In der Psychotherapie hält der aus der somatischen Medizin kommende Gedanke einer personalisierten Therapie Einzug. Die Wahl des therapeutischen Vorgehens soll dabei nicht mehr primär von der vorliegenden Störung, sondern von individuellen biopsychosozialen Patientenmerkmalen abhängen, die in einer prozessorientierten individuellen Fallkonzeption zusammengeführt werden. Das Assessment zugrunde liegender Prozesse stellt einen wertvollen Zugewinn für die empirisch geleitete Auswahl geeigneter Techniken und Module dar. Durch die Konzeptualisierung einer evidenz- und prozessbasierten individualisierten und modularen Psychotherapie könnte die Orientierung an Psychotherapieverfahren und -schulen abgelöst werden.

Warum innovative Psychotherapieforschung notwendig ist

Um mit einer positiven Nachricht zu beginnen: Psychotherapie ist nachweislich wirksam, was zahlreiche randomisiert-kontrollierte Studien (RCT), welche in Metaanalysen zusammengefasst werden, belegen (z. B. [41]). Ihre Effektivität ist mit der somatischer Behandlungsverfahren vergleichbar und entsprechend hat sie als evidenzbasierte Behandlungsempfehlung der 1. Wahl bei fast allen psychischen Erkrankungen Einzug in nationale und internationale Leitlinien gehalten. Es steht uns eine Vielfalt an empirisch untersuchten und professionell durchgeführten Psychotherapien zur Verfügung, die sich hinsichtlich ihrer Wirksamkeit im Durchschnitt nicht wesentlich zu unterscheiden scheinen. Dies scheint insbesondere für die Psychotherapie der Depressionen zuzutreffen (z. B. [3]) und wird im Diskurs der aktuellen Psychotherapiedebatte auch als Bestätigung des „Äquivalenzparadoxons“ bezeichnet [60]. Die kognitive Verhaltenstherapie (KVT) ist jedoch ohne Zweifel die am besten untersuchte Psychotherapie, weshalb die Evidenzbasierung hier als am robustesten bezeichnet werden kann [3].

Innovative Psychotherapieforschung zur Überwindung der Kluft zwischen Forschung und Praxis

Soweit die positive Zusammenfassung zur Wirksamkeit der Psychotherapie, welche allerdings durch eine Reihe von Limitationen eingeschränkt wird. Wir beschränken uns auf die unserer Meinung nach wichtigsten sechs Probleme:

  1. 1.

    Hoher Prozentsatz an Nonresponse, Nonremission und Rückfällen

    Trotz der durchschnittlichen Wirksamkeit zeigen Studien zu den etablierten Psychotherapien durchgängig Prozentanteile von mindestens einem Drittel bis der Hälfte der Patienten, die am Ende als Nonresponder bezeichnet werden müssen, und sogar 60–80 %, die nicht in die Remission gelangen oder nach Psychotherapie einen Rückfall erleiden (z. B. [40]).

  2. 2.

    Stagnation der Effektivität

    Trotz intensiver Forschung und der inzwischen als inflationär bezeichneten Entwicklung immer neuer Psychotherapieansätze, welche häufig unter dem Schlagwort „3. Welle“ zusammengefasst werden [53], müssen wir eine Stagnation der Effektivität verzeichnen: Die neuen Therapiemethoden sind den traditionellen meist nicht (wesentlich) überlegen.

  3. 3.

    Kluft zwischen psychotherapeutischer Praxis und Psychotherapieforschung

    Diese Kluft ist von Seiten vieler Praktiker gekennzeichnet durch Misstrauen und der Infragestellung der Relevanz und Übertragbarkeit von Studienbefunden auf ihre Routinebedingungen [57]. Um es methodisch auszudrücken: Die häufig hohe interne Validität von RCTs wirkt sich tatsächlich oft negativ auf die externe Validität (also die Generalisierbarkeit der Ergebnisse auf die Praxis) aus.

  4. 4.

    Mangelnde Dissemination

    Zudem erreichen die wirksamen Psychotherapien längst nicht alle behandlungsbedürftigen Patienten. So haben 57 % der Personen mit einer validierten Diagnose einer psychischen Störung in Deutschland in den letzten 12 Monaten keine ambulante oder stationäre Hilfe aufgrund ihrer psychischen Beschwerden in Anspruch genommen [36].

  5. 5.

