moralischen Beziehung kann von den Beteiligten unterschiedlich bewertet werden.

Mit der Resonanz auf die Sorge, die (nicht) erfahren wird, wird auch die Vulnerabilität aller Beteiligten offenkundig und ergeben sich weitere Einfallstore für Ausbeutung, Missbrauch und Diskriminierung. Da sich die Arbeitgeber*in-Arbeitnehmer*in-Beziehung in Live-In Arrangements zumeist jeglichen formalen Kontrollmechanismen entzieht und Live-Ins zumeist nicht miteinander und/oder anderen Personen an ihrem Einsatzort vernetzt und organisiert sind, antworten Live-Ins auf solche Missachtung im Sinne fehlender Achtsamkeit jedoch häufig nicht mit Rückzug. Vielmehr nehmen sie die Verletzung von Arbeitsrechten, bspw. die Einhaltung der Arbeits- und Pausenzeiten betreffend (z. B. kein Urlaub, kein Freizeitausgleich) meist ebenso hin (Green und Ayalon 2018) wie sexuelle, emotionale und andere Missbrauchserfahrungen (University of Nottingham Rights Lab 2022). Die betroffenen Live-Ins suchen selten informelle Hilfe (Freunde, Familie); formelle Unterstützung (z. B. Anzeige bei der Polizei) wird nicht in Anspruch genommen (Green und Ayalon 2016). Ob Live-In Arrangements hingegen auf Seiten der pflegebedürftigen Menschen das Risiko von Missbrauch und Vernachlässigung erhöhen oder verringern, kann bisher nicht eindeutig beantwortet werden (Horn und Schweppe 2021).

Diskussion

Die systematische Betrachtung eines Teilaspekts von Live-In Arrangements mit Fokus auf die Beziehungen „hinter der Türschwelle“ verdeutlicht deren Komplexität in mehrfacher Hinsicht: Die einzelnen Akteur*innen sind nicht nur wechselseitig aufeinander angewiesen, vielmehr bedingen sich ihre Aktionen und Reaktionen gegenseitig und auf multiplen Ebenen – fachlich/kognitiv, emotional und sozial. Die Berücksichtigung der konkreten Situiertheit und relationalen Ontologie; resp. der Care-Ethik als „theoertical lense commited to perceiving and analyzing embodied experience – that of carers and the cared-for – in distinctive, meassy, real-life settings“ (Eckenwiler 2022, S. 88) schärft den Blick auf drei Beziehungselemente: Abhängigkeit, Macht und Vertrauen. Zugleich trägt die Care-Ethik dem sozialen Umstand Rechnung, dass wir aufeinander angewiesene, interdependente Wesen sind, die sowohl als nehmend Beteiligte (care-receiver) und gebend Beteiligte (care-giver) in Beziehung stehen. Wir haben daher einen ersten Versuch unternommen, aus Care-ethischer Perspektive über ausgewählte Beziehungen auf der Mikroebene in Live-In Arrangements nachzudenken und diese aus ethischer Perspektive zu reflektieren. Trotz oder gerade aufgrund der durch verschiedene Ursachen ausgelösten Abhängigkeit entsteht zwischen den Beteiligten eine emotionale Verbundenheit – sei sie gut oder schlecht. Das inhärente asymmetrische Machtverhältnis zwischen Arbeitgeber*in und Arbeitnehmer*in bleibt bestehen, während die Arbeitnehmerin in der intimen Sphäre der Privatwohnung des Arbeitgebenden ständig widersprüchliche Gefühle und Positionen aushandelt (Lin und Bélanger 2012). Neben objektiv nachvollziehbaren Gründen wie Verbleib in der Häuslichkeit für die*den Pflegebedürftigen, Entlastung der An- und Zugehörigen, Einkommenssicherung für die Live-In und ihre Familie mag es gerade auch die Überhöhung des moralischen Werts der unidirektionalen Fürsorge für den pflegebedürftigen Menschen sein, die die Gefahr von Machtmissbrauch erhöht und fachlich kompetentes Handeln nachrangig werden lässt.

Der Beitrag hat jedoch auch aufgezeigt, dass unterschiedliche Care-ethische Dimensionen (insbes. Verantwortung, Kompetenz) von Asymmetrien geprägt sind. Diese sind allerdings nicht statisch, sondern von der konkreten Situation, den (gemeinsamen) Vorerfahrungen der Beteiligten und äußeren Rahmenbedingungen beeinflusst. So kann in Live-In Arrangements nicht davon ausgegangen werden, dass ein*e Beteiligte*r durchgängig Machtinhaber*in ist (bspw. arbeitgebende An- und Zugehörige), sondern dass sich bspw. die Live-In in gewissen Situationen ermächtigt, resp. Macht ausübt (bspw. über die An- und Zugehörigen und/oder den*die Pflegebedürftige*n). Dies befördert unter anderem, dass die Rollen der Beteiligten unklar sind. Ob und auf welche Weise Rollenzuschreibungen erfolgen und Rollenverständnisse ausgehandelt werden, bleibt bislang im Dunkeln. Es gilt also, auf der Ebene des einzelnen Pflege-Arrangements, aber auch im gesellschaftlichen Diskurs, Verantwortlichkeiten aus den unterschiedlichen Positionen und Rollen heraus und mit Blick auf die changierenden Prozesse des miteinander Sorgens zu verstehen.

