In einer kürzlich im British Journal of Psychiatry veröffentlichten Debatte wird diskutiert, ob Großbritannien von der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zurücktreten sollte (Gosney und Bartlett 2020). Die UN-BRK ist eine internationale Konvention, welche die universellen Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen spezifiziert und von zahlreichen Ländern, darunter auch Deutschland, ratifiziert wurde. Insbesondere die Allgemeine Bemerkung des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (United Nations 2014) zum Artikel 12 der Konvention hat eine kontroverse Diskussion angeregt.

Eine klinisch-psychiatrische Perspektive

Eine klinisch-psychiatrische Perspektive wird in der Debatte im British Journal of Psychiatry durch den Psychiater Paul Gosney eingenommen, der eine wesentliche Revision der UN-BRK oder alternativ einen Rücktritt Großbritanniens von der Konvention fordert. Würden die Bestimmungen der UN-BRK in der psychiatrischen Praxis umgesetzt, wären nach der Auslegung des Fachausschusses keinerlei Zwangsmaßnahmen mehr erlaubt. Dies würde laut Gosney zu unvertretbaren gesundheitlichen Schäden bei Personen mit psychischen Störungen führen. So wäre es gemäß der UN-BRK beispielsweise nicht mehr möglich, akut suizidale Patienten bei fehlender Einwilligungsfähigkeit entgegen ihren aktuell geäußerten Präferenzen in einer psychiatrischen Klinik unterzubringen und zu behandeln.

Im Fokus der Debatte steht das Konzept der Einwilligungsfähigkeit. Während die UN-BRK nach der Interpretation des Fachausschusses das Konzept der Einwilligungsfähigkeit als fehlgeleitet und diskriminierend ablehnt, ist nach Gosney das Fehlen von Einwilligungsfähigkeit ein valides Kriterium, das die Anwendung von Zwangsmaßnahmen unter bestimmten Voraussetzungen ethisch legitimieren kann.

Gosney plädiert dafür, dass bei fehlender Einwilligungsfähigkeit eine stellvertretende Entscheidungsfindung erfolgen sollte, wobei sich die stellvertretende Person am selbstbestimmten Willen des Betroffenen zu orientieren habe. Nach der Interpretation der UN-BRK durch den Fachausschuss ist stellvertretende Entscheidungsfindung hingegen unzulässig – stattdessen sollte ausschließlich unterstützende Entscheidungsfindung (bzw. Entscheidungsassistenz) angewendet werden.

Nach Gosneys Sicht liegt der UN-BRK ein Konzept von statischen Behinderungen zugrunde, das sich nicht auf dynamische psychische Störungen übertragen lasse. So könne beispielsweise eine Person in einer psychotischen oder manischen Phase zeitweise nicht einwilligungsfähig sein, die Einwilligungsfähigkeit aber zu einem späteren Zeitpunkt wiedererlangen. Es sei ein Vorteil, dass Menschen mit psychischen Störungen zu vielen Zeitpunkten einwilligungsfähig sind und für jeden konkreten Zeitpunkt bestimmt werden kann, ob Einwilligungsfähigkeit vorliegt. Zwangsbehandlungen hätten dabei teilweise auch den Zweck, die Einwilligungsfähigkeit von Betroffenen wiederherzustellen.

Eine rechtswissenschaftliche Perspektive

Der Jurist Peter Bartlett plädiert gegen einen Rücktritt Großbritanniens von der UN-BRK. Er erläutert, dass die britische Gesellschaft weit von einer Gleichstellung von Personen mit psychischen Störungen entfernt sei. Die bestehenden gesetzlichen Regelungen wirkten sich häufig nachteilig auf Personen mit psychischen Störungen aus, über deren Leben oft auf paternalistische Weise bestimmt werde und die weiterhin starke soziale Ausgrenzung erfahren müssten. Die UN-BRK sei Bartlett zufolge als Instrument zu verstehen, um die Durchsetzung der Rechte von Personen mit Behinderungen und psychischen Störungen zu garantieren. Die Ablehnung von Zwangsmaßnahmen durch die UN-BRK und ihrer Vertreter müsse in diesem Kontext verstanden werden.

Laut Bartlett gebe es keine Begründung zur Ausübung von Zwang, die nicht inhärent problematisch sei. Er nimmt hierbei an, dass auch das Konzept der Einwilligungsfähigkeit keine legitime Basis für die Anwendung von Zwang darstelle, da das Konzept zu dehnbar und unter Umständen paternalistisch und diskriminierend sei.

