Einleitung

Die am 11. März 2020 von der WHO offiziell als Pandemie eingestufte Welle von COVID-19-Infektionen hat die Gesundheitssysteme weltweit vor enorme Herausforderungen gestellt. Auch Länder mit vergleichsweise hohen Versorgungsstandards, wie z. B. Italien, waren zeitweise nicht mehr in der Lage, alle Infizierten, die sich in einem kritischen Zustand befanden, intensivmedizinisch zu behandeln (Linter 2020). In Deutschland konnte ein Überschreiten der Aufnahmekapazität der Intensivstationen durch die Verschiebung von Operationen und die Verlegung von Patient:innen vermieden werden.Footnote 1 Angesichts der sehr realen Gefahr, in eine Situation der Unterversorgung zu geraten, war es aber dringend geboten, sich mit der Notwendigkeit einer Priorisierung intensivpflichtiger Patient:innen zu befassen. Da der Gesetzgeber versäumt hatte, Regeln für die Zuteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen vorzugeben, fehlte den betroffenen Ärzt:innen eine klare Handlungsorientierung. Um ihnen eine Entscheidungshilfe an die Hand zu geben, haben verschiedene ärztliche Organisationen klinisch-ethische Empfehlungen erarbeitet. Besondere Bedeutung haben die Vorschläge der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) erlangt, die in dritter revidierter Fassung am 14. Dezember 2021 als S1-Leitlinie publiziert wurden.

Die klinisch-ethischen Empfehlungen der DIVI treffen zwei zentrale Aussagen. Zum einen sehen sie vor, sich im Fall von Versorgungsengpässen nach dem Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit zu richten und diejenigen Patient:innen zu bevorzugen, deren Therapie die größte Aussicht verspricht, die aktuelle Gesundheitskrise zu überstehen.Footnote 2 Zum anderen beinhalten sie die Forderung, aus Fairnessgründen alle kritisch erkrankten Personen – also auch solche, die sich bereits in Intensivtherapie befinden – in Auswahlentscheidungen einzubeziehen (Ex-post-Triage). Gegen die empfohlene Orientierung an der auf die aktuelle Erkrankung bezogenen klinischen Erfolgsaussicht wird der Vorwurf erhoben, sie könne sich diskriminierend auf Menschen mit Behinderung und andere Gruppen, wie z. B. hochbetagte Personen, auswirken. Aus Sorge, bei der Zuteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen benachteiligt zu werden, haben mehrere potenziell betroffene Personen eine Verfassungsbeschwerde eingelegt.

In seiner Entscheidung vom 16. Dezember 2021 hat das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber dazu verpflichtet, hinreichende Vorkehrungen zu treffen, um Menschen mit Behinderung wirksam vor einer Diskriminierung zu schützen. Dabei stehe ihm aber ein weiter Gestaltungsspielraum zu, den er auch durch das – verfassungsrechtlich als unbedenklich einzustufende – Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit ausfüllen könne (1 BvR 1541/20). Mit der am 14. Dezember 2022 in Kraft getretenen Änderung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) hat der Deutsche Bundestag inzwischen auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes reagiert. Der neu aufgenommene § 5c IfSG schreibt nun für die Zuteilung knapper intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten das Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit verbindlich vor. Hingegen wird die Zulässigkeit der Ex-post-Triage, die die Beendigung einer bereits begonnenen, nicht als aussichtlos zu wertenden intensivmedizinischen Behandlung erfordern kann, explizit verneint.Footnote 3

Die vorliegende Untersuchung geht der Frage nach, ob die getroffenen Regelungen ausreichen, um die Gefahr einer Diskriminierung von Menschen mit Behinderung hinreichend zu begrenzen. Dazu gilt es zunächst den Entscheidungsprozess, der im Infektionsschutzgesetz und den klinisch-ethischen Empfehlungen der DIVI dargelegt ist, sorgfältig nachzuzeichnen. Anschließend wird das Konzept der Diskriminierung – insbesondere die Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Formen der Benachteiligung – näher betrachtet. Relevant erscheinen zwei Diskriminierungsrisiken, die sich zum einen aus dem Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit als solchem und zum anderen aus der Art seiner Operationalisierung ergeben. Mit Bezug auf den ersten Aspekt ist weiter zu diskutieren, ob die Rechtsfertigungsmöglichkeiten für indirekte Benachteiligungen, die etwa im Arbeitsrecht bestehen, auch für die Zuteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen einschlägig sind. Im Ergebnis wird die Auffassung vertreten, dass die faktische Schlechterstellung von einigen Menschen mit Behinderung nicht als indirekte Diskriminierung zu werten ist.

Die rechtliche Regelung der Priorisierung

Vor einer möglichen Priorisierung von Patient:innen bei der Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen müssen angemessene Anstrengungen zur Vermeidung der Knappheit unternommen werden. Die Begründung für den Gesetzentwurf zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes wie auch die Leitlinie der DIVI heben zwei Maßnahmen hervor, die ergriffen werden sollen, wenn sich Versorgungsengpässe auf Grund steigender Infektionszahlen abzeichnen. Zum einen stehen die Krankenhäuser in der Verantwortung, ihren Regelbetrieb an die besondere Situation anzupassen und Operationen zu verschieben, die keine hohe Dringlichkeit haben. Zum anderen sollen alle intensivmedizinischen Ressourcen, die in anderen Kliniken zur Verfügung stehen, durch regionale und überregionale Verlegungen von Patient:innen genutzt werden (DIVI 2021, S. 4; BT-Drucks. 20/3877, S. 19).