Aus einer care-ethischen Perspektive geht es dabei um ein relationales Verständnis von Verantwortung, in dem sich Verantwortlichkeiten durch ein Wechselspiel interdependenter Menschen in einem fortlaufenden Dialog entwickeln (Tronto 1993; Visse 2016). Anders als bei juristischen Fragen dazu, wer im Care-Arrangement zwischen Pflegebedürftigem*r, im Haushalt mitlebenden An- und Zugehörigen, Live-In und Pflegenden des ambulanten Dienstes wofür in welchem Ausmaß Verantwortung übernimmt, betont die Care-Ethik die (moralische) Antwort des*der Einzelnen auf die Frage danach, wer im Alltag des Live-In Arrangements für wen was warum tun sollte, ohne dass die Bedürfnisse einzelner oder aller Beteiligten missachtet werden. Aus ethischer Perspektive resultiert daraus die Erkenntnis, dass die Phasen und Dimensionen untrennbar sind und sich diese einer verallgemeinerbaren Bewertung entziehen. So wird bspw. die Wahrnehmung von Bedürfnissen erst durch Fragen der Verantwortung für diese ethisch. Im Fall von miteinander unvereinbaren Antworten, Resonanzlücken, fehlender oder fehlgeleiteter Achtsamkeit, Verantwortungsdiffusion oder -akkumulation sind entsprechend Klärungsprozesse notwendig. Dabei geht es darum, an der Situation des*der Anderen verbal, para- und non-verbal Anteil zu nehmen und sich die Interrelationalität (Conradi 2001), das gegenseitige aufeinander Angewiesensein (wieder) zu vergegenwärtigen. Solche Klärungsprozesse entlang der Dimensionen Achtsamkeit, Verantwortung und Kompetenz können Schaden vermeiden und Verletzlichkeiten in den asymmetrischen Machtbeziehungen abfedern.

Im Hinblick auf das dritte Beziehungselement, Vertrauen, zeigt sich durch die Care-ethische Reflexion ein Defizit an empirisch verfügbaren Daten. Damit erlaubt der aktuelle Stand der Forschung keine Aussage über Art, Tiefe und Bedeutung von Vertrauen in Live-In Arrangements in Deutschland.

Limitationen

Aus Gründen der Handhabbarkeit, wurde in dem vorliegenden Beitrag lediglich Deutschland als das „Empfängerland“ der Live-Ins betrachtet, sodass entsprechend nur dort zu verortende Akteur*innen und noch eingegrenzter nur solche, die auf der Mikroebene „hinter der Türschwelle“ agieren, berücksichtigt werden konnten. Dies wohl wissend, dass das Care-Network in der Realität der Beteiligten über die Ländergrenzen hinausgeht und in beide Richtungen wirkt. Live-Ins sind Bindeglied nicht nur zwischen verschiedenen Personen und zwischen Akteur*innen verschiedener Sektoren, sondern auch über Ländergrenzen hinweg agieren sie ebenfalls in entscheidenden Beziehungen. Es handelt sich um eine analytisch erforderliche und hilfreiche Trennung, um Komplexität zu reduzieren, woraus sich jedoch Einschränkungen für die Übertragbarkeit auf die reale Gestaltung dieser Arrangements ergeben. Eine weitere Limitation ergibt sich aus der Notwendigkeit, fast ausschließlich auf internationale Daten als Diskussionsgrundlage zurückgreifen zu müssen, da für Deutschland nur sehr wenige aktuelle empirische Studien vorliegen. Diese sind selbstverständlich vor dem Hintergrund divergierender rechtlicher Rahmenbedingungen und soziokultureller Zusammenhänge nicht uneingeschränkt auf die Situation in Deutschland übertragbar.

Mit Blick auf diesen Ausschnitt auf der Mikroebene mag es zwar Live-In Arrangements geben, die dort die Bedingungen gelingender, guter Care-Beziehungen erfüllen, dies darf jedoch nicht über die Missstände der Verantwortungsklärung und -übernahme auf der Makroebene – sowohl national als auch transnational – hinwegtäuschen.

