Die Frage nach der idealen Konzeption und konkreten Ausgestaltung der Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen durchzieht die Geschichte psychiatrischer Institutionen, und die Antworten darauf waren und sind stets stark von gesellschaftlichen Entwicklungen und Erwartungen beeinflusst [3]. Einigkeit dürfte heutzutage darüber bestehen, dass das Setting einer psychiatrisch-psychotherapeutischen Station und das in diesem Rahmen realisierte „therapeutische Milieu“ einen gewichtigen – förderlichen oder hinderlichen – Einfluss auf den Genesungsprozess von Menschen mit psychischen Erkrankungen haben kann [1]. Wie genau hingegen ein patientenorientiertes und an den Gegebenheiten der Versorgungsregion angepasstes baulich-räumliches, organisatorisch-konzeptionelles und personelles Behandlungsumfeld aussehen sollte, ist häufig Gegenstand kontroverser Diskussionen.

In einigen PsychKG werden Unterbringungen in „offenen Formen“ explizit erwähnt

Rechtlich untergebrachte Personen sind im Hinblick auf das Stationssetting in besonderer Weise von den lokalen Strukturen an der für sie im Rahmen der Pflichtversorgung zuständigen Klinik abhängig. Ob sie beispielsweise auf einer diagnostisch durchmischten durchgängig offenen Station, einer störungsspezifischen fakultativ geschlossenen Behandlungseinheit oder einer als „geschützt“ bezeichneten durchgängig geschlossenen „psychiatrischen Intensivstation“ aufgenommen und behandelt werden, ist in aller Regel völlig unabhängig von ihren individuellen Präferenzen.

Gerade im Hinblick auf diese Gruppe der unfreiwillig untergebrachten Personen hat sich in den letzten Jahren im deutschsprachigen Raum klinisch, wissenschaftlich und psychiatriepolitisch wieder ein verstärktes Interesse an sog. offenen Unterbringungsformen entwickelt. Verschiedene kürzlich novellierte Landesgesetze zur öffentlich-rechtlichen Unterbringung erwähnen die Möglichkeit einer Unterbringung in „offenen Formen“ mittlerweile explizit, beispielsweise § 30 Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG) Berlin oder § 10 PsychKG Nordrhein-Westfalen. Viele psychiatrische Kliniken haben diese Änderungen in den rechtlichen Vorgaben und die positiven Erfahrungen anderer Standorte als Anlass genommen, vormals geschlossene Stationen sukzessive zu öffnen.

Die teilweise oder vollständige Öffnung vormals geschlossener Stationen wird jedoch kontrovers diskutiert, vermutlich auch und gerade deshalb, weil dabei der notorisch umstrittene gesellschaftliche Sicherungsauftrag der Psychiatrie tangiert wird. Hinzu kommt, dass die schon in früheren Dekaden verwendeten Begriffe wie „offene Psychiatrie“ [4] oder „Psychiatrie mit offenen Türen“ [2] normativ aufgeladen sind und mitunter der Eindruck entsteht, es gehe in der Diskussion in erster Linie darum, eine „innovative“ [5] offene Psychiatrie unkritisch einer „überkommenen“ geschlossenen Psychiatrie gegenüberzustellen. Ein weiterer problematischer Aspekt ist, dass selbst in Kliniken, die offene Unterbringungsformen praktizieren (und häufig auch offensiv nach außen propagieren), manche Stationstüren über Nacht oder – zumindest vorübergehend in bestimmten Situationen – auch am Tag geschlossen werden. Dies wird von anderen nachvollziehbarerweise als „Mogelpackung“ wahrgenommen. Darüber hinaus sind selbst durchgängig offene Akutstationen in der Regel nicht frei von Zwang und Freiheitseinschränkung, und bisweilen bleibt unklar, ob die vormals geschlossene Tür nicht bloß durch andere Maßnahmen der Sicherung und Überwachung ersetzt wird.

Die emotional geführte Debatte um „offene Türen“ muss versachlicht werden

Unter anderem vor diesem Hintergrund wird die Diskussion um offene Unterbringungsformen häufig sehr leidenschaftlich geführt, wovon auch die Vorbereitungen dieses Leitthemenheftes betroffen waren. Für uns macht dies in erster Linie deutlich, wie sensibel, aber auch wie zentral die Thematik für unser Selbstverständnis als stationär arbeitende Psychiater und Psychotherapeuten ist. Mit unserer Schwerpunktsetzung verfolgen wir in dieser Ausgabe das Ziel, die emotional geführte Debatte zu versachlichen und konkrete klinische, konzeptionelle und ethische Teilaspekte des psychiatrischen Stationssettings zu erörtern, die dann in der Realität der klinischen Versorgung vor Ort zu einer an den lokalen Gegebenheiten angepassten psychiatrisch-psychotherapeutischen Gesamtkonzeption zusammengeführt werden müssen. Wir haben versucht, sowohl im Hinblick auf die Autorenauswahl als auch methodisch und inhaltlich die gegenwärtige Debatte und die darin vertretenen Positionen breit abzubilden.

Wir wünschen uns, dass sich die Leser von Der Nervenarzt umfassend informiert fühlen und angeregt werden, ihre eigenen Erfahrungen und Vorstellungen des „Stationssettings in der Psychiatrie“ zu reflektieren und neue Ideen für ihre tägliche psychiatrisch-psychotherapeutische Arbeit zu entwickeln.

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Prof. Dr. Georg Juckel

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Dr. Jakov Gather