    Wenige Kenntnisse über Wirkmechanismen

    Auch wissen wir noch erstaunlich wenig, wie und warum Psychotherapien wirken. In der Psychotherapiedebatte kommen Wampold und Kollegen [60] bzgl. Wirkmechanismen zu dem Schluss, dass vor allem die kontextuellen Faktoren (z. B. Zielkonsensus, Empathie, Allianz) für die Wirksamkeit entscheidend seien und weniger die spezifischen Komponenten (wie z. B. die unterschiedlichen Techniken). Hier herrscht jedoch Forschungsbedarf, da diese Zusammenfassung vor allem auf korrelativen Studien basiert, welche wenig Aufschluss über die zeitliche Abfolge sowie moderierende und mediierende Faktoren geben.

  6. 6.

    Grundsätzliche methodische Probleme

    Das Paradigma der evidenzbasierten Medizin wurde auf die Psychotherapieforschung übertragen, sodass auch hier RCTs als Goldstandard der Wirksamkeitsprüfung gelten. Dies ist jedoch problematisch, da beispielsweise in Psychotherapiestudien keine Placebobedingung realisiert werden kann, Therapeuten und Patienten nicht verblindet werden können und für viele konfundierenden Variablen nicht kontrolliert werden kann (vgl. [59]). So stellen die publizierten Effektstärken möglicherweise Überschätzungen dar, wofür auch der Publikationsbias sowie Powerprobleme verantwortlich gemacht werden können (z. B. [14]).

Diese sechs Punkte weisen eindrucksvoll auf die Notwendigkeit einer Veränderung der Psychotherapieforschung hin: Wir benötigen nicht immer mehr RCTs und Methoden auf dem Markt (wobei es fraglich ist, ob die neuen Methoden wirklich neu sind oder nicht eher altes wiederaufgenommen haben – vgl. „Geschichtsvergessenheit“ [57]). Vielmehr sehen wir die Zukunft darin, die bereits von Gordon L. Paul 1969 aufgeworfene und von Alan E. Kazdin und anderen Forschern immer wieder aufgegriffene Psychotherapieforschungsfrage zu adressieren ([50, S. 44]; vgl. auch [35, 38]):

What treatment, by whom, is most effective for this individual with the specific problem, under which set of circumstances, and how does it come about?

In den letzten Jahrzehnten wurden bereits Konzepte jenseits der störungsspezifischen Psychotherapie entwickelt, welche die von Paul aufgeworfene Frage und somit Konzepte der personalisierten bzw. Präzionstherapie adressieren und im nächsten Absatz zusammenfassend referiert werden. Da bei Ansätzen der personalisierten Medizin der Patient häufig auf molekularbiologische Konstellationen reduziert wird, plädieren wir dafür, in der Psychotherapie dieses Forschungsparadigma auf das konkrete biographische Individuum mit seiner unverwechselbaren Individualität zu erweitern, welche die biologische Realität natürlich beinhaltet, aber den Einbezug der Person als Ganzes meint (vgl. [30]). Daher präferieren wir (zumindest deutschsprachig) den Begriff „individualisiert“ statt „personalisiert“. Passend in diesem Zusammenhang erscheint auch der Begriff der personenzentrierten Psychotherapie, der – zurückgehend auf die Psychotherapie Rogers – den Fokus auf die Erfahrungen und den Lebensraum von Personen, die als Experten für ihr Erleben gesehen werden, setzt (s. auch Leitthema des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde 2019).

Neue Ansatzpunkte und Konzepte jenseits der störungsspezifischen Psychotherapie

Der Erarbeitung und systematischen Prüfung störungsspezifischer Psychotherapien hat insbesondere die Psychiatrie und Psychosomatik die zunehmende Verbreitung psychotherapeutischer Behandlungsansätze zu verdanken. Grundlage hierfür war deren Manualisierung sowie Evidenzbasierung in einer Reihe von RCTs. Allerdings mangelt es trotz Einzug einzelner störungsspezifischer Programme in stationäre Behandlungspläne – z. B. KVT und IPT (interpersonelle Psychotherapie) zur Behandlung der Depression – insgesamt noch an einer breiten Implementierung im Versorgungsalltag. Hierfür dürfte neben der wachsenden Kritik an der traditionellen psychiatrischen Nosologie die unzureichende Berücksichtigung und Anpassung der störungsspezifischen Psychotherapien an Schweregrad, Komplexität und Komorbidität der psychischen Störungen verantwortlich sein. Patienten mit derselben psychischen Diagnose bilden trotz mehr oder weniger hoher phänomenologischer Ähnlichkeit keine homogene Krankheitsgruppe, sondern können hinsichtlich zugrunde liegender Krankheitsmechanismen und ätiologischer Faktoren sehr heterogen sein. Die Identifizierung von im Outcome unterschiedlichen Subtypen (z. B. mit und ohne frühe Traumatisierung [58]) sowie Komorbiditätsraten von bis zu 80 % (z. B. bei Depression) unterstreichen die Notwendigkeit von mehr Flexibilität und einem höheren Individualisierungsgrad im psychotherapeutischen Vorgehen.