Wenn trotz der genannten Vorkehrungen eine Situation der Knappheit entsteht, in der nicht alle Patient:innen ihrem Bedarf gemäß behandelt werden können, soll sich ihre Priorisierung an der Erfolgsaussicht der Therapie orientieren (BT-Drucks. 20/3877, S. 21). Zur Bestimmung der Erfolgsaussicht soll das Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit angewandt werden, das sich ausschließlich auf die Gefahr bezieht, auf Grund der aktuellen Erkrankung zu versterben. In § 5c Abs. 2 IfSG heißt es: „Eine Zuteilungsentscheidung darf nur aufgrund der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit der betroffenen Patientinnen und Patienten getroffen werden. Komorbiditäten dürfen bei der Beurteilung der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit nur berücksichtigt werden, soweit sie aufgrund ihrer Schwere oder Kombination die auf die aktuelle Krankheit bezogene kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit erheblich verringern.“

Die nach einer erfolgreichen intensivmedizinischen Therapie noch zu prognostizierende Lebensdauer darf bei der Priorisierungsentscheidung keine Rolle spielen. Tendenziell beeinflussen zwar die Faktoren, die eine relativ geringe Lebensdauer erwarten lassen, die Einschätzung der Überlebenswahrscheinlichkeit negativ. Beispielsweise werden sich Patient:innen, denen auf Grund einer unheilbaren Krebserkrankung oder ihres fortgeschrittenen Alters nur noch wenig Lebenszeit verbleibt, häufig in einem schlechten Allgemeinzustand befinden, der auch die Erfolgsaussicht der Intensivtherapie senkt. Ein notwendiger Zusammenhang zwischen aktueller Überlebenswahrscheinlichkeit und langfristiger Überlebensdauer besteht aber nicht. Grundsätzlich kann die Anwendung des Kriteriums der Überlebenswahrscheinlichkeit auch zu einer Priorisierung von Personen führen, die eine niedrigere Lebenserwartung als konkurrierende Patient:innen haben.

Neben der Dauer des Überlebens soll die Priorisierungsentscheidung auch die Qualität der verbleibenden Lebensspanne außer Acht lassen. Zwar dürfte auch zwischen der Erfolgsaussicht einer intensivmedizinischen Therapie und der zukünftig erreichbaren Lebensqualität ein statistischer Zusammenhang bestehen. So werden Patient:innen, die auf Grund bereits vorhandener gesundheitlicher Beeinträchtigungen eine relativ geringe Lebensqualität zu erwarten haben, häufig eine eher geringe Überlebenswahrscheinlichkeit besitzen. Im Ausnahmefall können die Bestimmungen des Infektionsschutzgesetzes aber auch Zuteilungsentscheidungen zugunsten von Personen mit einer vergleichsweisen niedrigen Lebensqualität fordern. Beachtung verdient jedoch, dass der Aspekt der Lebensqualität in die Indikationenstellung für eine intensivmedizinische Behandlung einfließen kann. Zumindest in den klinisch-ethischen Empfehlungen der DIVI werden Patient:innen, deren „Überleben an den dauerhaften Aufenthalt auf der akutmedizinischen Intensivstation gebunden wäre“, von der Therapie ausgeschlossen (DIVI 2021, S. 3). Ihnen wird von Anfang an – mutmaßlich auf Grund ihrer extrem reduzierten Lebensqualität – die intensivtherapeutische Indikation abgesprochen.Footnote 4

Zu der Frage, warum sich Priorisierungsentscheidungen an der klinischen Erfolgsaussicht – und nicht z. B. an einem Zufallsverfahren, das allen Betroffenen gleiche Chancen auf eine intensivmedizinische Behandlung einräumt – orientieren soll, finden sich in den einschlägigen Dokumenten nur wenige Hinweise. Die Begründung für den Gesetzentwurf zur Änderung des IfSG beruft sich lediglich auf die Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts, es handele sich „bei der klinischen Erfolgsaussicht im Sinne des kurzfristigen Überlebens der aktuellen Erkrankung um ein verfassungsrechtlich zulässiges Zuteilungskriterium“ (BT-Drucks. 20/3877, S. 21). Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bietet zur Erläuterung nur die knappe Feststellung, das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht „stell(e) nicht auf eine Bewertung menschlichen Lebens ab“ (1 BvR 1540/20, Rn 116). Die klinisch-ethischen Empfehlungen der DIVI machen vor allem die Wichtigkeit einer effizienten Verwendung lebensrettender intensivmedizinischer Ressourcen geltend. Die Anwendung des Kriteriums der Überlebenswahrscheinlichkeit solle „möglichst wenigen Patienten eine aussichtsreiche und erfolgversprechende Behandlungschance vorenthalten“ bzw. „die Anzahl vermeidbarer Todesfälle durch die Ressourcenknappheit minimieren“ (DIVI 2021, S. 5).Footnote 5 Die Bewertung der Effizienz beschränkt sich aber, wie bereits erwähnt, auf das kurzfristige Überleben der aktuellen Erkrankung und blendet sowohl Dauer wie auch Qualität der im Erfolgsfall verbleibenden Lebensspanne aus. Insofern liegt den klinisch-ethischen Empfehlungen der DIVI zwar eine konsequentialistische, nicht jedoch eine in engerem Sinne utilitaristische Betrachtungsweise zugrunde.

Laut § 5c Abs. 1 IfSG darf niemand bei der Zuteilung nicht ausreichend vorhandener intensivmedizinischer Ressourcen benachteiligt werden. Besonders hervorgehoben ist die Unzulässigkeit einer Schlechterstellung „wegen einer Behinderung, des Grades der Gebrechlichkeit, des Alters, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung.“ Die Begründung zum Gesetzentwurf stellt ferner klar, dass auch die Entscheidung einer Patient:in gegen die Verabreichung einer Schutzimpfung und damit die freiwillige Inkaufnahme eines höheren Risikos keine Benachteiligung rechtfertigt (BT-Drucks. 20/3877, S. 21). Gemäß der klinisch-ethischen Empfehlungen der DIVI (2021, S. 5) darf sich die Auswahl der Patient:innen, die knappheitsbedingt keine intensivmedizinische Therapie erhalten, auch nicht auf die Gruppe der COVID 19-Erkrankten beschränken.

Wie bereits dargelegt, ist zwar ein statistischer Zusammenhang zwischen der kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit und Faktoren, wie z. B. bestimmten Behinderungen, Grunderkrankungen oder dem Alter, anzunehmen. Das Vorliegen körperlicher Beeinträchtigungen darf aber nicht pauschal zu einer nachrangigen Berücksichtigung der betroffenen Patient:innen bei Priorisierungsentscheidungen führen. Die Überlebenswahrscheinlichkeit ist in jedem Einzelfall unvoreingenommen zu prüfen. Dabei dürfen vorhandene Behinderungen oder Komorbiditäten nur insoweit berücksichtigt werden, wie sie die Prognose, die aktuelle Infektionserkrankung zu überleben, negativ beeinflussen.

