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Im Dickicht der Zeichen Hodegetik — Hermeneutik — Dekonstruktion

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Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Der Aufsatz führt den Begriff des ‚Deutungsrahmens‘ ein, der als eine sozio-kulturelle Orientierung den individuellen Lektürevorgang weitgehend vorprägt. Solche soziokulturellen Rahmungen des Lesens, die an bestimmte Institutionen gekoppelt sind, werden bis in die Antike zurückverfolgt. Als Kriterium der Differenzierung wird dabei nach den unterschiedlichen Instanzen gefragt, die am Lektüreprozeß beteiligt sind. Unter den Bedingungen heuristischer Vereinfachung läßt sich die historische, aber nicht einsinnige Abfolge von einer dreistelligen Konstellation (Hodegetik: Text, Leser, Wegweiser) über eine zweistellige Konstellation (Hermeneutik: Text, Leser) zu einer einstelligen Konstellation (Dekonstruktion: Text) ermitteln. Damit fällt auch ein neues Licht auf die gegenwärtige Krise der Hermeneutik, die hier in einem größeren historischen Horizont erscheint.

Abstract

The paper introduces the concept of a‘ reading frame’ which guides individual reading processes as a socio-cultural orientation. Three frames of reading are reconstructed in a historical survey that goes back to the first century of the common era. What is widely considered as the normal scenario in reading — the interaction betweren a text and the reader — proves to be an inadequate model for pre- and postmodern times. In the premodern era, it was the supposed incompetence of the reader that had to be supplemented by a tutorial co-reader (the greek word‘ hodegetes’ means‘ guide’), in the postmodern era, the authority of the reader has collapsed into a text that has transgressed its boundaries and transcended its communicative status. Thus, the current crisis of hermeneutics is seen in a larger historical prespective that may help to widen the present preception in that it reconstructs and recalls alternative frames of reading.

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Literature

  1. Dieser Aufsatz ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Konstanzer Antrittsvorlesung vom 30.1.1994, die von verschiedenen Diskussionsrunden (in St. Gallen, Heidelberg und Konstanz) profitieren konnte. Anregungen, Ergänzungen und Korrekturen, die ich dankbar aufgenommen habe, sind in den Text eingegangen. — Ein erster Entwurf dieses Vortrags wurde im Juni 1993 am Deutsch-Amerikanischen Institut in Heidelberg vorgetragen. Anlaß war ein Kolloquium zu Ehren von Geoffrey Hartman, das Jakob Köllhofer organisierte, bei dem auch Christel Zahlmann anwesend war, deren Andenken dieser Text gewidmet ist. — Tilman Borsche hat sich aus philosophischer Perspektive mit den Thesen dieses Beitrags auseinandergesetzt in: „Individualität und Negativität des Verstehens“, in: Denken der Individualität. Festschrift für Josef Simon zum 65. Geburtstag, hg. v. Thomas Sören Hoffmann und Stefan Majetschak, Berlin, New York 1995, 309–324.

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In Erinnerung an Christel Zahlmann, 1956–1994

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Assmann, A. Im Dickicht der Zeichen Hodegetik — Hermeneutik — Dekonstruktion. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 70, 535–551 (1996). https://doi.org/10.1007/BF03375591

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