Transdiagnostische Psychotherapien

Ein Weg in Richtung psychotherapeutische Angebote jenseits nosologischer Krankheitsentitäten sind transdiagnostische Psychotherapien. Beispielsweise zielt das für die emotionalen Störungen formulierte „Unified Protocol for the Transdiagnostic Treatment of Emotional Disorders“ auf gemeinsame Merkmale der negativen Affektivität bzw. des Neurotizismus bei Angststörungen, Zwangsstörungen und Depressionen [2]. Bei all diesen Störungen haben sich Techniken wie Achtsamkeitsübungen, Abbau der Vermeidung emotionaler Erfahrungen und kognitive Neubewertung als wirksam erwiesen [2].

Weitere transdiagnostische Psychotherapiemethoden im Sinne von „common elements treatment approaches“ beziehen sich auf Essstörungen [19] und traumaassoziierte psychische Störungen, bei denen sich Techniken wie Ressourcenaktivierung, kognitive Umstrukturierung und Expositionstechniken als wirksam erwiesen haben [61].

Research Domain Classification

Mit der Entwicklung der Research Domain Classification (RDoC) psychischer Erkrankungen wurde ein zweiter Weg des psychotherapeutischen Zugangs gebahnt, der jenseits aller nosologischen Bezüge psychologische und biologische Funktionsstörungen zum Target psychotherapeutischer Interventionen macht. Spezifische RDoC-Ansätze sind beispielsweise solche zur Emotionsregulation [48], die v. a. bei emotionalen Störungen, und solche zu sozial-kognitiven Funktionen, die z. B. bei schizophrenen Psychosen [25] zur Anwendung kommen. So konnte gezeigt werden, dass eine Verbesserung der Emotionsregulation zu einer Verbesserung der depressiven Symptomatik insgesamt führt [21].

Andere zunächst störungsspezifische Ansätze wurden in ihrem Indikationsspektrum schrittweise erweitert und auf die Beeinflussung weiterer Funktionsstörungen ausgerichtet. So hat die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) nicht nur bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung, sondern auch bei anderen psychischen Störungen wie bipolaren Störungen und Essstörungen, die sich um eine dysfunktionale Emotionsregulation gruppieren, Wirksamkeit gezeigt. In ähnlicher Weise erweitert sich derzeit der Indikationsbereich der mentalisierungsbasierten Therapie (MBT) auf Patienten mit Psychosen [9] und Depressionen, bei denen sozial-kognitive Störungen im Zusammenhang mit Bindungsproblemen im Zentrum stehen [4].

Die Weiterentwicklung einer funktionsorientierten Psychotherapie könnte sich vorzugweise auf zentrale Funktionsdomänen wie Selbstwert, Identität, Handlungskontrolle und Körperbild (neben der Affekt- und Stressregulation sowie sozialer Kognition) beziehen [32].

Mechanismen- oder prozessbasierte Psychotherapie

Eher als bei Diagnosen lassen sich bei Funktionsstörungen spezifische Mechanismen auf psychologischer und beginnend auch auf neuronaler Ebene identifizieren. Die sog. mechanismen- oder auch prozessbasierte Psychotherapie entspricht Alan E. Kazdins Empfehlungen zur Psychotherapieentwicklung [38], wonach in einem ersten Schritt die Mechanismen bzw. Prozesse zu identifizieren sind, die einer Störung, Subtypen von Störungen oder Funktionsstörungen zugrunde liegen, um hieraus relevante Veränderungsprozesse abzuleiten, die mit geeigneten Methoden messbar sind und einen Zusammenhang zu klinischer Verbesserung zeigen. Bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung zielen mechanismenbasierte Interventionen beispielsweise auf die gestörte Emotionsregulation als zentralen Störungsmechanismus und – der Idee einer Neuropsychotherapie [27] folgend – auf damit einhergehende präfrontolimbische Dysfunktionen als grundlegenden Pathomechanismus. Entsprechend konnte bei erfolgreichen Psychotherapien eine Zunahme des Volumens [44] und eine Normalisierung der Funktion im präfrontolimbischen Hirnnetzwerk beobachtet werden, was mit einer Verbesserung der Emotionsregulation sowie der Störung insgesamt einherging [47, 55].