Der neu beschlossene § 5c IfSG enthält verschiedene Verfahrensregelungen, die die Einhaltung der Bestimmungen gewährleisten und insbesondere Diskriminierungen ausschließen sollen. Laut § 5c Abs. 3 IfSG muss jede Zuteilungsentscheidung einvernehmlich von zwei Fachärzt:innen getroffen werden, die über mehrjährige Berufserfahrung in der Intensivmedizin verfügen (Vier-Augen-Prinzip). Zur Beurteilung der kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit von Patient:innen, die eine Behinderung oder Komorbidität aufweisen, muss eine Person mit Fachexpertise für die betreffende Beeinträchtigung konsultiert werden. Die in § 5c Abs. 4 IfSG verankerte Dokumentationspflicht verlangt, alle Umstände darzulegen, die in eine Zuteilungsentscheidung eingeflossen sind. Genannt werden müssen auch alle an der Beschlussfassung mitwirkenden Personen mitsamt ihrem Votum oder ihrer beratenden Stellungnahme. Schließlich stehen gemäß § 5c Abs. 5 IfSG alle Krankenhäuser, die intensivmedizinische Behandlungskapazitäten vorhalten, in der Pflicht, eine Verfahrensanweisung für das intensivmedizinische Personal zu erarbeiten, die einmal im Jahr auf Änderungsbedarf überprüft und gegebenenfalls angepasst werden muss.

Direkte und indirekte Diskriminierung

Die Novellierung des IfSG sieht sich dem Einwand ausgesetzt, verschiedene Gruppen – darunter auch Menschen mit Behinderung – bei der Vergabe knapper intensivmedizinischer Ressourcen zu benachteiligen. Aus Sicht der Kritiker:innen bietet das Bekenntnis zur Gleichbehandlung und das explizite Verbot, eine Priorisierungsentscheidung aufgrund bestimmter Grunderkrankungen oder Behinderungen zu treffen, keinen ausreichenden Schutz vor Diskriminierung.Footnote 6 Um prüfen zu können, ob (und ggf. inwieweit) die Bedenken berechtigt sind, bedarf es einer vorgängigen Klärung des vielschichtigen Konzepts der Diskriminierung. Im Folgenden sollen daher zunächst Kriterien erarbeitet werden, die es erlauben, unterschiedliche Arten der Diskriminierung zu identifizieren und gegen gerechtfertigte Formen der Ungleichbehandlung abzugrenzen. Darauf aufbauend können dann in den folgenden Abschnitten mögliche Diskriminierungsrisiken in der aktuellen rechtlichen Regelung konkret benannt und erörtert werden.

Für die Auseinandersetzung mit dem Einwand der Behindertendiskriminierung ist insbesondere die Unterscheidung zwischen direkter und indirekter Diskriminierung hilfreich, die in der aktuellen philosophischen und rechtswissenschaftlichen Diskussion eine zentrale Rolle spielt. Eine direkte Diskriminierung liegt vor, wenn sich die Entscheidung oder Maßnahme, die die Angehörigen einer bestimmten Gruppe schlechter stellt, unmittelbar auf ihre Gruppenzugehörigkeit bezieht. Beispielsweise stellt die Politik eines Unternehmens, nur weiße Männer auf Führungspositionen einzustellen, eine direkte Diskriminierung von Frauen und nichtweißen Männern dar. Das Geschlecht und die Hautfarbe fungieren hier als motivierende Gründe, warum einige Bewerber:innen bei der Vergabe lukrativer Stellen von vornherein außer Acht gelassen werden. In dem hier skizzierten paradigmatischen Fall einer direkten Diskriminierung erfolgt die Benachteiligung intentional und geht mit einer abwertenden Haltung gegenüber den Angehörigen der betreffenden Gruppen einher. Die Unternehmensleitung beabsichtigt, die Besetzung von gehobenen Positionen mit Frauen oder nichtweißen Männern zu verhindern, weil sie ihnen die erforderlichen Fähigkeiten generalisierend abspricht.

Die geschilderte Form der direkten Diskriminierung hat in modernen, rechtsstaatlich verfassten Gesellschaften stark an Bedeutung verloren. Eine derartige Schlechterstellung bestimmter Gruppen wird weithin als illegitim empfunden und durch geeignete gesetzliche Regelungen bekämpft. Grundsätzlich kann eine Maßnahme oder Praxis aber auch dann eine direkte Diskriminierung verkörpern, wenn niemand eine diskriminierende Absicht verfolgt. So kann die Personalleitung eines Unternehmens, obwohl sie sich die Gleichbehandlung aller Bewerber:innen zum Ziel setzt, mit impliziten Vorurteilen behaftet sein. Auf Grund ihrer bisherigen Berufserfahrung haben die Entscheidungsträger:innen möglicherweise Schwierigkeiten, sich Frauen oder nichtweiße Männer konkret in einer Führungsposition vorzustellen. Sie nehmen dann – ohne sich ihrer voreingenommenen Sichtweise bewusst zu sein – die Qualifikationen der betreffenden Bewerber:innen negativer wahr als die ihrer männlichen weißen Konkurrenten (Klonschinski 2020, S. 139–142). Eine Schlechterstellung, die auf impliziten Vorurteilen basiert, stellt eine direkte Diskriminierung dar, weil sie unmittelbar an das Merkmal Geschlecht bzw. Hautfarbe anknüpft. Ausschlaggebend für die Entscheidungsfindung ist weiterhin – wenn auch unbewusst – die Zugehörigkeit zu einer benachteiligten Gruppe.

