Der beste Titel für ein Editorial über Leitlinien im Jahr 2013 wäre die Alliteration gewesen „Vom Leid mit den Leitlinien“. Aber diese Überschrift wäre ein Plagiat geworden, würde man die Quelle nicht zitieren [1]. Wie bereits in den Jahren zuvor [15, 16, 17] widmet sich das letzte Heft des Jahres von Herz/Cardiovascular Diseases dem Update ausgewählter Leitlinien. Die Autoren der Beiträge sollten sich auch im Jahr 2013 an den stets aktuellen Fragen orientieren: Was ist neu? Was hat sich bewährt in diversen kardiologischen Disziplinen? Denn Leitlinien sind bekanntermaßen Konsensusdokumente, die Empfehlungen für Ärzte und Patienten zu Prävention, Diagnostik und Therapie von Erkrankungen enthalten. Natürlich sollten sie wissenschaftlich gegründet sein auf Studienergebnisse, Meta- und Cochrane-Analysen, am besten auf viele randomisierte, kontrollierte oder doppelblinde Studien (RCT), oder den Konsens maßgeblicher Experten mit absehbaren Auswirkungen auf Verordnungsverhalten und deren Vergütung [14]. Sie sind heute für viele Lehrbuchersatz und Handlungsanweisung für den Alltag, können aber auch zur „Fessel“ entarten, wenn sie ärztliche Behandlungsfreiheit strangulieren [16].

Leitlinien sind für viele Lehrbuchersatz und Handlungsanweisung für den Alltag, können aber auch zur „Fessel“ entarten

Die Zahl der veröffentlichten Leitlinien geht in die Tausende. Allein die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) zählt auf ihrer Homepage 451 S1-, 46 S2-, 92 S2k- und 122 S3-Leitlinien [2]. Die überwiegende Zahl sind S1-Leitlinien, d. h. von einer Expertengruppe im informellen Konsens erarbeitet. S2k heißt, dass eine formale Konsensfindung stattgefunden hat; S2e beschreibt eine systematische „Evidenz“-Recherche als Grundlage. Für eine S3-Leitlinie sind eine systematische Entwicklung mit Logik-, Entscheidungs- und „Outcome“-Analyse, Bewertung der klinischen Relevanz wissenschaftlicher Studien und regelmäßige Überprüfung Voraussetzung. Die methodische Qualität einer S3-Leitlinie ist somit am höchsten einzuschätzen. Aber knapp 70% aller Leitlinien der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften sind S1-Leitlinien. Die Leitlinien in der internationalen Kardiologie kommen heute von den großen Fachgesellschaften wie der European Society of Cardiology (ESC), der American Heart Association (AHA) und dem American College of Cardiology (ACC). Auch ihre Zahl bewegt sich mit regelmäßigen Updates, Scientific Statements, sowie Positionspapieren im 3-stelligen Bereich. Die ESC-Leitlinien unterscheiden 3 Evidenzgrade [„level of evidence A” (“data from multiple randomized trials or meta-analyses”), B (“data from a single randomized clinical trial or large non-randomized studies”), C (“consensus of experts or small studies and registries“)]. Sie geben danach Empfehlungen unterschiedlicher Abstufung ab („classes of recommendation”: I =“general agreement that beneficial and effective”; II =“conflicting evidence a) in favour of usefulness, b) less well established usefulness; III =“not useful, possibly harmful“). Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK) beschränkt sich heute überwiegend auf ausführliche Kommentare zu den Leitlinien der ESC, an denen auch ihre Vertreter teilgenommen haben (http://leitlinien.dgk.org/ [8]). Pointierte Kommentare sind natürlich hilfreich für den Alltag, ebenso auch die bewährten „Pocket Guidelines“ der ESC und ihrer Mitgliedsländer.

Einige wichtige Leitlinien der letzten 2 Jahre auf den Alltag herunterzubrechen und als Behandlungspfade umzumünzen, das ist und war das Anliegen der Leitlinienhefte von Herz bis heute.

Pöss, Link und Böhm filtern aus der ESC-Leitlinie zur Herzinsuffizienz von 2012 folgende Erkenntnisse aus einem 60 Seiten starken Dokument: Mit der EMPHASIS-HF-Studie sind Mineralokortikoidrezeptorantagonisten nun in allen Stadien der unter Betablockade und ACE-Hemmer-Therapie symptomatischen Herzinsuffizienz indiziert. Nach den Ergebnissen der SHIFT-Studie können Patienten mit einer Herzinsuffizienz der NYHA-Stadien II–IV und einer Ejektionsfraktion von wenigerals 35% bei einem Sinusrhythmus über 70/min leitlinienkonform mit Ivabradin (Procoralan®) behandelt werden. Die RAFT-Studie erweiterte die Indikation für die Implantation von biventrikulären Herzschrittmachern, den sog. CRT-Systemen.