In der internationalen Psychotherapieforschung fordern Hayes und Hofmann den gezielten Einbezug solcher „Kernprozesse“, welche auf der Grundlage testbarer Theorien durch Mediatoren- und Moderatorenanalysen identifiziert werden, um eine prozess-orientierte Therapie zu etablieren [28, 35]. Outcomestudien sollten daher nicht nur zu einer Aussage über die Wirksamkeit einer Intervention kommen, sondern vielmehr auch die Moderator- und Mediatorvariablen identifizieren, die vorhersehen helfen, wie bei wem positive Veränderungsprozesse initiiert werden können. Hayes und Hofmann legen in dem ersten Manual zur „process-based CBT“ dar, dass insbesondere Techniken aus der KVT und der Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT) diesen Anspruch erfüllen und gleichzeitig gut miteinander kombinierbar sind [28].

Outcomestudien sollten auch Moderator- und Mediatorvariablen identifizieren

Forschungsdesigns, die konsequent zunächst auf die Identifizierung von Störungsprozessen fokussieren, sind derzeit auf dem Weg, um hieraus Erfolg versprechende Interventionen abzuleiten, deren Wirksamkeit klinisch als auch bezogen auf die Normalisierung dieser Prozesse bzw. Mechanismen (wie z. B. unter Einbezug von Erwartungen [51] oder Biomarkern [32]) getestet werden.

Modulare Psychotherapie

Die modulare Psychotherapie beschreibt psychotherapeutische Programme, die sich aus eigenständigen funktionellen Einheiten (sog. Modulen) zusammensetzen, die untereinander vielfältig kombiniert werden können [12]. Ausgangspunkt modularer psychotherapeutischer Programme war die Beobachtung, dass Patienten mit komorbiden Störungen auf störungsspezifische Behandlungsprogramme eine schlechtere Response zeigen [52]. Modulare Psychotherapie entwickelt Kompositionen von Interventionen, die basierend auf der individuellen Fallkonzeption Techniken der allgemeinen Psychotherapie nutzt sowie solche, die validierten störungsspezifischen Programmen entnommen sind. Ziel ist die Veränderung von (sich ggf. selbst aufrechterhaltenden) Pathomechanismen sowie der Aufbau von Veränderungsmechanismen [6, 31].

Empirische Unterstützung erfuhr dieser modulare Ansatz v. a. durch die MATCH-Studie (Modular Approach to Therapy for Children), in die Kinder eingeschlossen wurden, die eine Kombination von Angststörungen und Depressionen, aber auch Störungen des Sozialverhaltens zeigten [62].

Während diese Ansätze einen hohen methodischen Komplexitätsgrad von Studiendesigns bei Wirksamkeitsprüfungen implizieren, ist der Implementationserfolg leichter zu erzielen, weil die hohe Flexibilität im Vorgehen die Anpassung an das jeweilige Behandlungssetting erleichtert [17]. Sie eignen sich in besonderer Weise für das psychiatrische Behandlungssetting, das auf wirksame Kurzinterventionen angewiesen ist [32]. Die Auswahl der Module erfolgt flexibel und bedarfsgerecht in Abhängigkeit von den individuellen Problemen des Patienten, seltener den Symptomen und zunehmend den Funktionsstörungen, die dem Leiden zugrunde liegen und auf der Verhaltensebene beobachtbar und messbar sind. Sie werden zu einem individuellen Programm zusammengestellt, das Algorithmen für die Reihenfolge in der Auswahl festlegt.

Ein Beispiel aus der Praxis: „CBASPersonalized“

Entsprechend dieser Herangehensweise wurde für die Behandlung komplex erkrankter persistierend depressiver Patienten, die Kindesmisshandlung erfahren haben (transdiagnostisches Einschlusskriterium), das individualisierte und modulare stationäre Psychotherapiekonzept CBASPersonalizedFootnote 1 konzeptualisiert [7, 54]. Das Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP) wurde ursprünglich als störungsspezifische Methode für die Behandlung von Patienten mit persistierenden depressiven Störungen (PDS) entwickelt und integriert Techniken aus verschiedenen Verfahren (Abb. 1). Bedingt durch sieben RCTs aus unterschiedlichen Arbeitsgruppen [46, 56] kann CBASP als „empirically supported treatment“ bezeichnet werden.