Ferner setzt eine direkte Diskriminierung nicht notwendig das Vorhandensein einer herabsetzenden Haltung gegenüber den betroffenen Personen voraus. Wenn z. B. eine Firma auf die Stelle einer Pilot:in eine sehr hohe Zahl von Bewerbungen erhält, mag es erforderlich sein, eine strikte Vorauswahl zu treffen. In Anbetracht der besonderen körperlichen Anforderungen, die die Aufgabe mit sich bringt, kann sich die Personalleitung entschließen, alle Bewerbungen von Personen über 50 Jahre nicht weiter zu verfolgen. Die Entscheidungsträger:innen müssen deswegen aber nicht zwangsläufig die Auffassung vertreten, ältere Menschen seien grundsätzlich „unbrauchbar“. Sie orientieren sich lediglich an einem statistischen Zusammenhang zwischen körperlicher Fitness und Alter, um den Auswahlprozess effizienter zu gestalten.Footnote 7 Da sie nur über begrenzte zeitliche Ressourcen verfügen und nicht alle Bewerbungen einer gründlichen Begutachtung unterziehen können, berücksichtigen sie Indikatoren, die über die Wahrscheinlichkeit bzw. Unwahrscheinlichkeit des Vorliegens wichtiger Qualifikationsmerkmale Auskunft geben. Der Ausschluss älterer Bewerber:innen hat aber dennoch als direkte Form der Diskriminierung zu gelten, weil ihre Gruppenzugehörigkeit der maßgebliche Grund für die Ungleichbehandlung ist.

Im Unterschied zur direkten Diskriminierung beruht die Entscheidungsfindung bei einer indirekten Diskriminierung auf scheinbar neutralen – nicht auf die Gruppenzugehörigkeit abstellenden – Kriterien. Die Angehörigen bestimmter Gruppen, wie z. B. Frauen oder schwarze Personen, sind aber überproportional negativ von den Folgen der Entscheidung betroffen. Für die Berücksichtigung der indirekten Diskriminierung im Recht gilt das Urteil „Griggs vs. Duke Power Station“, das das US-Verfassungsgericht 1971 gefällt hat, als maßgeblich (Selmi 2013, S. 252–255).Footnote 8 Das Energieunternehmen hatte in Reaktion auf das Inkrafttreten des Civil Rights Act 1964, der eine direkte Diskriminierung untersagte, seine vormals rassistische Einstellungspraxis verändert. Die Firmenleitung ließ nun Bewerbungen aller Personen ungeachtet ihrer Hautfarbe zu, führte aber den High-School-Abschluss (oder ersatzweise das Erreichen eines Mindestwerts in einem IQ-Test) als neues Auswahlkriterium ein. Obwohl die geforderten Qualifikationen für alle gleich waren, konnten schwarze Bewerber:innen weitaus seltener als weiße Bewerber:innen die Bedingungen erfüllen und eine Anstellung erhalten. Nach Auffassung des US-Verfassungsgerichts war die Orientierung an dem scheinbar neutralen Kriterium Bildungsabschluss angesichts der ungleichen Effekte nicht ausreichend, um den Vorwurf der Diskriminierung zu entkräften.

Eine indirekte Diskriminierung kann – wie schon die direkte Diskriminierung – intentional oder nichtintentional erfolgen. In manchen Fällen ist die Auswahl eines vermeintlich neutralen Kriteriums gerade durch die Absicht motiviert, ein ungleiches Ergebnis zu erzielen, das die Angehörigen einer Gruppe benachteiligt. Beispielsweise liegt angesichts der rassistischen Vorgeschichte von Duke Power Station der Verdacht nahe, das Unternehmen habe die Bestimmungen des Civil Rights Act bewusst umgehen wollen (Friedman 2011, S. 177–178). Möglicherweise hat die Firmenleitung das erforderliche Qualifikationsniveau nur erhöht, weil sie erfolgreiche Bewerbungen schwarzer Personen weitestgehend verhindern wollte. Da die unterschiedlichen Bildungsvoraussetzungen von weißen und schwarzen Menschen in den USA bekannt waren, ließen sich die Folgen der Maßnahme leicht absehen. Obwohl alle Bewerber:innen die gleichen Qualifikationen nachweisen mussten, konnte ein überproportional großer Anteil der schwarzen Personen dem Anforderungsprofil nicht entsprechen.Footnote 9

In seiner Urteilsbegründung hat das US-Verfassungsgericht aber den Tatbestand der indirekten Diskriminierung vom Vorliegen diskriminierender Absichten entkoppelt. Dort heißt es: „(…) Good intent or absence of discriminatory intent does not redeem employment procedures or testing mechanisms that operate as ‚build-in-headwinds‘ for minority groups and are unrelated to measuring job capability“ (Griggs v. Duke Power Co., 401 U.S. 424, 432 (1971)). Demnach kann die ungleiche Betroffenheit von einer Maßnahme auch dann eine indirekte Diskriminierung darstellen, wenn die Verantwortlichen nicht das Ziel verfolgen, die Angehörigen der benachteiligten Gruppe schlechter zu stellen. Auf der rechtspraktischen Ebene führt die Möglichkeit, eine Handlung unabhängig von ihrer Intention als indirekte Diskriminierung anzuerkennen, zu einer erheblichen Erleichterung der Beweisführung. Der häufig sehr schwierige Nachweis von Handlungsabsichten verliert an Bedeutung, wenn schon die sichtbaren Folgen einer Entscheidung ausreichen können, um den Vorwurf der Diskriminierung zu erhärten (Mangold, 2021, S. 243).

Das Bewirken besonderer Nachteile für bestimmte Gruppen ist allerdings nicht als indirekte Diskriminierung zu werten, wenn es durch sachliche Erfordernisse gerechtfertigt werden kann. Folglich ist für den Nachweis einer indirekten Diskriminierung ein zweistufiges Verfahren geboten: Im ersten Schritt muss die überproportionale negative Betroffenheit einer Gruppe festgestellt werden; im zweiten Schritt gilt es das mögliche Vorliegen hinreichender Rechtfertigungsgründe zu prüfen (Schiek 2007, Rn. 30; Khaitan 2017, S. 32–34).Footnote 10 In dem vorstehend angeführten Urteil erkennt das US-Verfassungsgericht grundsätzlich das legitime Interesse des beklagten Unternehmens an, Bewerber:innen auszuwählen, die dem Anforderungsprofil der Stelle entsprechen. Die ungleiche Behandlung von geeigneten und ungeeigneten Bewerber:innen ist auch dann nicht zu beanstanden, wenn die Nachteile bestimmte gesellschaftliche Gruppen überdurchschnittlich stark treffen. Die Richter:innen hatten somit im Kern die Frage zu beantworten, ob ein höherer Bildungsabschluss tatsächlich notwendig war, um die mit der Stelle verbundenen Aufgaben zu erfüllen. Der Energieversorger war im Prozess unterlegen, weil er nicht überzeugend darlegen konnte, warum für Tätigkeiten, die Personen ohne höheren Bildungsabschluss zuvor zufriedenstellend erledigen konnten, plötzlich zusätzliche Qualifikationen erforderlich sein sollten.