In der Realität der Betroffenen gehen darüber hinaus auch alle Phasen des Care-Prozesses und ihre ethischen Dimensionen fließend ineinander über und wirken gegenseitig so eng aufeinander, dass eine voneinander losgelöste Betrachtung in der Praxis unmöglich ist. Zudem kann es sich bei den Beschreibungen der ethischen Dimensionen jeweils nur um eine Annäherung handeln.

Conclusio & Ausblick

Live-Ins sind eine tragende Säule der häuslichen Versorgung in Deutschland geworden, ohne dass die wichtigsten politischen, rechtlichen und ethischen Fragen geklärt wären. Zugleich wird die Entwicklung des „grauen Pflegemarktes“ augenscheinlich von der sozialen- und Rechtsordnung nicht nur gebilligt, sondern als selbstverständliche Normalität anerkannt, sodass Live-In Arrangements uns vor eine Normativität des Faktischen stellen. Auch wenn nicht alle Tätigkeiten, die die Live-In ausführt, direkt der Gesundheitsversorgung zuzurechnen sind, so ist die Betreuung pflegebedürftiger Menschen durch Live-Ins dennoch von hoher Relevanz für das Gesundheitswesen in Deutschland: Live-Ins kompensieren teils den Mangel an Fachkräften in der ambulanten Pflege und leisten ggf. der Deprofessionalisierung des Pflegeberufs Vorschub. Zudem haben Live-Ins, je nach Pflege-Arrangement, Angehörigen-ähnlichen Status. Um fundierte Aussagen zu diesen Entwicklungen treffen zu können, bedarf es jedoch mehr empirischer Forschung zu Live-In Arrangements in Deutschland. Neben Erhebungen, die die Erwartungen und Erfahrungen der pflegebedürftigen Menschen selbst in den Mittelpunkt stellen, fehlen Studien zu Selbst- und Fremdwahrnehmung der Live-In in der Ausübung pflegerischer Tätigkeiten (bspw. durch Befragung von Tandems aus Live-In und ambulanter Pflege).

Die vorliegende Analyse verdeutlicht, dass moralische Motive auf Seiten aller involvierten Personen wesentlich für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Beziehungen in den Live-In Arrangements sind. Live-Ins wollen (finanziell-soziale) Sicherheit für ihre Familie; sind von „Überlebens- und Selbstverwirklichungsdilemmata“ getrieben (Bruquetas-Callejo 2020). An- und Zugehörige wollen (weiterhin) Pflege entsprechend der Präferenzen des*der Pflegebedürftigen zuhause ermöglichen und sehen angesichts ihrer eigenen Be- bzw. Überlastung, begrenzter finanzieller Mittel und Versorgungsbrüche Live-In-Pflege als alternativlos, um eine stationäre Pflege zu vermeiden (Schreyer 2020). Mitarbeitende ambulanter Pflegedienste können unter den Gegebenheiten der aktuellen Versorgungsstrukturen kaum persönliche Bedürfnisse berücksichtigen und Pflegebedarfe decken; „Diskrepanzerfahrungen“ (Lauxen et al. 2018, S. 91) sind alltäglich (vgl. dazu auch Treviranus et al. 2021; Wöhlke und Riedel 2023). Eine kooperative, vertrauensvolle Beziehung zu der Live-In bietet für sie eine Chance der moralischen Entlastung. Hier zeigt sich eine entscheidende Schnittstelle zu der Frage, warum sich die Ethik im Gesundheitswesen zukünftig noch intensiver (auch empirisch-informiert) den Live-In Arrangements widmen muss. Auch ist die Auseinandersetzung mit Betreuung und Pflege durch migrantische Live-Ins nicht nur deshalb wesentlich für Ethik im Gesundheitswesen, weil sie normativ auf der Mikroebene die Frage nach guter Versorgung pflegebedürftiger Menschen zuhause tangiert, sondern auch, weil sie auf der Makroebene untrennbar mit Fragen der Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit eines familiaristisch konzipierten Systems von Langzeitpflege in Deutschland verbunden ist.

Denn das Leisten von Unterstützung und Care geht weit über den in diesem Beitrag behandelten Ausschnitt aus der Mikroebene von Live-In-Arrangements hinaus und ist eine zutiefst politische Angelegenheit, die eng mit dem Wesen des Menschen als relationalem und verletzlichem Subjekt verbunden ist (Hamington 2015; Hankivsky 2004). Care-Tätigkeiten beschränken sich nicht darauf, anderen Menschen und ihren Bedürfnissen Achtsamkeit zukommen zu lassen und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Die Sorge für- und miteinander bildet die Grundstruktur unseres sozio-politischen Lebens. Sie spielt eine entscheidende Rolle dafür, inwiefern Verantwortlichkeiten – auch in Live-In Arrangements – zugeschrieben werden. Hier zeigt sich der Mehrwert einer Care-ethischen Perspektive, die zukünftig noch stärker in die umfassende ethische Analyse auf allen Ebenen einbezogen werden sollte.