Da diese Studien jedoch auch zeigen, dass der Anteil an Nonrespondern und Nonremittern relativ hoch ist, der langfristige Verlauf optimierbar erscheint und es einen hohen Prozentanteil an Komorbiditäten unter Patienten mit PDS gibt, wurde CBASP um weitere bereits bewährte, also evidenzbasierte Techniken und Module in Abhängigkeit der individuellen Problematik ergänzt (z. B. Achtsamkeitsübungen und Skills bei Schwierigkeiten der Emotionsregulation, expositionsbasierte Techniken bei komorbiden Angststörungen und Missbrauchserfahrungen). Eine Studie, welche die Wirksamkeit einer solchen, an klassischen CBASP-Techniken ansetzenden „maßgeschneiderten Therapie“ (Abb. 1) mit der klassischen CBASP-Therapie vergleicht, ist in Planung.

Abb. 1
figure 1

Psychopathologische Ansatzpunkte, daran ansetzende klassische CBASP (Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy) -Techniken sowie die individualisierte Augmentation mit weiteren Techniken und Modulen gemäß vorliegender Problematik von CBASPersonalized

Vorschlag für innovative Psychotherapieforschung

Basierend auf den vorgestellten Konzepten plädieren wir zusammenfassend dafür, die Vision einer evidenz- und prozessbasierten individualisierten und modularen Psychotherapie zu verfolgen. In Abb. 2 ist unser Vorschlag eines umfassenden und visionären Forschungsprogramms für innovative Psychotherapieforschung zusammengefasst. Diesen Vorschlag werden wir im Folgenden erläutern.

Abb. 2
figure 2

Vorschlag eines Forschungsprogramms zur Erreichung einer evidenz- und prozessbasierten individualisierten und modularen Psychotherapie

Berücksichtigung biopsychosozialer Charakteristika jenseits der Diagnosen

Es werden Targets (also Ansatzpunkte) der Individualisierung bei der Wahl des therapeutischen Vorgehens jenseits der Syndrome und Störungen gesucht, welche im DSM (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) oder ICD (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) beschrieben werden. Dabei werden die Patienten als Individuen im Gesamtzusammenhang ihrer biologischen, psychologischen, geistigen, sozialen, ökonomischen, kulturellen und spirituellen Dimensionen betrachtet. Aufgrund der gesellschaftlichen Herausforderungen durch demographischen Wandel und Migration sollten Psychotherapien insbesondere speziell auf die Probleme und Bedürfnisse älterer bzw. hochbetagter Patienten sowie von Patienten mit Migrationshintergrund bzw. Geflüchteten abgestimmt werden.

Computationale Psychotherapie

Um ein tieferes Verständnis zu erhalten, wie es zu den individuellen psychischen Problemen kam, warum diese aufrechterhalten werden und wie bestimmte Therapien wirken, sollten die biopsychosozialen Prozesse bzw. Mechanismen theoriegeleitet untersucht werden. Bisher bestehen Erklärungsmodelle für psychische Störungen auf unterschiedlichen Ebenen (genetisch, molekular, kognitiv etc.), wobei ein Modell fehlt, welches die verschiedenen Ebenen verbindet und zu mechanistischen Erklärungen beiträgt. Sowohl zur konzeptionellen Formulierung von Prozessen als auch zur Entwicklung von Methoden zur Detektion individueller Krankheitsprozesse kann die computationale Psychotherapie [45] bzw. Psychiatrie [24] herangezogen werden. Insbesondere sollte zusätzlich zu nomothetischen Analysemethoden, welche bereits bei der personalisierten Medizin an die Grenzen kommen [23], idiographische Methoden (also die möglichst genaue Analyse von Einzelfällen auf der Basis vieler Daten von dem Individuum) genutzt werden, die sowohl bei der Individualisierung bereits wertvolle Ergebnisse geliefert haben als auch zu einem besseren Verständnis von Veränderungsmechanismen beitragen [22]. Auch wenn dieser Ansatz für Patienten sehr anspruchsvoll ist, da er langwierige Ecological-Momentary-Assessments(EMA)-Erhebungen beinhaltet und somit die multiple Erfassung von „real-time data“ in der „real world“ sowie auch während der Psychotherapiesitzungen („processes in session“) über eine längere Zeitperiode verlangt, erscheint der Aufwand wegen der gesteigerten Effektivität und des besseren Verständnisses der Wirkmechanismen gerechtfertigt (vgl. [29]).