Vafaie und Katus heben bei der dritten Version der „Universellen Definition des akuten Myokardinfarkts“ der ESC aus dem Jahr 2012 hervor, dass die Änderungen vor allem modifizierte Kriterien zur EKG-Befundung und der kardialen Bildgebung sowie veränderte Kriterien der Infarktsubtypen unter Anwendung hochsensitiver Troponin-Assays betreffen.

Mangner und Schuler betonen bei der 2012 veröffentlichten, erstmalig gemeinsamen Leitlinie der ESC und der Europäischen Vereinigung für Herz-Thorax-Chirurgie (EACTS) zur Behandlung valvulärer Herzerkrankungen die Bedeutung eines „Heart Teams“ aus Kardiologen und Herzchirurgen bei der interventionellen Behandlung von Klappenvitien, besonders beim transfemoralen und transapikalen Aortenklappenersatz. Bei Mitralinsuffizienz bleibt die herzchirurgische Rekonstruktion die Methode der Wahl, wobei die perkutane Mitralklappenrekonstruktion mittels MitraClip® als eine Alternative für Hochrisikopatienten dargestellt wird.

Gohlke arbeitet mit großer Sorgfalt wesentliche Neuerungen der 2012 von 9 Fachgesellschaften getragenen Leitlinie zur Prävention heraus. Das 10-jährige Risiko für kardiovaskulären Tod wurde in 4 Risikoklassen eingeteilt und der Zielwert für LDL für die kardiovaskuläre Risikogruppe auf unter 70 mg/dl (1,8 mmol/l) festgelegt. Zu Recht weist er darauf hin, dass Prävention im Alltag auch von der Motivation der Patienten und der sie betreuenden Ärzte lebt.

Grebe und Sternitzky besprechen die aktuellen Leitlinien zur peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK). Die interventionelle Behandlung wird mit Ausnahme sehr langstreckiger, komplexer Gefäßläsionen der Becken- und Beingefäße als Revaskularisationsverfahren der 1. Wahl angesehen. Neben der bewährten Thrombozytenfunktionshemmung zur Reduktion des Herzinfarkt- und Schlaganfallrisikos wird der Wert einer konsequenten Behandlung mit Statinen, die Standard bei der koronaren Herzerkrankung (KHK) sind, auch für pAVK-Patienten herausgestrichen.

Pankuweit und Maisch beleuchten das 2013 erschienene Positionspapier der ESC Working Group Myocardial and Pericardial Diseases zum Management der entzündlichen Herzerkrankungen. Ziel war es, die Lücke zwischen der klinischen Verdachtsdiagnose einer Myokarditis und immunhistochemischen und molekularbiologischen Ergebnissen zu schließen. Dies ist mit dem einheitlichen, europaweit von Experten akzeptierten Konzept zur essenziellen Diagnostik und Behandlung gut gelungen und dürfte die Voraussetzung für nationale sowie internationale Register und doppelblind randomisierte Therapiestudien zur ätiologisch differenzierten Behandlung der Myokarditis werden.

Diese Beiträge zeigen die positive Seite der Leitlinien, d. h. die Freude, die Herausgeber und Leser mit den aktuellen Leitlinien haben. Den Autoren ist für ihre Beiträge ausdrücklich zu danken. Aber in diesem Jahr gibt es weitere, bohrende Fragen.

Wie brandneu, auf den Kongressen meist als „late breaking trials“ annonciert, dürfen die Studien sein, um Eingang in Leitlinien zu finden?

Bei neuen Medikamenten bemühen sich pharmazeutische Unternehmen nach der Zulassung darum, dass sie in den Leitlinien der Fachgesellschaften empfohlen werden. Das beeinflusst das Verordnungsverhalten der Ärzte und garantiert hohe Umsätze. Dazu 2 aktuelle Beispiele:

