Reduzierte körperliche Belastbarkeit und Muskelschmerzen

Ein 44-jähriger Patient stellte sich aufgrund seit mehreren Wochen andauernder reduzierter körperlicher Belastbarkeit und Muskelschmerzen notfallmäßig in unserer Poliklinik vor. Zudem schilderte er eine leichte Belastungsdyspnoe. Eine kardiologische Untersuchung inklusive Belastungs-EKG und transthorakaler Echokardiographie hatte keine Auffälligkeiten erbracht.

Der Patient ging einer körperlich gering belastenden Tätigkeit nach. Er trieb keinen Sport. Etwa zweimal im Monat träten ein Schwächegefühl und Muskelschmerzen auf, durch kohlenhydratreiche Ernährung lasse sich jedoch meistens eine Besserung erzielen.

Die bereits auswärts bestimmten Laborwerte wiesen eine auf 15 μmol/(s L) erhöhte CK und erhöhte Transaminasen (GOT 2450 nmol/(s L), GPT 3883 nmol/(s L)) aus.

Im klinisch-neurologischen Untersuchungsbefund fielen eine geringgradige Hemihypästhesie links und eine proximale Paraparese (Hüftbeugung beidseits Kraftgrad MRC 4, Kniebeugung links grenzwertig) auf. Es bestanden keine Atrophien, auffällig war eine weiche, etwas pseudohypertroph anmutende Beinmuskulatur.

Ähnliche Beschwerden sind schon in der Vergangenheit aufgetreten

Bereits seit der Kindheit seien häufiger – typischerweise nach körperlicher Belastung – passagere Episoden mit Muskelschmerzen und -schwäche, Erbrechen und Bewusstseinsverlust aufgetreten, weswegen er immer versucht habe, intensive körperliche Belastung zu vermeiden. Eine permanente Muskelschwäche war dem Patienten nicht aufgefallen.

Umfangreiche Voruntersuchungen sind bereits erfolgt

Neun Jahre zuvor wurde der Patient notfallmäßig wegen einer solchen Episode mit Schwächegefühl, Muskelschmerzen und starkem Erbrechen stationär zunächst in einer internistischen Klinik behandelt. Im Verlauf des dortigen Aufenthalts traten zudem einfach fokale Anfälle mit Parästhesien der linken Körperhälfte auf, bevor sich ein sensomotorisches Hemisyndrom links entwickelte. Ursächlich fand sich im cMRT eine Brückenvenenthrombose rechts frontoparietal (Abb. 1a), weswegen der Patient in eine neurologische Abteilung verlegt wurde. Auch damals fielen deutlich erhöhte CK- und Leberwerte auf (CK 50 μmol/(s L), GOT 1550 nmol/(s L), GPT 4683 nmol/(s L), GGT 967 nmol/(s L), LDH 9 μmol/(s L)). Der Laktatwert im Serum (Liquor nicht untersucht) betrug 2 mmol/L (0,5–2,2 mmol/L), die Entzündungsparameter waren nicht erhöht. Der Laktat-Ischämie-Test und die Porphyriediagnostik waren unauffällig. Die hämostaseologische Diagnostik ergab keine Auffälligkeiten (einschließlich APC-Resistenz, Protein C, Protein S, Faktor-V-Gen-Mutation).

Abb. 1
figure 1

Brückenvenenthrombose rechts frontoparietal. a Transversale FLAIR-gewichtete cMRT-Schnittbilder aus dem Jahr 2009 (Zeitpunkt der Brückenvenenthrombose) und b aktuell. FLAIR „fluid-attenuated inversion recovery“, MADD multipler Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel

Elektromyographisch fanden sich in geringer Ausprägung myopathische Veränderungen.

Die in differenzialdiagnostischer Erwägung eines MELAS („mitochondrial encephalomyopathy with lactic acidosis and stroke-like episodes“) entnommene Muskelbiopsie (M. deltoideus und M. tibialis anterior links) zeigte eine Myopathie mit etlichen teilatrophischen und atrophischen Muskelfasern und vermehrten nichtrandständigen Kernen. Vereinzelt kamen COX/SDH+-Muskelfasern vor (Abb. 2a). Dazu passend zeigten einzelne Fasern in der Trichromfärbung mäßig vermehrte fuchsinophile Ablagerungen, die als angedeutetes „Ragged-red“-Phänomen gedeutet wurden. In den Semidünnschnitten fanden sich mäßig vermehrte osmiophile Ablagerungen in etlichen Muskelfasern (Abb. 2b). Elektronenmikroskopisch ließen sich diese Ablagerungen als vermehrte und moderat vergrößerte Lipidtropfen und Mitochondrien identifizieren; letztere zeigten nicht selten einzelne oder multiple, abnorme parakristalline oder globoide Einschlüsse (Abb. 2c). Die muskelbioptischen Veränderungen wurden (bei klinischem Verdacht auf MELAS) als Zeichen einer mitochondrialen Myopathie interpretiert.