Funktionsanalyse

Basierend auf den beiden vorherigen Schritten sollte anschließend ein individuelles, umfassendes Fallkonzept bzw. eine „functional analysis“ [34] entwickelt werden. Anhand dieser erfolgt die Auswahl des therapeutischen Vorgehens. Hierfür steht eine ganze Bandbreite an Techniken bzw. Modulen zur Verfügung, welche aus den evidenzbasierten Psychotherapieverfahren und den neueren teilweise bereits evidenzbasierten Methoden (wie ACT, DBT, CBASP, Schematherapie, achtsamkeitsbasierte Therapien, mentalisierungsbasierte Therapie, metakognitive Therapie) entnommen werden können [16]. Interessanterweise werden auch zunehmend Psychotherapiemethoden (wieder) eingeführt und beforscht, welche eher einem humanistischen und integrativen ganzheitlichen Menschenbild folgen. Dies betrifft u. a. Ansätze aus der positiven Psychologie wie z. B. die Well-being-Therapie [20]. Schließlich lässt sich eine (Wieder‑)Entdeckung der Bedeutung vom Körper in der Psychotherapie beobachten, was sicherlich im engen Zusammenhang mit dem Paradigmenwechsel „embodied turn“ bzw. „Embodiment“ innerhalb der Psychologie steht.

Psychotherapie als Teil eines Gesamtbehandlungsplans

Zudem sollte natürlich beachtet werden, dass Psychotherapie meist als Teil eines Gesamtbehandlungsplans untersucht wird (weshalb „psycho“ in Abb. 2 in Klammern gesetzt wurde), was v. a. bedeutet, dass die Kombination mit Psychopharmakotherapie in der Akut- und Erhaltungstherapie zu beachten und weiter zu beforschen ist. Wirksame und innovative Therapiestrategien beziehen zudem die Kombination oder Augmentation von Psychotherapie mit Stimulationsverfahren ein (vgl. [1, 8]).

Vorhersagemodelle

Die Auswahl der Techniken und Module sollte evidenzbasiert sein, was durch Metaanalysen zu Patientenmerkmalen als Outcomeprädiktoren bzw. Vorhersagemodelle (bestenfalls generiert durch Big Data) unterstützt werden kann. Ausgehend von den großen Datenpools sollen Algorithmen entwickelt werden, die Profile von Behandlungstechniken aufnehmen, die in erfolgreichen Psychotherapien in definierten Patientenpopulationen zur Anwendung kamen [49]. Um unter Einbezug mehrerer, individueller Faktoren von Patienten die Entscheidungsfindung für die optimale Therapieverfahren evidenzbasiert zu ermöglichen, wurde der Personalized Advantage Index (z. B. [15]) entwickelt. Dieses Modell, welches eine Vielzahl von Variablen vergleicht und gewichtet, wurde in einigen RCT-Studien bereits erfolgreich genutzt, um eine optimale Behandlung für einen Patienten vorherzusagen (Überblick in [13]). Auch bieten komplexe Netzwerkansätze die Möglichkeit, theoriegeleitete Prozesse, welche psychische Probleme auslösen oder aufrechterhalten, beim Individuum zu identifizieren und Vorhersagen über Erfolge verschiedener Behandlungsstrategien zu machen [29, 34].

Komplexe Netzwerkanalysen

Um einen allgemeinen Rahmen zu generieren, schlugen jüngst Hayes, Hofmann und Kollegen vor, die Problemanalyse durch komplexe Netzwerkanalysen mit sozialen/kulturellen evolutionswissenschaftlichen Prinzipien zu verbinden, was sie als „model of model“ bezeichnen. Prinzipien und Systeme wie Variation, Selektion, Retention sowie Kontext werden mit evolutionären Dimensionen (wie Affekt, Kognition, Aufmerksamkeit, Selbst, Motivation, Verhalten) und Ebenen (physiologisch und sozial/kulturell) verbunden und bieten somit unterschiedlichen therapeutischen Orientierungen eine übergeordnete theoretische Grundlage [29].