Allerdings erklärt Bartlett, dass eine vollständige Ablehnung von Zwang nur aus der Interpretation der UN-BRK durch den Fachausschuss folge, nicht aber aus dem Text der UN-BRK selbst. Er betont die Notwendigkeit des Austauschs zwischen psychiatrischen Fachleuten und Vertretern des Fachausschusses und fordert die Psychiatrie dazu auf, ihre Expertise in die Auslegung der UN-BRK einzubringen. Eine pauschale Ablehnung der UN-BRK ohne alternative Lösungsvorschläge hält er hingegen für nicht zielführend.

Kommentar

Gosney und Bartlett führen im British Journal of Psychiatry eine interessante Debatte über die Umsetzung der UN-BRK im psychiatrischen Versorgungssystem und weisen dabei auf verschiedene Aspekte hin, die für die psychiatrische Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen in Deutschland in hohem Maße relevant sind und auch hierzulande unter Expertinnen und Experten aus Ethik, Rechtswissenschaft und Psychiatrie kontrovers diskutiert werden. Der Psychiater Gosney insistiert darauf, dass eine Umsetzung der UN-BRK in der psychiatrischen Praxis in bestimmten Fällen zu schwerwiegenden gesundheitlichen Schäden bei Menschen mit psychischen Störungen führen würde, und sieht diese daher kritisch. Der Rechtswissenschaftler Bartlett betont im Gegenzug die allgemeinen Ziele und Prinzipien der UN-BRK (z. B. Gleichbehandlung und Respektierung der Selbstbestimmung) und macht sich für ihre Umsetzung stark.

Aus unserer Sicht dürften die allgemeinen Ziele und Prinzipien der UN-BRK weitgehend unumstritten sein. Die eigentliche ethische Kontroverse besteht unseres Erachtens darin, ob stellvertretende Entscheidungsfindung und Zwangsbehandlungen auf Grundlage fehlender Einwilligungsfähigkeit mit diesen Zielen und Prinzipien vereinbar sind. An anderer Stelle haben wir die negativen Konsequenzen einer Umsetzung der UN-BRK nach dem vom Fachausschuss vorgeschlagenen Muster für Menschen mit psychischen Störungen herausgearbeitet (Scholten und Gather 2018). Eine solche Umsetzung der UN-BRK hat aus unserer Sicht negative Auswirkungen nicht nur auf das gesundheitliche Wohl der Betroffenen, sondern auch auf deren Möglichkeiten, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, sich frei von unangemessenem Druck zu entscheiden und die eigene Behandlung im Voraus zu planen. Dies würde zentralen Zielen der UN-BRK zuwiderlaufen.

Gosney schlägt vor, fehlende Einwilligungsfähigkeit (und nicht etwa Behandlungsbedürftigkeit oder Eigen- bzw. Fremdgefährdung) als zentrale Voraussetzung für die Rechtfertigung von Zwangsbehandlungen anzusehen. Im Hinblick auf diese zentrale Voraussetzung erscheint es uns sinnvoll, eine Bereitstellung von Entscheidungsassistenz mit einer fähigkeitsbasierten Beurteilung von Einwilligungsfähigkeit zu kombinieren (Scholten und Gather 2018). Während Bartlett ein solches Festhalten am Konzept der Einwilligungsfähigkeit ablehnt, da es diskriminierend sein könne, kann man unseres Erachtens auf der Grundlage der philosophischen Debatte zur Diskriminierung zeigen, dass die Anwendung des Konzepts der Einwilligungsfähigkeit den ethischen Anforderungen der Gleichbehandlung unter bestimmten Bedingungen gerecht wird (Scholten et al. 2021).

Für die Zukunft ist es aus unserer Sicht wünschenswert, ausgehend von den weitgehend geteilten Zielen und Prinzipien der UN-BRK eine praxistaugliche Auslegung herauszuarbeiten, deren Umsetzung in der psychiatrischen Praxis ethisch vertretbar ist. Bartletts Aufruf zu einem engeren Austausch zwischen Vertreterinnen und Vertretern der UN-BRK und der Psychiatrie ist in dieser Hinsicht begrüßenswert. Vor allem bei der Entwicklung konkreter klinischer Interventionen zur Entscheidungsassistenz bei Menschen mit psychischen Störungen erscheint uns eine solche Zusammenarbeit ebenso dringend wie vielversprechend.