Abb. 2
figure 2

Biopsiebefunde (M. tibialis anterior links). a Vermehrte osmiophile Ablagerungen subsarkolemmal (Pfeil); Kunstharzsemidünnschnitt, Toluidinblau; Maßstab = 40 µm. b Prominente Lipidtropfen (Pfeilkopf), großer globoider osmiophiler Einschluss in einem Mitochondrion. Elektronenmikroskopie; Maßstab = 800 nm. c Subsarkolemmale Ansammlung von Mitochondrien mit parakristallinen Einschlüssen. Elektronenmikroskopie; Maßstab = 600 nm

In der Abdomensonographie zeigte sich eine diskrete Steatosis hepatis.

Als Diagnose wurde eine metabolische Dekompensation (am ehesten als Ausdruck eines MELAS) nach körperlicher Belastung mit konsekutiver Brückenvenenthrombose angenommen.

Der Patient wurde für 6 Monate mit Marcumar behandelt und auf das Antikonvulsivum Lamotrigin eingestellt. Weitere Anfallsereignisse seien nicht mehr aufgetreten. Ein kürzlich angefertigtes cMRT zeigte bis auf das Defektareal nach der Brückenvenenthrombose keine weiteren Auffälligkeiten (Abb. 1b).

Differenzialdiagnosen: metabolische Myopathie? MELAS?

Zusammenfassend traten seit der Kindheit – meist nach körperlicher Anstrengung – passagere Episoden mit Muskelschwäche, Muskelschmerzen, Erbrechen und Bewusstseinsverlust, mehrmals dokumentierter CK-Erhöhung und (Teil)kompensationsmöglichkeit durch kohlenhydratreiche Ernährung auf. Letzteres erhärtete den Verdacht auf eine Lipidstoffwechselmyopathie, hinweisend hierfür war zudem die in der Muskelbiopsie nachgewiesene Lipidspeicherung.

Bei einer Glykogenose wäre keine Besserung auf kohlenhydratreiche Ernährung zu erwarten, zudem wären hier entsprechende Auffälligkeiten im Laktat-Ischämie-Test und in der Muskelbiopsie wahrscheinlich, welche sich bei unserem Patienten nicht fanden.

Gegen ein MELAS sprach, trotz einmaligem Nachweis eines Laktatwertes im hochnormalen Bereich, das bis auf die Brückenvenenthrombose wiederholt unauffällige kraniale MRT. Bei einem MELAS wären fluktuierte FLAIR-Hyperintensitäten zu erwarten, die nicht auf vaskuläre Territorien beschränkt sind [1]. Zudem ist der isolierte Nachweis mäßiggradiger mitochondrialer Veränderungen in der Muskelbiopsie nicht notwendigerweise hinweisend auf ein MELAS. Die epileptischen Anfälle des Patienten waren symptomatischer Genese bedingt durch die Brückenvenenthrombose.

Nächster Schritt: Untersuchung von Carnitin und des Acylcarnitinspektrums

Wir untersuchten daraufhin Carnitin und das Acylcarnitinspektrum im Serum. Hier fand sich ein auffälliges Acylcarnitinspektrum sowohl im mittel- als auch im langkettigen Bereich, was differenzialdiagnostisch an einen „multiplen Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel“ bzw. einen „sehr langkettigen Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel“ (VLCAD) denken ließ.

Genetische Diagnostik

Nunmehr erfolgte eine molekulargenetische Diagnostik (EDTA-Blut), in der sich zwei Varianten im Elektron-Transfer-Flavoprotein-Dehydrogenase (ETFDH)-Gen fanden: c.536T > C (p.Leu179Ser) und c.1366C > T (p.Pro456Ser) jeweils in heterozygotem Zustand. Die Variante c.536T > C (p.Leu179Ser) ist aufgrund der aktuell verfügbaren Daten formal als Variante unklarer Signifikanz (ACMG-Klasse 3) einzuordnen. Die Variante c.1366C > T (p.Pro456Ser) ist als pathogen für einen multiplen Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel beschrieben [6]. Ein MELAS konnte nicht nachgewiesen werden (keine pathogene Variante im MT-TL1-Gen).

Unter Annahme einer „compound“-heterozygoten Konstellation (Untersuchungsproben der Eltern für eine Segregationsanalyse standen nicht zu Verfügung) und eines pathogenen Effektes der Variante c.536T > C (p.Leu179Ser) im ETFDH-Gen konnte somit in Zusammenschau mit den klinischen und biochemischen Ergebnissen die Diagnose eines multiplen Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangels (MADD) bzw. einer Glutarazidurie Typ II molekulargenetisch mit hoher Wahrscheinlichkeit bestätigt werden.