Feedback

Die Frage nach dem Zeitpunkt und der Dauer des Einsatzes bestimmter Techniken und Module tangiert die Frage nach der adaptiven Indikation. Der positive Effekt kontinuierlicher psychometrischer Erhebungen – am besten durch EMA unterstützt – und der Rückmeldung (Feedback) der aufbereiteten Informationen zum Therapiefortschritt wurde durch eine Vielzahl von Studien insbesondere für Risikopatienten gezeigt, welche in Gefahr sind, keine oder sogar eine negative Veränderung zu erfahren [40]. Daher sollte Psychotherapieforschung und -praxis zur Qualitätskontrolle und Optimierung anhand systematischer Therapieevaluationen Feedbackprozesse etablieren und implementieren, wie diese beispielsweise in der Arbeitsgruppe um Wolfgang Lutz vorbildlich entwickelt und evaluiert werden (vgl. Trier Treatment Navigator [43]).

Individualität des Therapeuten

Mehr Beachtung als bisher sollte in der Psychotherapieforschung der Person des Therapeuten geschenkt werden, da Studien darauf hinweisen, dass es beachtliche Therapeuteneffekte gibt (erklären ca. 2,4–8,2 % der Variabilität in den Ergebnissen [37]). Hier wäre Forschung wünschenswert, welche die therapeutische Beziehungsgestaltung experimentell variiert, um herauszufinden, welcher individuelle Therapeut zu welchem individuellen Patienten passt. Zudem sollte zukünftig besser verstanden werden, welche Eigenschaften die sog. „super-shrinks“ im Vergleich zu den „pseudo-shrinks“ haben [11], was auch für die Verbesserung der Aus- und Weiterbildung relevant ist.

Behandlungssetting

Die Forschungsfragen, in welchem Setting (vollstationär, tagesklinisch, ambulant) und in welcher Konstellation (Einzel, Gruppe, Paar, Familie, System) der individuelle Patient am effektivsten behandelt werden sollte, ist nicht zuletzt bedingt durch den Kosten-Nutzen-Aspekt auch von gesundheitspolitischer Relevanz. Zudem wissen wir mittlerweile, dass viele internet- und mobilbasierte Interventionen (IMIs) wirksam sind [39]. Auch aus einer Kosten-Effektivitäts-Perspektive erscheinen Blended-Interventionen vielversprechend, welche die Stärken der Face-to-face-Psychotherapien mit denen von IMIs kombinieren [18]. Es fehlt jedoch noch ein Verständnis darüber, welche Patienten von den IMIs insbesondere profitieren (und welche eher nicht).

Neue Outcome-Maße

Schließlich gilt es, auch unsere „primary“ und „secondary“ Outcomes zu erweitern und zu überdenken: Das einseitige Fokussieren auf die Reduktion der Symptomatologie erscheint als Hauptendpunkt bei diesem Paradigma wenig sinnvoll; vielmehr sollten genau die transdiagnostischen Targets und Prozesse, welche bei der Fallkonzeptualisierung identifiziert wurden, auch als positive Outcomes und Ziele fungieren. Zudem erscheint eine generelle Neuorientierung bei der Feststellung von Therapieeffekten zukunftsweisend. Statt der Messung der Therapieeffekte auf Skalenebene sollten (auch) die Item- und Personenebenen einschließlich der neuen Methoden zu symptomspezifischen Analysen einbezogen werden [5].

Schließlich gilt es, die jahrzehntelang in der Psychotherapie vernachlässigte Nebenwirkungsorientierung aufzugreifen, indem die negativen Effekte (Nebenwirkungen sowie unethisches Verhalten und Kunstfehler) im Prozess erfasst werden, um Psychotherapien nebenwirkungsärmer durchzuführen [33, 42].

Zusammenfassung und Ausblick

In diesem Beitrag haben wir ein Konzept zukünftiger innovativer Psychotherapieforschung eingeführt, welches das Ziel einer evidenz- und prozessbasierten individualisierten und modularen Psychotherapie verfolgt. Damit haben wir eine Vision skizziert, welche komplexe, methodisch anspruchsvolle und translationale Forschungsprogramme erfordert. Wissenschaftler (und Praktiker) haben sich jedoch schon „auf den Weg“ gemacht, da etliche bereits zur Beantwortung einiger der in Abb. 2 aufgeworfenen Forschungsfragen beigetragen haben. Viele dieser bereits publizierten Studien werden jedoch noch durch theoretische und methodische Limitationen eingeschränkt, was zur Folge hat, dass die meisten Ansätze und bereits publizierten Manuale noch nicht gut untersucht, sprich empirisch untermauert oder gar evidenzbasiert sind.

