Es sind am 16.10.2021 genau 175 Jahre vergangen, seit im „Ätherdom“ des Massachusetts General Hospital (MGH) in Boston von dem Zahnarzt William T.G. Morton die erste öffentliche Narkose mit Schwefeläther erfolgreich zur chirurgischen Entfernung eines Halstumors durchgeführt wurde. Man erkannte das enorme Potenzial für den Patienten, und die Ärzte mussten nicht mehr auf die bis dahin gebräuchliche Fesselung des Patienten zur Ermöglichung der durchzuführenden Operation zurückgreifen. Während der Patient vorher nur auf eine durch den Operationsschmerz ausgelöste Ohnmacht hoffen konnte, erlaubte es die Äthernarkose, gezielt vor der Operation eine Bewusstlosigkeit herbeizuführen und damit unerträgliche und traumatisierende Schmerzempfindungen zu vermeiden. Sir Oliver Wendell, Arzt und Universalgelehrter, schlug für diese geplant medikamentös herbeigeführte Bewusstlosigkeit einen Monat später den Begriff „anaesthesia“ vor. Hieraus hat sich bis heute das Fach „Anästhesiologie“ mit seinen Säulen Anästhesie, Intensivmedizin, Notfall‑, Schmerz- und Palliativmedizin entwickelt. Anästhesisten betreuen heute Patienten während der prähospitalen Erstversorgung, in der Notaufnahme und im OP sowie postoperativ auf der Intensivstation oder im Rahmen der Schmerztherapie. Inzwischen durchlaufen 15–20 % aller Krankenhausärzte die Facharztausbildung für Anästhesiologie und ergänzen diese durch verschiedenste Zusatzweiterbildungen in den einzelnen von uns betreuten Bereichen. Wahrhaft ein Siegeszug der Anästhesie – ermöglicht durch die erste öffentliche Äthernarkose am 16.10.1846! Ein Meilenstein der Humanität!

Aber haben wir damit – aus heutiger Sicht – all unsere Ziele erreicht? Nein, sicherlich nicht. In der vorliegenden Ausgabe der Fachzeitschrift Der Anaesthesist wird das Erreichte in zwei Leitthemenbeiträgen kritisch hinterfragt.

Haben wir – aus heutiger Sicht – all unsere Ziele erreicht? Nein, sicherlich nicht

In dem Beitrag von Lewandowski et al. wird von einem „Menschenrecht auf Ohnmacht“ gesprochen und zwar für Patienten aller Altersklassen und für alle Krankheitssituationen, in der Neonatologie ebenso wie bei zu Reanimierenden und Sterbenden [1]. Die Autoren tragen medizinische, ethische, philosophische und juristische Aspekte zusammen, die aus verschiedenen Blickwinkeln das „Menschenrecht auf Ohnmacht“ darlegen und verdeutlichen, dass die bis ins 16. Jh. reichende, alte Vorstellung „Schmerz als Strafe für Sünde“ – jedenfalls im westlichen Kulturkreis – endgültig ihre Bedeutung verloren hat. Die Autoren beschreiben darüber hinaus sehr nachdrücklich, dass dieses Recht auf Narkose für die Mehrheit der Weltbevölkerung, nämlich für 5 der 8 Mrd. Menschen, eine Vision darstellt. Immer noch stellt fehlende Anästhesiekapazität eines der wichtigsten Hindernisse für eine flächendeckende notfallmäßige und lebenserhaltende chirurgische Versorgung dar. Häufig migriert das in armen Ländern ausgebildete medizinische Personal in Länder mit hohem Einkommen, was letztlich den in weniger entwickelten Ländern lebenden Menschen den Zugang zur ärztlichen Versorgung partiell unmöglich macht. Es gilt, die Vision des „Menschenrechts auf Ohnmacht“ für alle Menschen zur Realität werden zu lassen.

Die zweite sich in dieser Ausgabe mit dem Thema beschäftigende Arbeit von Petermann et al. beschreibt den Weg von der Äthernarkose zur modernen Narkose mit Inhalationsanästhetika und hinterfragt daran anschließend den heutigen Stellenwert der inhalativen Anästhetika [2]. Sie schildert die rasante Verbreitung der Nachricht, durch Äther eine Ohnmacht und damit eine sensorische Unempfindlichkeit gegenüber chirurgischen Schmerzen gezielt herbeizuführen, und auch das Auftreten von ersten Todesfällen. Es wird dargestellt, dass der die Narkose durchführende Anästhesist für die Aufrechterhaltung aller Vitalfunktionen verantwortlich ist und sich hierbei alsbald auch verschiedenster technischer Hilfsmittel bedient. Ab Mitte des vorigen Jahrhunderts werden sog. moderne Inhalationsanästhetika über Vaporen mit immer komplexer und digitaler werdenden Narkosegeräten verabreicht. Versorgungs- und Durchführungsqualität ermöglichen eine immer höhere Patientensicherheit. Während die Äthertropfnarkose noch zu einer anästhesiebedingten Sterblichkeit von 1:14.000 führte, liegt heute die anästhesiebedingte Letalität bei ca. 1:100.000 und das bei immer komplexer werden Operationen und einem immer ausgeprägter vorerkrankten Patientenkollektiv. Petermann et al. widmen sich in ihrem Beitrag aber nicht nur der Entwicklung der Vollnarkose in Deutschland, sondern sie diskutieren kritisch die künftige Nutzung von Inhalationsanästhetika aufgrund deren klimaschädigenden Potenzials.

Beide Beiträge regen dazu an innezuhalten, kritisch den Status quo zu reflektieren, neue Fragestellungen zu erarbeiten und wissenschaftlich anzugehen. Hierbei können die von der DGAI kürzlich veröffentlichten 10 Kernaussagen als Leitplanken dienen [3]. Die Anästhesiologie und damit jeder Einzelne von uns ist aufgefordert, weiterhin und kontinuierlich – auch unter Berücksichtigung von Umweltaspekten – neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu generieren und Wege der Translation zum Wohle unserer Patienten weltweit unabhängig vom sozialen Umfeld oder dem Bruttosozialprodukt eines Landes zu suchen. Es gilt, die Anästhesiologie mithilfe der unterschiedlichsten Strategien wie Grundlagenforschung, klinischer Forschung, Organunterstützungsverfahren, künstlicher Intelligenz, Anästhetika- und Monitorentwicklungen noch sicherer zu gestalten und – 175 Jahre nach dem Beginn eines neuen Zeitalters in der Medizin – mehr denn je Lobbyarbeit für ein weltweites, alle Menschen einschließendes „Menschenrecht auf Ohnmacht“ zu leisten.