Pathophysiologie

Der Glutarazidurie Typ II liegt ein genetischer Defekt der Elektron-Transfer-Flavoprotein-Untereinheit A, B oder der Elektron-Transfer-Flavoprotein-Dehydrogenase (ETFDH) zugrunde [2, 4, 7]. Die Erkrankung folgt einem autosomal-rezessiven Erbgang. Biochemisch kommt es dadurch zu einem multiplen Acyl-CoA-Dehydrogenase-Mangel und einer erhöhten Menge an Acylcarnitinen unterschiedlicher Länge. Dadurch ist sowohl die Fettsäureoxidation als auch der Abbau verschiedener Aminosäuren betroffen. Darüber hinaus tritt eine Lipidanreicherung in verschiedenen Organen mit bioptisch nachweisbaren vermehrten Lipidtropfen in Muskelfasern auf. In der ohnehin spärlichen Literatur zu den ultrastrukturellen Veränderungen der Muskelfasern sind vereinzelt auch mitochondriale Strukturveränderungen beschrieben [8]. Diese sind zwar nicht spezifisch, passen aber zu den klinisch nachweisbaren belastungsabhängigen Muskelbeschwerden und könnten pathophysiologisch relevant sein.

Heterogenes Beschwerdebild

Schwere Formen manifestieren sich bereits verbunden mit kongenitalen Veränderungen (Nierendysplasie) im Neugeborenenalter und führen zu einer stark eingeschränkten Lebenserwartung. Zudem treten schwere Formen ohne kongenitale Veränderungen in der frühen Kindheit auf, hier finden sich zusätzlich zur Muskelschwäche Enzephalopathien, Hypoglykämien und Kardiomyopathien. Bei milderen Formen, wie bei unserem Patienten, kommt es erst im späteren Kindesalter oder in der Jugend zu Beschwerden. Hier können sowohl chronische Myalgien und Muskelschwäche bestehen, darüber hinaus kann es zu metabolischen Dekompensationen mit Laktatazidose, Rhabdomyolyse und einer fluktuierenden Myopathie, wie bei unserem Patienten, kommen. In einzelnen Fällen wird die Diagnose erst im Erwachsenenalter gestellt [3, 4].

Metabolische Dekompensationen werden durch katabole Zustände wie beispielsweise Fasten, Infekte oder eine Schwangerschaft getriggert. Ebenfalls als Auslösefaktoren kommen bestimmte Medikamente wie beispielsweise Valproinsäure infrage [3].

Neugeborenenscreening seit 2002

Seit 2002 ist die Untersuchung von Carnitin und des Acylcarnitinspektrums im Neugeborenenscreening enthalten, hier werden leichte Auffälligkeiten aber oft nicht erkannt.

Fallstricke bei der Diagnosestellung

Schwierigkeiten bei der Diagnosestellung können dadurch entstehen, dass sich milde Formen z. T. erst im höheren Erwachsenenalter manifestieren können [3, 5].

Bei milden Formen kann das Acylcarnitinspektrum im symptomfreien Intervall normal bzw. grenzwertig und nur während einer metabolischen Dekompensation auffällig sein, sodass in solchen Fällen im Zweifelsfall auch bei unauffälligem Acylcarnitinspektrum eine genetische Diagnostik in Erwägung gezogen werden sollte [3].

Therapie

Eine kausale Therapie ist bisher nicht möglich. Therapeutisch wichtig sind neben der Vermeidung kataboler Zustände (insbesondere kein Fasten) eine fettarme Diät sowie die Einnahme von Riboflavin. Dessen Metabolite sind wichtige Kofaktoren der Elektron-Transfer-Flavoprotein-Dehydrogenase (ETFDH), durch die Supplementation mit Riboflavin kann in vielen Fällen der bestehende ETFDH-Defekt abgemildert werden [3, 6, 9]. Zudem kann ergänzend die Substitution von Koenzym Q bzw. Carnitin erfolgen.

Im Falle unseres Patienten kam es unter regelmäßiger Einnahme von Riboflavin (400 mg/Tag) und entsprechender Ernährungsumstellung zu einer deutlichen Besserung, was bei den meisten Patienten mit milder Form einer Glutarazidurie Typ II der Fall ist.

Fazit für die Praxis

  • Chronische oder episodische Muskelschmerzen und -schwäche oder metabolische Dekompensationen sollten immer auch an eine Lipidstoffwechselmyopathie denken lassen. Anamnestisch hierfür ist besonders das Ansprechen der Beschwerden auf kohlenhydratreiche Ernährung wegweisend.

  • Die Untersuchung von Carnitin und des Acylcarnitinspektrums im Serum ist wegweisend, wohingegen die Muskelbiopsie in der Regel keine spezifischen, allerdings – wie im vorliegenden Fall – erhebliche, pathophysiologisch interessante mitochondriale Veränderungen zeigen kann. Die Diagnose wird molekulargenetisch gesichert.