Eine Rechtfertigung überproportionaler Nachteile für einzelne Gruppen durch sachliche Notwendigkeit ist freilich nur dann möglich, wenn alternative Maßnahmen, die die ungleichen Auswirkungen verhindern oder zumindest verringern, nicht zur Verfügung stehen. So mag sich z. B. die Festlegung einer körperlichen Mindestgröße als Einstellungsvoraussetzung, die tendenziell Frauen gegenüber Männern benachteiligt, aus den besonderen Arbeitsbedingungen an einem Montageband erklären. Das Unternehmen steht aber in der Pflicht zu prüfen, ob es den Produktionsprozess in einer Weise modifizieren kann, die die Größenanforderung verzichtbar macht. Da es hier auch immer um die Frage geht, welche Maßnahmen einem Unternehmen zugemutet werden können, ergibt sich unvermeidlich ein Ermessensspielraum für die Beurteilung der indirekten Diskriminierung (Thüsing 2021, Rn. 41).Footnote 11

Abschließend soll das erweiterte Verständnis von Diskriminierung, das in Art. 2 der UN-Behindertenrechtskonvention zum Ausdruck kommt, in die Betrachtung miteinbezogen werden. Dort wird neben direkter und indirekter Benachteiligung auch die „Versagung angemessener Vorkehrungen“, um die gleichberechtigte Ausübung von Menschenrechten zu gewährleisten, als Diskriminierung gewertet. Eine Diskriminierung liegt demnach bereits dann vor, wenn ein Staat erforderliche Maßnahmen, die notwendig sind, damit Menschen mit Behinderung von ihren Rechten Gebrauch machen können, nicht ergreift (Graumann 2012; Deutsches Institut für Menschenrechte 2020). So müssen z. B. barrierefreie Dokumente und gebärdensprachliche Übersetzungen zur Verfügung gestellt werden, um dem in Art. 9 der UN-Behindertenrechtskonvention verbrieften Zugang zu Information und Kommunikation zu ermöglichen. Nach Auffassung einiger Autor:innen verlangt das erweiterte Verständnis von Diskriminierung, Menschen mit Behinderung vollumfänglich zur gleichen Rechtsausübung zu befähigen (Rioux und Riddle 2011). Dagegen spricht die explizite Beschränkung auf angemessene Vorkehrungen in der UN-Behindertenrechtskonvention, die eine Berücksichtigung von Kostengesichtspunkten und begrenzten gesellschaftlichen Ressourcen zuzulassen scheint (Barclay 2019, S. 79–97).

Das Diskriminierungskonzept der UN-Behindertenrechtskonvention leistet zweifellos einen wichtigen Beitrag zum Schutz der besonderen Interessen von Menschen mit Behinderung. Für die hier zu erörternde Priorisierung unzureichend vorhandener intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten kommt das erweiterte Verständnis von Diskriminierung aber nicht in Betracht. Die bestehende Knappheit kann nicht durch das Ergreifen angemessener Vorkehrungen, die die spezifischen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung berücksichtigen, beseitigt werden. Somit besteht keine Möglichkeit, alle intensivpflichtigen Patient:innen gleichermaßen in die Lage zu versetzen, ihren medizinischen Versorgungsanspruch zu realisieren. In der weiteren Diskussion werden daher ausschließlich Formen der direkten und indirekten Diskriminierung untersucht.

Diskriminierungsrisiken in der intensivmedizinischen Priorisierung

Die konzeptionellen Überlegungen, die im vorangegangenen Abschnitt angestellt wurden, ermöglichen eine Unterscheidung von vier Formen der Diskriminierung. Im Einzelnen kann zwischen intentionaler direkter Diskriminierung, nichtintentionaler direkter Diskriminierung, intentionaler indirekter Diskriminierung und nichtintentionaler indirekter Diskriminierung differenziert werden. Die beiden intentionalen Formen der Diskriminierung können in der weiteren Untersuchung unberücksichtigt bleiben, weil sie weder auf der rechtlichen Ebene noch auf der Ebene der konkreten Zuteilungsentscheidung einschlägig erscheinen. Wie im zweiten Abschnitt dargelegt, hat der Gesetzgeber in § 5c Abs. 1 IfSG eine Verpflichtung zur Gleichbehandlung statuiert, die eine Benachteiligung „wegen einer Behinderung“ explizit untersagt. Für die Annahme, die für die Zuteilungsentscheidungen verantwortlichen Ärzt:innen verfolgten die Absicht, Menschen mit Behinderung von der Versorgung auszuschließen, gibt es keine Anhaltspunkte.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zur Notwendigkeit einer gesetzlichen Regelung der Priorisierung knapper intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten besonderes Augenmerk auf die Gefahr einer nichtintendierten direkten Diskriminierung gelegt. Im Fokus standen vor allem die klinisch-ethischen Empfehlungen der DIVI, die für die Beurteilung der Erfolgsaussichten einer intensivmedizinischen Behandlung drei Gesichtspunkte hervorheben. Erstens soll der Schweregrad der aktuellen Erkrankung abgeschätzt und die Ausprägung von mit ihr eventuell verbundenen Organversagen, z. B. anhand des SOFA-Score, eruiert werden. Zweitens sehen die klinisch-ethischen Empfehlungen der DIVI vor, vorhandene Komorbiditäten, die die auf die aktuelle Erkrankung bezogene Überlebenswahrscheinlichkeit negativ beeinflussen können, wie etwa eine fortgeschrittene Lungenerkrankung, zu berücksichtigen. Drittens soll auch der prämorbide Gesundheitsstatus der Patient:innen, z. B. mit Hilfe der Clinical Frailty Scale (Gebrechlichkeitsskala), in die Prognose einbezogen werden. Dabei wird der Allgemeinzustand der betreffenden Personen vor ihrer Erkrankung in Hinblick auf Alltagsaktivität und Angewiesenheit auf externe Hilfe beurteilt (Jung et al. 2020). Eine spezifische Gewichtung der genannten Aspekte ist nicht festgelegt; aus ihrer Evaluierung ergibt sich vielmehr ein Gesamtbild, auf dessen Basis die kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit prognostiziert werden soll (DIVI 2021, S. 6–9).

Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts (1 BvR 1541/20, Rn. 116) stellt die Aussicht, die akute Erkrankung zu überleben, zwar „ein als solches zulässiges Auswahlkriterium für die Verteilung knapper Behandlungsressourcen“ dar. Bei der konkreten Beurteilung der Überlebenswahrscheinlichkeit bestehe aber die Gefahr, dass Stereotype über Menschen mit Behinderung einfließen, die ihre Zuteilungschancen verringern. Beispielsweise könne das Vorliegen einer Behinderung pauschal mit einem hohen Grad der Gebrechlichkeit und schlechten Genesungsaussichten gleichgesetzt werden (1 BvR 1541/20, Rn. 118). Die klinisch-ethischen Empfehlungen der DIVI stellen zwar unmissverständlich klar, dass die Komorbidität oder Gebrechlichkeit von Patient:innen nur in den Fällen berücksichtigt werden darf, in denen sie die aktuelle Überlebenswahrscheinlichkeit tatsächlich negativ beeinflusst. Aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts treffen sie aber keine hinreichenden Vorkehrungen, um in der praktischen Umsetzung das Wirksamwerden vorurteilsbelasteter Bewertungen auszuschließen. Das vorgesehene Verfahren biete Menschen mit Behinderung daher keinen wirksamen Schutz vor einer unbewussten und somit unbeabsichtigten Benachteiligung.

Wie bereits im zweiten Abschnitt erläutert, enthält die Novellierung des Infektionsschutzgesetzes verschiedene Regelungen, die dem Risiko einer nichtintendierten direkten Diskriminierung entgegenwirken sollen. Insbesondere die Forderung nach Hinzuziehung einer Person mit Fachexpertise, wenn die Zuteilungsentscheidung eine Patient:in mit Behinderung oder Komorbidität betrifft, geht über das bereits in den klinisch-ethischen Empfehlungen der DIVI verankerte Mehraugenprinzip hinaus.Footnote 12 Zudem enthält die Aufzählung der „Kriterien, die sich auf die aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit nicht auswirken“, in § 5c Abs. 2 Satz 3 eine wichtige Klarstellung. Dort ist der Grad der Gebrechlichkeit ausdrücklich als ein zur Prognose der klinischen Erfolgsaussicht ungeeigneter Indikator genannt. Somit darf der Clinical Frailty Scale – anders als in den klinisch-ethischen Empfehlungen der DIVI – nicht in die Beurteilung der Überlebenswahrscheinlichkeit eingehen (Eckart 2023, Rn. 41–42).Footnote 13 Wie wirksam die Vorkehrungen des IfSG sind, um stereotype Beurteilungen von Menschen mit Behinderung zu verhindern, lässt sich ohne praktische Erfahrungen mit ihrer Umsetzung nicht sicher einschätzen.Footnote 14 Sie gehen aber zumindest das Risiko einer nichtintendierten direkten Diskriminierung gezielt an und gewähren ein höheres Schutzniveau als die klinisch-ethischen Empfehlungen der DIVI.

Mit der Gefahr einer nichtintendierten indirekten (bzw. mittelbaren) Diskriminierung hat sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Priorisierung knapper intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten nicht eingehend befasst. Zwar wird schon in den Leitsätzen des Beschlusses konstatiert, dass der Schutzauftrag des Staates, der sich aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 Grundgesetz ergibt, sowohl die unmittelbare wie auch die mittelbare Diskriminierung umfasst (1 BvR 1541/20, Leitsätze und Rn. 93). Zudem wird explizit zur Kenntnis genommen, dass die Beschwerdeführer:innen auch eine mittelbare Diskriminierung befürchten, weil ihre spezifischen Beeinträchtigungen die Erfolgsaussicht einer intensivmedizinischen Behandlung „statistisch belegt“ vermindern (1 BvR 1541/20, Rn. 22). So würde sich z. B. die Spinale Muskelatrophie, die mehrere Beschwerdeführer:innen aufwiesen, regelmäßig negativ auf die Überlebenswahrscheinlichkeit und damit auch auf die Aussicht auf Zuteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen auswirken.

Das Bundesverfassungsgericht geht in seinen weiteren Ausführungen aber nicht näher auf die Nachteile ein, die einige Gruppen von Behinderten im Ergebnis zu erwarten haben. Beachtung verdient jedoch die Unterscheidung, die es zwischen der kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit einer COVID-19-Infektion und der längerfristig erwartbaren Überlebensdauer trifft. Während das Kriterium der kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit unbedenklich sei, dürften intensivmedizinische Priorisierungsentscheidungen keinesfalls die längerfristig erwartbare Überlebensdauer berücksichtigen. Durch eine Orientierung an der Überlebensdauer „würden Menschen, die aufgrund von Behinderungen tatsächlich oder vermeintlich eine kürzere Lebenserwartung haben, regelmäßig nicht oder nachrangig behandelt, zumal die stereotype Wahrnehmung von Behinderungen zu vorschnellen Schlüssen auf eine kürzere Lebensdauer verleiten kann“ (1 BvR 1541/20, Rn. 117).

Die Erklärung, die das Bundesverfassungsgericht in dem vorstehenden Zitat gibt, ist insofern mehrdeutig, als sie sowohl auf die tatsächlich kürzere Lebenserwartung wie auch auf die nur vermeintlich – in stereotyper Wahrnehmung – kürzere Lebenserwartung abstellt. Wie bereits erörtert, besteht die Gefahr einer stereotypen Wahrnehmung von Gebrechlichkeit und Behinderung auch für das Kriterium der kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit. Aber auch mit Bezug auf die tatsächlich kürzere Lebenserwartung, die Menschen mit bestimmten Behinderungen im Vergleich zu nichtbehinderten Personen aufweisen, erscheint die normative Relevanz der Unterscheidung zwischen den Kriterien der kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit und der langfristigen Überlebensdauer anfechtbar. Wie am Beispiel der Spinalen Muskelatrophie veranschaulicht, müssen einige Personengruppen bei einer Orientierung an der kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit in Kauf nehmen, regelmäßig nicht oder nachrangig behandelt zu werden. Ihnen werden genauso disproportionale Nachteile zugemutet, wie Personen mit tatsächlich kürzerer Lebenserwartung bei Anwendung des Kriteriums der langfristigen Überlebensdauer. Somit vermag das Bundesverfassungsgericht nicht überzeugend zu begründen, warum es das Diskriminierungspotenzial der beiden Kriterien unterschiedlich einschätzt.