  • Dronedaron: Das Antiarrhythmikum Multaq® wurde Ende 2009 in der Europäischen Union zugelassen. Die ATHENA-Studie hatte eine 24%ige Reduktion des Endpunkts einer kardiovaskulär bedingten Mortalität oder stationären Behandlung dieser placebokontrollierten Studie mit 4628 Patienten ergeben [11]. Bereits 8 Monate später wurde es von der ESC mit dem Empfehlungsgrad 1A als das am besten geeignete Medikament zur Rhythmuskontrolle bei paroxysmalem oder persistierendem Vorhofflimmern empfohlen [4]. Ein Jahr später wurden vermehrt Leberschäden bekannt, und seine Wirkung wurde ungleich schwächer eingestuft als die von Amiodaron. Im neuesten Update der ESC-Leitlinie zum Management von Vorhofflimmern wurde der mit so vielen Vorschusslorbeeren bedachte Na- und K-Kanal-Blocker mit antiadrenergen und kalziumantagonistischen Eigenschaften nach Abbruch der PALLAS-Studie [7] auf den Einsatz bei Patienten zum Erhalt des Sinusrhythmus nach spontaner oder elektrischer Kardioversion herabgestuft [5]. Das entsprach dem Abstieg von einem potenziellen Blockbuster zum Nischenprodukt. Denn wer kann schon abschätzen, wie oft paroxysmales Vorhofflimmern unter einem neuen Antiarrhythmikum wirklich rezidiviert und dann zum jetzt für das Medikament verbotenen permanenten oder persistierenden Vorhofflimmern mutiert?

  • NOAK – die neuen oralen Antikoagulanzien: Die Empfehlung der ESC, den neuen oralen Gerinnungshemmern Apixaban (Eliquis®), Rivaroxaban (Xarelto®) und Dabigatran (Pradaxa®) bei Vorhofflimmern mit einem CHA2DS2-Score über 1 (Empfehlungsstufe 1A) den Vorzug vor den seit Jahrzehnten etablierten Vitamin-K-Antagonisten Warfarin und Marcumar [4, 5] zu geben, wird durch die Nachricht vermehrter Blutungen insbesondere von Rivaroxaban in Frage gestellt [22] und hat das BfArM zu einer eigenen Mitteilung über die NOAK Eliquis®, Pradaxa® und Xarelto® veranlasst: Es bestehe bei den NOAK „ein signifikantes Risiko, dass schwere Blutungsereignisse, auch mit Todesfolge, auftreten“. Die Kritik richtete sich auch an Ärzte, die diese Gerinnungshemmer einsetzen: „Erfahrungen seit Markteinführung deuten darauf hin, dass nicht alle verordnenden Ärzte die Fachinformationen hinsichtlich des Managements von Blutungsrisiken gut genug kennen“ [1]. Die Aktie der Firma Bayer verlor auf diese Nachricht hin 1,5% an Wert. Dazu sei eine Beobachtung am Rande zitiert: „Im Falle von Eliquis® kam die 1A-Empfehlung sogar drei Monate vor der Zulassung für diese Indikation“ [1]. Aus diesem Grund warten die Herausgeber der Leitlinienhefte von Herz weitere Updates zum Vorhofflimmern ab, bevor sie in Herz besprochen werden.

    Wie objektiv sind die Studien, auf die sich Leitlinien stützen, wirklich?

Die ESC-Leitlinie aus dem Jahr 2009 zum prä- und perioperativen Management nichtkardialer chirurgischer Maßnahmen, deren Erstautor Don Poldermans ist, stand bereits 2010 in der Kritik [20]. Die Metaanalyse, die zur Empfehlung einer perioperativen Betablockergabe in der Leitlinie führte, war durch die gleichfalls von Poldermans als „lead author“ zu verantwortenden DECREASE-Studien beeinflusst [19, 21], die mehrere Unregelmäßigkeiten aufwiesen [13]. Der Hinweis der „Whistleblower“ [12, 13] lässt sich im American Journal of Medicine nachlesen [6], das auch Poldermans die Gelegenheit zur Stellungnahme einräumte [18]. Das Verfahren der Erasmus-Universität war sorgfältig und transparent und kann im Internet nachgelesen werden [9, 10]. Poldermans ist heute nicht mehr an der Rotterdamer Universität tätig. Die ursprünglichen Veröffentlichungen wurden zwar (noch) nicht zurückgezogen, aber die Herausgeber der betroffenen Journale haben einen „Letter of Concern“ dazu veröffentlicht. Seit Juli 2013 gibt es von Bouri et al. in Heart eine Metaanalyse der Studien zur kontrollierten perioperativen Betablockade bei nichtkardialen Operationen ohne Poldermans DECREASE-Studien, die die Empfehlungen der ESC zur perioperativen Betablockade konterkariert [3]. Sie hat einige Internet-Medien (u. a. Forbes Magazine) zur Schlussfolgerung veranlasst, dass diese Behandlungsempfehlung möglicherweise den Tod von Tausenden betroffener Patienten verursacht haben könnte [12, 13]. Das ist die Kehrseite der Medaille: Das Leid mit den Leitlinien!

Unser Resümee und Wunsch an der Schwelle zum Jahr 2014: Bleiben Sie aufmerksam und kritisch, nicht nur beim Lesen und bei der Interpretation der Leitlinien!

B. Maisch

R. Dörr