Zusammenfassung
Geschichtswissenschaft ist heute — bekanntlich, wie ich hoffe — nicht einfach mehr (natürlich geistige) „Rekonstruktion der Vergangenheit“,2 sondern einerseits gezielte Vermittlung zwischen Gegenwart und Vergangenheit, nämlich Erforschung der Vergangenheit gemäß den heutigen Interessen und für die heutigen Menschen, zum andern, bei allem Bemühen um Objektivität, Quellenkritik, Angemessenheit und Berücksichtigung damaliger Verhältnisse und Denkweisen, „Konstruktion“ eines unseren Bedürfhissen und Interessen entsprechenden Geschichtsbildes. Ich vermeide bewusst die Formel „Konstruktion der Vergangenheit“, weil das erstens schon begrifflich unlogisch ist — die Vergangenheit an sich können spätere nicht mehr „konstruieren“ -; zweitens um weiterhin zwischen dem vergangenen Geschehen und dem, was die spätere Geschichtswissenschaft daraus macht, also dem wissenschaftlichen Geschichtsbild, unterscheiden zu können, wende mich also gegen eine Geschichtsdefinition, die gleich von der verarbeiteten oder bewusst gemachten Vergangenheit ausgeht;3 drittens um, wie noch darzulegen ist, nicht den im Begriff der „Konstruktion“ möglicherweise inhärenten und von der so genannten „postmodernen“ Herausforderung gestärkten Eindruck einer Beliebigkeit oder „Fiktionalität“ und damit einer Unwissenschaftlichkeit der Geschichtswissenschaft zu erwecken:4 Die „Konstruktion eines Geschichtsbildes“ erfolgt selbstverständlich nach methodischen Prinzipien.
Für den Druck und anlässlich der Gedenkschrift für Peter Borowsky ausgearbeiteter Vortrag im Rahmen einer Ringvorlesung über die „Geschichtswissenschaft in Hamburg“, der seinerseits auf einer Vorlesung „Einführung in die Theorie und Methoden der Geschichtswissenschaft“ beruht.
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Literature
So noch Jörn Rüsen: Rekonstruktion der Vergangenheit. Grundzüge einer Historik II: Die Prinzipien der historischen Forschung. Göttingen 1986.
Demgegenüber Chris Lorenz: Konstruktion der Vergangenheit. Eine Einführung in die Geschichtstheorie (Beiträge zur Geschichtskultur 13). Köln-Weimar-Wien 1997.
Vgl. etwa Jörn Rüsen: Historische Vernunft. Grundzüge einer Historik I: Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen 1983, 59: „Geschichte wird die Vergangenheit erst, wenn sie als solche gedeutet wird“;
Rudolf Vierhaus: Über die Gegenwärtigkeit der Geschichte und die Geschichtlichkeit der Gegenwart (Vortragsreihe der niedersächsischen Landesregierung zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Niedersachsen 59). Göttingen 1978, 17: „Geschichte ist nicht einfach das vergangene Geschehen, sondern dessen Zusammenhang im Horizont gegenwärtigen Wissens und Verstehens“; am bekanntesten ist die Definition Johan Huizingas: Wege der Kulturgeschichte. München 1930 (Nachdruck 1961), 86: „Geschichte ist die geistige Form, in der sich eine Kultur über ihre Vergangenheit Rechenschaft gibt“.
Vgl. Hayden White: Tropics of Discourse: Essays in Cultural Criticism (A Johns Hopkins paperback). 6. Aufl. Baltimore 1994, deutsche Fassung unter dem bezeichnenden Titel: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses (Sprache und Geschichte 10). Stuttgart 1986. Vgl. ders.: Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe. Baltimore-London 1973, dt.: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt/Main 1991. Dazu: Hayden White’s Metahistory twenty years after. In: Storia della storiografia 25 (1994), 3–152.
Ferner: Johannes Fried: Wissenschaft und Phantasie. Das Beispiel der Geschichte. In: Historische Zeitschrift 263 (1996), 291–316. Zu Hayden White vgl. den Beitrag von Rainer Unruh in diesem Band. Zur „postmodernen’4 Herausforderung vgl. Richard Evans: In Defense of History. London 1997, dt.: Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis. Frankfiirt/Main-New York 1998; Otto Gerhard Oexle: Im Archiv der Fiktionen. In: Rechtshistorisches Journal 18 (1999), 511–525; ders.: Kultur, Kulturwissenschaft, Historische Kulturwissenschaft. Überlegungen zur kulturwissenschaftlichen Wende. In: Mediävistik als Kulturwissenschaft? Hg. von Hans-Werner Goetz (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 5). Berlin 2000, 13–33.
Johann Gustav Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte. Hg. von Rudolf Hübner. 2. Aufl. München-Berlin 1943, Grundriss, 317–366, § 20, 332.
Rüsen: Rekonstruktion der Vergangenheit (Anm. 2), 102.
Leopold von Ranke: Sämtliche Werke. Bd. 33/34. Leipzig 1877, VII.
Vgl. Lorenz (Anm. 2), 17ff.
Der Begriff ist jünger, als man annehmen sollte, und in der heutigen Bedeutung erst durch Bernheim in die Geschichtswissenschaft eingeführt worden. Vgl. Ludolf Kuchenbuch: Sind mediävistische Quellen mittelalterliche Texte? Zur Verzeitlichung fachlicher Selbstverständlichkeiten. In: Die Aktualität des Mittelalters. Hg. von Hans-Werner Goetz (Herausforderungen. Historisch-politische Analysen 10). Bochum 2000, 317–354, 326–330.
So Rüsen: Rekonstruktion der Vergangenheit (Anm. 2), 107.
Vgl. Horst Fuhrmann: Über das Mittelalterliche am Mittelalter (1977). In: Ders.: Einladung ins Mittelalter. 5. Aufl. München 1997, 15–38.
Zur Diskussion vgl. Georg G. Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang. 2. Aufl. Göttingen 1996, 87ff.
Vgl. Anm. 4.
Fried (Anm. 4), 305.
Vgl. Iggers (Anm. 12), 99–101.
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Goetz, HW. (2003). Die Historische Fragestellung in ihrer Bedeutung für die Theorie und Methode der Geschichtswissenschaft. In: Hering, R., Nicolaysen, R. (eds) Lebendige Sozialgeschichte. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-322-89787-9_8
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