Zukünftige Studien müssen sich von Diagnosen als Einschlusskriterien lösen

Wir sind jedoch der Überzeugung, dass sich dieser Weg jenseits der Verfahrensorientierung und jenseits der „Pferderennen-Studien im Elfenbeinturm“ lohnt. Dafür benötigen wir zukünftig Studien, welche sich von den Diagnosen als Einschlusskriterien lösen und stattdessen an dem individuellen Patienten und seinem Bedarf orientiert sind und den Evidenznachweis hierauf gründen (was übrigens bereits Grawe 1998 [26] gefordert hat). Wir benötigen Studien, welche designt bzw. gepowert sind, um wirklich die zentralen Prozesse bzw. Wirkmechanismen (Moderatoren und Mediatoren) und wirksamen Komponenten untersuchen zu können (statt der absoluten oder relativen Wirksamkeit) und auf diese Weise zur Selektion geeigneter Techniken und Module für den individuellen Behandlungsplan beitragen. Wir benötigen Studien, welche translational große Datensätze (Big Data) generieren, die durch die Anwendung moderner statistischer Verfahren (wie maschinelles Lernen, komplexe Netzwerkanalysen, idiographische Methoden) wertvolle Ergebnisse zur Individualisierung bzw. Personenzentrierung und zu den zugrunde liegenden Prozessen und Wirkmechanismen der Psychotherapie liefern. Wir benötigen nicht zuletzt Studien, welche die Kluft zwischen Forschung und Praxis mindern und damit dem derzeit zu Recht ins Zentrum der Forschung rückende Paradigma der praxisbezogenen Forschung („practice research network“ [10]) Rechnung tragen.

Wenn es der Psychotherapieforschung zukünftig gelingt, eine Taxonomie evidenzbasierter Prozesse im Zusammenhang mit evidenzbasierten Techniken und Modulen zu erstellen, kann so statt der unseres Erachtens nicht mehr zeitgemäßen verfahrensorientierten Psychotherapieausbildung eine kompetenzorientierte Psychotherapiequalifikation in der psychotherapeutischen Aus- und Weiterbildung Einzug halten [51]. Wir sehen durch die Novellierung des Psychotherapeutengesetzes mit Neustrukturierung der Aus- und Weiterbildung in Deutschland eine Unterstützung dieses Ansatzes, da im am 26.09.2019 verabschiedeten Gesetz bzgl. des Masterstudiengangs mit Approbation eine „Verfahrensbreite und altersspannenübergreifende psychotherapeutische Qualifikation“ (S. 2) sowie eine Befähigung zur Mitwirkung an der „Weiterentwicklung von psychotherapeutischen Verfahren“ (S. 13, §7.1) gefordert wird. Auch tragen Änderungen bei der deutschen Musterweiterbildungsordnung der Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie dazu bei, dass diese nicht mehr länger nur in Richtlinienverfahren, sondern auch in evidenzbasierten Kurzinterventionen bzw. einzelnen Techniken und Modulen weitergebildet werden. Durch eine kompetente Vermittlung evidenzbasierter Prozesse und Methoden kann eine zukunftsweisende Expertise in der Anwendung einer individualisierten und modularen Psychotherapie erworben werden.

Fazit für die Praxis

  • Psychotherapie ist nachweislich wirksam für den Durchschnittspatienten unserer „Elfenbeinturm-Studien“. Für den individuellen Patienten in der Praxis muss die Psychotherapie (also v. a. die Auswahl der Techniken und Module, jedoch auch des Settings, des Therapeuten etc.) noch besser auf die individuellen Probleme und zugrunde liegenden Prozesse abgestimmt werden.

  • Da Psychotherapierende die Wirksamkeit ihrer jeweiligen Psychotherapie „dank“ des Positiv-Bias überschätzen und insbesondere negative Verläufe schlecht erkennen, bedarf es evidenzbasierter Heurismen für die Auswahl der jeweiligen Techniken und Module sowie eines Feedbacksystems, welches aus Routinedaten lernend den Therapierenden bei Entscheidungen unterstützt und auf negative Verläufe aufmerksam macht.

  • Unsere Vision zukünftiger Psychotherapieforschung zielt deshalb auf eine evidenz- und prozessbasierte individualisierte und modulare Psychotherapie ab.