Disproportionale Nachteile

Der vorstehend diskutierte Beschluss des Bundesverfassungsgerichtes hat wichtige Fragen offengelassen; insbesondere der Vorwurf einer nichtintendierten indirekten Diskriminierung bedarf weiterer Erörterung. Wie im dritten Abschnitt erläutert, muss die Feststellung einer indirekten Diskriminierung in einem zweistufigen Verfahren erfolgen. Im ersten Schritt gilt es zu zeigen, dass die Anwendung eines scheinbar neutralen Kriteriums disproportionale Nachteile für eine Personengruppe mit sich bringt. Wie das Beispiel der Spinalen Muskelatrophie verdeutlicht, sind insoweit die Bedenken, die einige Menschen mit Behinderung äußern, berechtigt. Das Kriterium der kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit mutet ihnen absehbar zu, überdurchschnittlich häufig bei der Zuteilung knapper intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten unberücksichtigt zu bleiben. Der Nachweis disproportionaler Nachteile, die die Angehörigen einer Gruppe hinzunehmen haben, reicht aber nicht aus, um den Einwand der indirekten Diskriminierung zu begründen. Im zweiten Schritt gilt es zusätzlich zu prüfen, ob hinreichende Rechtfertigungsgründe für eine Orientierung an dem beanstandeten Kriterium vorgebracht werden können.

Im Arbeitsrecht, das für die Entwicklung des Konzepts der indirekten Diskriminierung maßgeblich war, stehen vor allem sachliche Erfordernisse im Blickpunkt. Ein scheinbar neutrales Kriterium, das einer Gruppe von Bewerber:innen disproportionale Nachteile auferlegt, kann dann gerechtfertigt werden, wenn seine Erfüllung notwendig ist, um die mit einer Stelle verbundenen Aufgaben zu erfüllen. So kann z. B. die Anforderung, eine bestimmte Körpergröße zu besitzen, zu einer disproportional niedrigen Einstellung von Frauen führen. Eine solche Vergabepraxis stellt aber nur dann eine indirekte Diskriminierung dar, wenn sich das genannte Qualifikationsmerkmal nicht plausibel aus dem Stellenprofil herleiten lässt (und eine Reorganisation der Arbeitsprozesse, die die Berücksichtigung der Körpergröße verzichtbar machen würde, unmöglich oder unzumutbar erscheint). Die Zulassung von Rechtfertigungsmöglichkeiten für die Auferlegung disproportionaler Nachteile ist unabdingbar, weil sonst auch offenkundig ungeeigneten Personengruppen die gleichen Einstellungschancen gewährt werden müssten. So wäre es z. B. wenig sinnvoll, die hohen Standards körperlicher Fitness, die für Pilot:innen gelten, aufgrund der Schlechterstellung sehbehinderter Menschen als indirekte Diskriminierung zu werten.

Die Übertragung der vorstehend skizzierten Argumentation auf die Zuteilung knapper intensivmedizinischer Ressourcen im Fall einer Pandemie wirft schwierige Fragen auf. Die Vergabe von Stellen orientiert sich an notwendigen beruflichen Qualifikationen, die sich aus dem jeweiligen Tätigkeitsbereich ergeben und in der Regel unstrittig sind. Gegenstand der Prüfung ist lediglich, ob ein Kriterium, wie z. B. Körpergröße, wirklich erfüllt werden muss, um den Anforderungen der Stelle zu genügen. Hingegen geht es bei der Zuteilung knapper intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten um normative Maßstäbe, über die in der akademischen wie auch breiteren gesellschaftlichen Diskussion keine Einigkeit besteht. Im Unterschied zu der allgemein als legitim anerkannten Zielsetzung, Stellen mit qualifizierten Bewerber:innen zu besetzen, ist die Zielsetzung der intensivmedizinischen Priorisierung umstritten.Footnote 15 Neben der Effizienz der Mittelverwendung werden z. B. auch Zuteilungskriterien vorgeschlagen, die auf Fairnessstandards oder die Eigenverantwortung für das Entstehen einer Erkrankung abstellen. Insofern ist nicht nur zu prüfen, ob die Orientierung am Kriterium der kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit tatsächlich geeignet ist, um eine effiziente Mittelverteilung zu erreichen und eine möglichst große Zahl von Leben zu retten. In Frage steht auch, wie mit dem grundlegenden normativen Dissens umgegangen werden soll, der hinsichtlich der Zielsetzung besteht.

Bedenken gegen die Eignung des Kriteriums der kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit können bestehen, weil der tatsächliche Ressourcenbedarf der Patient:innen unbeachtet bleibt. Wie Weyma Lübbe (2021, S. 257–266) zutreffend bemerkt hat, wird eine effiziente Mittelverteilung nur erreicht, wenn eine hohe Überlebenswahrscheinlichkeit regelmäßig mit einer kurzen Aufenthaltsdauer auf der Intensivstation zusammenfällt. Sollten Patient:innen mit hoher Überlebenswahrscheinlichkeit langfristig Plätze auf der Intensivstation belegen und sie somit für andere Patient:innen „blockieren“, würde ihre bevorzugte Behandlung nicht zu einer Maximierung der Anzahl geretteter Leben führen. Der unterstellte Zusammenhang zwischen der Höhe der Überlebenswahrscheinlichkeit und der Kürze der Verweildauer bedarf zweifellos der empirischen Überprüfung; es erscheint aber zunächst plausibel, eine positive Korrelation zwischen beiden Faktoren anzunehmen. Zudem ergibt sich ein diskriminierungstheoretischer Vorwurf gegen das Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit nur dann, wenn sich das Ziel der Effizienz durch ein weniger belastendes Zuteilungsverfahren erreichen lässt. Ob die zusätzliche Berücksichtigung des tatsächlichen Ressourcenbedarfs zu weniger disproportionalen Nachteilen für Angehörige der betroffenen Behindertengruppen führen würde, erscheint aber fraglich.

Für den Umgang mit dem Dissens, der über die legitime Zielsetzung einer intensivmedizinischen Priorisierung besteht, sind die Überlegungen einschlägig, die John Rawls (1998) im Rahmen seiner Konzeption des Politischen Liberalismus angestellt hat. In modernen pluralistischen Gesellschaften kann es sich Rawls zufolge auch für Akteure, die bereit sind, einen offenen und auf Verständigung bedachten Diskurs zu führen, als unmöglich erweisen, Einvernehmen in grundlegenden ethischen Streitfragen zu erzielen. Nach eingehendem Austausch der zentralen Argumente könne eine Situation entstehen, in der sich die Positionen aller beteiligten Parteien weiterhin unversöhnlich gegenüberstehen. Rawls spricht dann von „vernünftigen Meinungsverschiedenheiten“, die die ernsthafte Prüfung konträrer Auffassungen überdauern und sich durch Fortsetzung der Diskussion nicht auflösen lassen. Auf Grund solcher tiefgreifender Dissense dürfe sich die öffentliche Rechtfertigung wichtiger gesellschaftlicher Regelungen nicht ausschließlich auf eine einzige – von vielen Bürger:innen nicht geteilte – Wertvorstellung stützen.

Ausgehend von den vorstehenden Überlegungen erscheint es auch bei der Bewertung des Diskriminierungspotenzials intensivmedizinischer Priorisierungsverfahren sinnvoll, verschiedene Zielsetzungen zuzulassen. Zumindest alle ethischen Positionen, die die akademische und breitere gesellschaftliche Diskussion maßgeblich bestimmen, sollten als mögliche Entscheidungsgrundlage anerkannt werden. Die Forderung nach einer effizienten Verteilung knapper Gesundheitsgüter nimmt nicht nur in den einschlägigen Debatten einen wichtigen Platz ein, sondern ist auch in der medizinischen Praxis fest verankert. Die Orientierung an der klinischen Erfolgsaussicht ist sowohl ein Leitgedanke der notfallmedizinischen Triage wie auch – gemäß § 12 Abs. 3 Transplantationsgesetz – der Vermittlung von Spenderorganen. Insofern folgt die Neuregelung, die der Gesetzgeber in § 5c IfSG zur Zuteilung nicht ausreichend vorhandener intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten trifft, einem etablierten ethischen Standard. Sie manifestiert eine von mehreren Wertvorstellungen, über die in der Gesellschaft vernünftige und letztlich nicht auflösbare Meinungsverschiedenheiten bestehen. Das Kriterium der kurzfristigen, auf die aktuelle Erkrankung bezogenen Überlebenswahrscheinlichkeit stellt somit keine arbiträre Entscheidungsgrundlage dar. Obwohl es einigen Menschen mit Behinderung disproportionale Nachteile zumutet, lässt es sich im Rahmen des bestehenden Dissenses als eine mögliche sachgemäße Lösung rechtfertigen.

Gegen die vorstehende Argumentation mag der Einwand erhoben werden, das einzige wirklich diskriminierungsfreie Verfahren zur Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen sei ein Losentscheid. Nur eine solche an Fairnessgesichtspunkten orientierte Vorgehensweise gebe jeder intensivpflichtigen Patient:in die gleiche Chance auf Nutzung knapper Behandlungskapazitäten und gewährleiste eine proportionale Berücksichtigung aller Bevölkerungsgruppen. Der Einwand verkennt jedoch, dass die Forderung nach vollständiger Vermeidung disproportionaler Nachteile über die im Kontext der indirekten Diskriminierung etablierten Rechtfertigungsstandards hinausgeht. Die Auferlegung ungleicher Folgen ist nicht als indirekte Diskriminierung zu werten, wenn das betreffende Verfahren ein legitimes Ziel mittels geeigneter Kriterien verfolgt. Daher erfüllt nicht jedes Verfahren, das einer Bevölkerungsgruppe überdurchschnittliche Nachteile zumutet, den Tatbestand der indirekten Diskriminierung. Der Anspruch, allen Bevölkerungsgruppen gleiche Zuteilungschancen einzuräumen und sie im Ergebnis gleich zu stellen, entspricht der Logik einer Quotierung, die zur Gewährleistung von Diskriminierungsfreiheit nicht erforderlich ist.

Resümee

Die Zuteilung knapper intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten auf Basis der kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit begegnet der Sorge, eine (nichtintendierte) Diskriminierung von Menschen mit Behinderung zu bewirken. Der Gesetzgeber hat in seiner Novellierung des Infektionsschutzgesetzes verschiedene Maßnahmen getroffen, die geeignet erscheinen, das Risiko einer direkten Diskriminierung wesentlich zu reduzieren. Hinsichtlich der Gefahr einer indirekten Diskriminierung ist der grundlegende Dissens zu beachten, der in modernen pluralistischen Gesellschaften über die legitime Zielsetzung der intensivmedizinischen Priorisierung besteht. Angesichts der tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten sollte bei der Beurteilung des Diskriminierungspotenzials intensivmedizinischer Zuteilungsverfahren keine Zielsetzung, die die gesellschaftliche Diskussion maßgeblich prägt, als offenkundig unsachgemäß verworfen werden. Die Orientierung an der klinischen Erfolgsaussicht stellt eine etablierte ethische Position dar, die den im Kontext der indirekten Diskriminierung geforderten Rechtfertigungsstandards genügt.

Die Zurückweisung des Diskriminierungsvorwurfs hat aber die grundsätzlichen Vorbehalte, die gegen die Priorisierung intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten nach Effizienzgesichtspunkten bestehen, nicht entkräftet. Die Kritik, die z. B. am Ideal der Fairness oder Eigenverantwortung orientierte Autor:innen an konsequentialistischen Zuteilungskriterien üben, verdient weiterhin Beachtung. Die vorstehenden Überlegungen machen die grundlegende ethische Diskussion über die Verteilung überlebenswichtiger Güter in Knappheitslagen keineswegs überflüssig. Sie haben lediglich gezeigt, dass das Kriterium der kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit nicht schon wegen seiner vermeintlich diskriminierenden Wirkung abgelehnt werden muss.